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Vierzig Jahre DDR

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Oktober/November 1989

Gorbatschow reist zur Jubiläumsfeier nach Berlin (6./7. Oktober). Das Politbüro zeigt erstmals Dialogbereitschaft (11. Oktober).

In Leipzig demonstrieren hunderttausend Menschen (16. Oktober). Erich Honecker tritt zurück (18. Oktober).

Wie im bayerischen Hof ging es auch in anderen Städten der Bundesrepublik zu. Zehntausende von DDR-Flüchtlingen verabschiedeten sich in diesen Tagen von ihrem Staat.

Andere blieben und hofften auf bessere Zeiten. Ein Ostberliner Punker mit bunt gefärbtem Irokesenschnitt gab der Spiegel-TV-Reporterin Christiane Meier ein Interview. »Die DDR ist, wenn sie reformiert ist, ein schönes Land«, sagte er. »Ich bin für mich stolz, ein DDR-Bürger zu sein. Auf meine Weise, so wie ich lebe, so wie ich denke. Und ich hoffe, dass sich hier irgendwas ändern wird. Ich hoffe, bald. Ich glaube fest daran.«

Wenn irgendetwas in der DDR Konjunktur hatte, dann war es der Glaube an den Wandel. Die Kirche bot einen kleinen Freiraum für die Opposition. Ängstlich war man darauf bedacht, ihn nicht zu gefährden. »Wir brauchen im Moment Ruhe«, erklärte ein Bürgerrechtler. »Wir müssen zeigen, dass wir viele sind. Im Prinzip sind ja die Mitglieder der SED neben uns. Die wohnen neben uns im Haus, die arbeiten neben uns, die kriegen es ja mit. Im Moment ist Ruhe das oberste Gebot.«

Standhalten und warten auf bessere Zeiten? Oder flüchten? Der vierzigste Jahrestag der DDR rief vielen ins Bewusstsein, wie lange man schon auf Veränderung gewartet hatte.

Freitag, 6. Oktober 1989 Das DDR-Fernsehen zeigt die Ankunft eines Staatsgastes auf dem Flughafen Schönefeld. Partei- und Regierungschef Erich Honecker trägt zur Feier des Tages eine Nelke im Knopfloch. Gut gelaunt winkt er den Reportern zu und ruft übermütig: »Die Totgesagten leben lange.«

»Herr Honecker, wie fühlen Sie sich denn heute Morgen?«, fragt einer.

»Na ausgezeichnet.«

»Was werden Sie mit Herrn Gorbatschow besprechen?«

»Ach, das möchten Sie gerne wissen, ja?«

Eine Epoche ist zu Ende gegangen. Die DDR-Führung muss mit ihren Problemen selbst fertig werden. Auf den Großen Bruder zu warten lohnt nur noch bei Staatsempfängen.

Das DDR-Fernsehen überträgt den sozialistischen Bruderkuss der beiden Staatschefs: »Herzliche Begrüßung zweier Männer, die sich persönlich gut kennen, aus kontinuierlichen Begegnungen der letzten Jahre.«

Hier wurde noch einmal die heile Welt des Sozialismus vorgegaukelt und der Versuch unternommen, Gegensätze und Entwicklungen systematisch auszuklammern. Doch schon auf dem Flughafen war erkennbar, dass zwei getrennte Lager jubelten: die einen für Gorbatschow, die anderen für Honecker.

Unter den Klängen von Beethovens Opferlied »Die Flamme lodert« marschierte die Partei- und Staatsführung der DDR in einer langen Schlange zur letzten Kranzniederlegung am Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus.

Von Anfang an hatte sich die DDR immer als antifaschistisches und antimilitaristisches Projekt der deutschen Geschichte verstanden. Das Staatsjubiläum sollte die Krönung der politischen Biographie ihrer Führungsgruppe werden, die bei fast allen im kommunistischen Widerstand während der Nazi-Zeit begonnen hatte.

Die Volksarmee stand Spalier. Trommelwirbel, Soldaten präsentierten stramm das Gewehr. Honecker und seine Genossen standen an der Gruft mit den Kränzen. Die Greise aus dem Politbüro hatten bereits signalisiert, dass sie auf dem 12. Parteitag der SED im kommenden Jahr das Feld räumen wollten. Für Kontinuität schien gesorgt.

Ein Militärorchester spielte die Nationalhymne der DDR.

Auferstanden aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs, schien die DDR bei all ihren Mängeln für die politische Ewigkeit gedacht. Die Teilung der Welt in Ost und West war die Grundlage der gesamten Nachkriegspolitik, und die DDR hatte als Frontstaat und treuester Vasall der Sowjetunion ihren festen Platz darin.

Von der Stunde null an bestimmte der Große Bruder die Richtlinien der Politik. Die Souveränität der DDR war immer eine Fiktion. Jeder politische Schwenk in Moskau hatte Resonanzwellen in Ostberlin zur Folge. Ohne sowjetische Rückendeckung stand die Existenz der DDR immer auf dem Spiel. Russische Panzer und später die Mauer waren die einzige Garantie für den Fortbestand des kommunistischen Sozialismus in Deutschland. Und auch die Mauer war nicht allein auf ostdeutschem Boden gewachsen.

Als es im Osten taute, musste die DDR untergehen.

Michael Gorbatschow wollte nicht nur zum vierzigsten Jahrestag der DDR gratulieren. Er wollte den deutschen Genossen auch etwas mit auf den Weg geben. Vor der Neuen Wache gab er spontan ein Interview.

»Ich freue mich sehr, dass die Umgestaltung an Tempo gewinnt«, sagte der Reformer den Reportern, als er aus seiner Limousine geklettert war. »Und ich bin sicher, dass jedes Volk selbst bestimmen wird, was in seinem eigenen Land notwendig ist. Wir kennen unsere deutschen Freunde gut, ihre Fähigkeiten, das zu durchdenken und vom Leben zu lernen und die Politik vorherzubestimmen, auch entsprechende Korrekturen einzubringen, wenn das notwendig ist. Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.«

Vor dem Politbüro der SED variierte er später diesen Satz: »Wenn wir zurückbleiben, bestraft uns das Leben sofort.«

Daraus machte am Abend sein außenpolitischer Sprecher Gennadi Gerassimow bei einer informellen Pressekonferenz den berühmten Ausspruch »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.«

In einem Vieraugengespräch im Schloss Niederschönhausen prahlte Honecker mit den Erfolgen der DDR, lobte besonders das Wohnungsbauprogramm und die angebliche Spitzenposition auf dem Gebiet der Mikroelektronik. Gorbatschow, der genau wusste, dass die DDR in Wirklichkeit vor der Zahlungsunfähigkeit stand, fühlte sich für dumm verkauft. Später schrieb er: »Ich war entsetzt. Drei Stunden unterhielt ich mich mit ihm. Und er fuhr fort, mich von den mächtigen Errungenschaften der DDR überzeugen zu wollen.«

Zum Tag der Staatsfeier hatte die Parteiführung die normalerweise üblichen Restriktionen für Fernsehteams aus dem Westen gelockert. So konnte auch die Reporterin Christiane Meier von Spiegel-TV am Vorabend des Jubelfestes ungehindert drehen.

Uns war nur nicht ganz klar, wie wir das Material am nächsten Tag unkontrolliert in den Westen bringen konnten. Wir engagierten einen Privatflieger, der über Dänemark nach Schönefeld fliegen und die Bänder abholen sollte. Das fanden wir höchst konspirativ und trickreich. Zur Absprache mit der Redaktion in Hamburg ging Christiane jeweils in das Westberliner Büro des Spiegel, um von dort aus lauschsicher zu telefonieren. Später fielen uns die Abschriften unserer Gespräche in die Hände. Die Abhörabteilung II des Ministeriums für Staatssicherheit hatte sämtliche Telefonate, die über Richtfunkstrecken von Westberlin nach Hamburg gesendet worden waren, abgehört und abgetippt.

Am Abend marschierte die Parteijugend zur letzten Massenkundgebung der DDR auf. Aus allen Teilen der DDR waren die FDJ-Mitglieder in Bussen herangekarrt worden.

Ein Sprecher begrüßte den hohen Besuch aus Moskau. »Herzlich willkommen, liebe Gäste aus aller Welt. Unter euch die Repräsentanten der mit uns brüderlich verbundenen sozialistischen Länder. Den Genossen Michael Sergejewitsch Gorbatschow.«

Doch das Staatstheater hatte leichte Fehler. Selbst die Blauhemden der Freien Deutschen Jugend setzten offenbar mehr auf den Reformer aus Moskau als auf die heimischen Betonköpfe. »Gorbi, Gorbi«, intonierte die Menge. In den Sprechchören ging beinahe unter, wie der Sprecher auch »unser Staatsoberhaupt, Genossen Erich Honecker« begrüßte. Nur wenige jubelten noch protokollgemäß »Erich, Erich …«

Der Vorsitzende der Freien Deutschen Jugend, Eberhard Aurich, hielt seine letzte große Ansprache: »In Anwesenheit unserer lieben Gäste aus aller Welt erklären wir, als junge Staatsbürger der Deutschen Demokratischen Republik, gegenüber der Partei der Arbeiterklasse und unseren Freunden in der Nationalen Front: Dieses Land ist unser Land. Hier sind wir zu Hause. Hier haben wir noch viel vor. Hier verwirklichen wir unsere Pläne und schaffen unser Glück. Hier arbeiten und lernen, studieren und forschen, tanzen und lieben wir. Wir wollen hier leben in Freundschaft und helfen einander.«

Dann beleuchtete ein Fackelzug den Weg der DDR in den Untergang.

Ein paar Straßen weiter flackerten Kerzen für eine bessere Zukunft. Das Team von Spiegel TV filmte ein Dissidententreffen in der Erlöserkirche.

Vor einer dichtgedrängten Menschenmenge fragte der Moderator den SED-Abweichler Rolf Henrich: »Warum, Rolf Henrich, trotz Berufsverbot, trotz Karriereknick, brechen Sie nicht in den Westen auf, sondern bleiben hier?«

»Also, ich denke, wir haben hier eine Chance, und die Chance sollten wir nutzen. Im Moment spürt jeder von uns, dass in diesem Land sich etwas bewegt. Sowohl in Richtung Westen – das sind die, die uns verlassen. Aber die, die wir hier sind in diesen Kirchenmauern, und auch außerhalb dieser Kirchenmauern, wir bewegen uns im Moment. Und ich denke, da ist viel Hoffnung.« Viele in seinem Alter hätten ihm in den vergangenen Wochen gesagt, sie hätten ihr Leben in der DDR »versessen«. Jetzt wollten sie endlich etwas tun.

Samstag, 7. Oktober 1989 Am nächsten Morgen marschierten Soldaten vor dem Palast der Republik auf. Noch einmal zeigte der Sicherheitsapparat einen Ausschnitt seiner Stärke.

Die Nationale Volksarmee der DDR hatte 168000 Mann, die Volkspolizei 60000, die Staatssicherheit 91000, Betriebskampfgruppen 189000. Zusätzlich gab es die halbmilitärische Gesellschaft für Sport und Technik. Insgesamt hatte die DDR 1,2 Millionen Männer und Frauen unter Waffen, alle dazu da, das Regime mehr nach innen als nach außen abzusichern.

Pünktlich um 10.00 Uhr vormittags verabschiedete sich die DDR mit einer großen Militärparade in die Geschichte. Der anachronistische Zug mit Stechschritt, Panzern und Raketen galt offiziell als machtvolle Demonstration gegen den Militarismus. »Diese Parade der Nationalen Volksarmee«, kommentierte live das DDR-Fernsehen, »hat nicht das Geringste zu tun mit militärischer Kraftmeierei, sie ist keine Drohgebärde gegen die Nachbarn im europäischen Haus.«

Es war die Abschiedsvorstellung, auch für die pazifistischen Lebenslügen der hochgerüsteten DDR.

Am Rande zeigten sich leichte Auflösungserscheinungen des roten Preußen. Uniformierte Soldaten knutschten ungehemmt vor westlichen Fernsehkameras ihre Freundinnen. Selbst die martialischen Schlachtrufe der Marinetruppen klangen plötzlich vergleichsweise zivil und fast ironisch: »O-he-le-le … o-ma-lu-e … o-ma-lu-um.«

Neben dem organisierten Spektakel im Zentrum hatte sich klammheimlich eine eigene Geburtstagskundgebung gebildet. Punkt 17.00 Uhr traf sich wie zufällig eine kleine Menschentraube auf dem Alexanderplatz. Minuten später strömten von allen Seiten her langsam und zunächst unauffällig Hunderte von DDR-Bürgern zusammen.

Sie riefen: »Neues Forum, Neues Forum« und »Wir bleiben hier, wir bleiben hier …« Das klang wie eine Drohung. Und so war es auch gemeint.

Abmarsch der Parade in Richtung Palast der Republik. Eine real existierende Demonstration vor den Augen der sozialistischen Staatselite und ihrer Gäste aus den Bruderländern. Und während sich draußen vor »Erichs Lampenladen« immer mehr Demonstranten zum Protest versammelten, wurde drinnen vor einer Riesentorte eine Republik aus Sahne und Zuckerguss gefeiert.

Erich Honecker hob das Glas mit Krim-Sekt und rief mit heiserer Stimme: »Unsere Freunde in aller Welt seien versichert, dass der Sozialismus auf deutschem Boden, in der Heimat von Marx und Engels, auf unerschütterlichen Grundlagen steht. Auf die internationale Solidarität und Zusammenarbeit, auf den Frieden und das Glück aller Völker, auf den vierzigsten Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik!«

Es war ein letztes Prosit auf die sozialistische Gemütlichkeit. Wenige Monate später wurden die kommunistischen Führer fast aller Ostblockstaaten vom Wind der Wende hinweggefegt. Einige, wie Rumäniens Diktator Nicolae Ceauşescu, der noch mit Honecker angestoßen hatte, überlebten das Jahr 1989 nicht.

Draußen organisierte sich währenddessen die neue Zeit. Vor westlichen Fernsehkameras betonte die Menge, was sie wollte – und was nicht.

Die einen riefen »Neues Forum«. Die anderen buhten lauthals Geheimdienstler in Zivil aus, die Demonstranten verhafteten. Der Chor der Menge brüllte: »Gorbi, Gorbi … Demokratie, jetzt oder nie!«

Die Stasi-Leute drängten Kamerateams zur Seite und zeigten, was sie in vierzig Jahren DDR gelernt hatten. An diesem Festtag der DDR wurden Tausende von Menschen »zugeführt«, wie Festnahmen in der DDR-Behördensprache genannt wurden. Nur die westlichen Medien störten. Die Menge skandierte »Stasi raus!«, und die Geheimen legten ihre Hände auf die Objektive der Fernsehkameras.

Auch in anderen Städten der DDR wurde der vierzigste Jahrestag der DDR mit Massenkundgebungen gegen das System gefeiert: in Leipzig, Dresden, Jena, Plauen und Potsdam.

Nach einer kurzen Schrecksekunde schlug die Staatsmacht erbarmungslos zu. Im Schutz der Dunkelheit rückten Volkspolizisten mit schwerem Räumgerät an. Doch die Demonstranten reagierten flexibel. Ihren spontanen Schwenks und Richtungsänderungen konnte der Sicherheitsapparat kaum folgen. »Auf die Straße, auf die Straße …«, ermunterten sie die Zuschauer in den Fenstern der Wohnhäuser. Polizeiketten wurden umlaufen, und doch konnten die Beamten immer wieder erbarmungslos zuschlagen. Da half auch der Schlachtruf des Wendeherbstes »Keine Gewalt, keine Gewalt …« nicht.

Die Volkspolizei verkündete: »Ihre Ansammlung ist gesetzwidrig und blockiert den Verkehr.« Doch die Gesetzmäßigkeiten der DDR wurden längst nicht mehr widerspruchslos akzeptiert. Die Demonstranten pfiffen und buhten. Dann artikulierte sich der Geist der Revolte in einem ebenso simplen wie wirkungsvollen Slogan: »Wir sind das Volk, wir sind das Volk.« Die sozialistische Volksdemokratie wurde mit ihrem eigenen Anspruch konfrontiert.

Polizei und Stasi griffen rücksichtslos durch. Allein in Ostberlin wurden an diesem Abend 1047 DDR-Bürger festgenommen. Doch zum äußersten Mittel, dem Einsatz von Schusswaffen, wollte die DDR-Führung auch jetzt nicht greifen.

Am Abend zogen die Demonstranten ab. Das Feuerwerk zu Ehren des vierzigsten Jahrestages der DDR spielte sich in der Luft ab. Hoch über den Köpfen der Menschen.

Sonntag, 8. Oktober 1989 Am nächsten Tag war die DDR nicht mehr dieselbe.

Mühsam versuchte die Ordnungsmacht, das über vierzig Jahre eingeübte Koordinatensystem wiederherzustellen. Auch und vor allem gegenüber den westlichen Kamerateams.

»Sie haben diesen Bereich hier zu verlassen«, ordnete ein Volkspolizist an.

Fernsehreporter, die sich innerhalb weniger Tage fast schon benahmen wie im Westen, wurden handgreiflich in ihre Schranken gewiesen. Volkspolizisten drängten die Teams ab, hielten die Hand vor das Objektiv und begannen Raufereien mit den sich wehrenden Kameraleuten. Ein Journalist wurde abgeführt und später wieder freigelassen.

Stasi-Chef Erich Mielke beurteilte die Lage als »erheblich verschärft«. Zur Unterdrückung aller »Zusammenrottungen« befahl er die »volle Dienstbereitschaft« für alle Angehörigen des MfS und die Bereithaltung ausreichender Reservekräfte, »deren kurzfristiger Einsatz auch zu offensiven Maßnahmen« zu gewährleisten sei. Stasi-Mitarbeiter hatten bis auf Widerruf ihre Dienstwaffe ständig bei sich zu führen. Die Grenzübergänge nach Westberlin wurden gesperrt.

Doch die Wende war nicht mehr zu stoppen.

Am Sonntagabend sendete Spiegel TV die Bilder der vier Tage, die den Staat DDR in seinen Grundfesten erschüttert hatten. »Vierzig Jahre DDR, ein sozialistisches Trauerspiel«, eröffnete ich die Sendung. »Ein Jubelfest sollte es werden. Man wollte feiern, als seien nicht fast fünfzigtausend in wenigen Wochen abgehauen, als würde sich die DDR im abtauenden Ostblock nicht immer weiter isolieren. Die regierende jugendbewegte Greisenriege in der DDR-Staatsführung scheint die Signale ihres Volkes nicht zu hören. Dabei müsste sie nur die Ereignisse der vergangenen vier Tage studieren, um zu merken, was in ihrem Machtbereich geschieht.«

Montag, 9. Oktober 1989 Nachdem Bonn gegen die Schließung der Grenzübergänge protestiert hatte, wurden sie um 14.00 Uhr wieder geöffnet.

In Leipzig ließ die DDR-Führung achttausend Sicherheitskräfte zusammenziehen. Abends sollte dort wie auch in vielen anderen Städten die wöchentliche »Montagsdemonstration« stattfinden. Es drohte eine Eskalation der Gewalt. Der Dirigent Kurt Masur, der Kabarettist Lutz Lange und der Theologe Peter Zimmermann verfassten zusammen mit drei Sekretären der SED-Bezirksleitung den Aufruf »Keine Gewalt!«, der, von Masur verlesen, während der Kundgebung mehrmals über Lautsprecher verbreitet wurde. Der Zug von siebzigtausend Demonstranten verlief ohne Ausschreitungen.

Achttausend versammelten sich in vier Leipziger Kirchen, tausend davon waren verdeckte Mitglieder der Staatssicherheit.

Die Teilnehmer des Friedensgebetes in der Marienkirche in Halle wurden von Polizeieinheiten attackiert und verprügelt. Doch die große Zahl der Versammelten brach den Handlungswillen der Sicherheitskräfte.

11. Oktober 1989 Am Ende einer kontroversen zweitägigen Krisensitzung erklärte das Politbüro die Bereitschaft der Partei zu einem Dialog mit der Bevölkerung. Erstmals räumte die SED ein, dass die Ursachen für die Fluchtbewegung auch in der DDR selbst zu suchen seien. »Gemeinsam wollen wir über alle grundlegenden Fragen unserer Gesellschaft beraten, die heute und morgen zu lösen sind.« Egon Krenz hatte diese Erklärung gegen den erbitterten Widerstand Erich Honeckers im Politbüro durchgesetzt.

Die Dinge kommen in Bewegung. Gleichzeitig reißt der Strom der Flüchtlinge nicht ab.

Am 1. November können DDR-Bürger wieder ohne Visum ins Nachbarland ČSSR fahren. Bis 10.00 Uhr morgens sind schon wieder dreihundert Menschen in die bundesdeutsche Botschaft geflüchtet. Die DDR-Botschaft stellt Ausreisepapiere in den Westen aus.

Egon Krenz schildert bei einem Arbeitsbesuch in Moskau dem Generalsekretär der KPdSU die schwierige wirtschaftliche Lage der DDR. Gorbatschow macht ihm unmissverständlich klar, dass sich die Sowjetunion nicht in der Lage sieht, wirtschaftliche Hilfe zu leisten. Für ihn stehe aber »die deutsche Frage nicht auf der Tagesordnung«.

Als der Strom der politischen Flüchtlinge in die Botschaft der Bundesrepublik anhält, verlangt die Regierung der Tschechoslowakei von der DDR, die Flut der Asylsuchenden einzudämmen oder zu einer Abfertigungspraxis überzugehen, die es ermögliche, dass »jeden Tag so viele ehemalige DDR-Bürger aus der ČSSR in die BRD ausreisen können, wie täglich in der BRD-Botschaft neu hinzukommen«.

Am Abend des 3. November betont der neue Staats- und Parteichef Egon Krenz in einer Rundfunkansprache den Erneuerungswillen: »Ein Zurück gibt es nicht.« Er kündigt den Rücktritt von fünf Politbüromitgliedern an, darunter Stasi-Chef Mielke, und verspricht die baldige Veröffentlichung eines Reisegesetzentwurfes.

Einen Tag später, am 4. November, knapp drei Wochen nachdem Erich Honecker durch Egon Krenz ersetzt worden ist, rufen Intellektuelle und Schriftsteller der DDR zu einer Massenkundgebung auf. Es ist der Versuch, den Protest in geordnete – sozialistische – Bahnen zu lenken. Doch die Staatsautorität ist angeschlagen.

Das Kamerateam von Spiegel TV filmt einen Demonstranten, der einem Volkspolizisten Bonbons anbietet: »Warum denn nicht? Das ist ein Geschenk von mir. Ich hab das erarbeitet. Ich arbeite auch ganz normal. Willst du nicht doch noch einen nehmen? Oder einen Apfel? Der ist aus der DDR. Schade, ein bisschen verkrampft.« Ein anderer fügt hinzu: »Und morgen geht’s wieder mit dem Knüppel los.«

Fast eine Million DDR-Bürger demonstrieren auf dem Alexanderplatz für eine neue Republik. Auf Transparenten wird Egon Krenz als Wolf im Schafspelz karikiert: »Großmutter, warum hast du so große Zähne?«

Und schon zeigte sich, wer im gewendeten SED-Staat eine neue Rolle spielen wollte. Dabei half die schmucke Selbstkritik. Ein Rechtsanwalt, der in den Akten der Stasi als »IM Notar« geführt wurde, brachte sich in Position. Es war der erste Auftritt des Gregor Gysi vor einer großen Menge und den internationalen Medien.

»Wir haben einfach die Rechte und Interessen unserer Mandanten sehr ernst genommen. Vielleicht hätten wir noch mehr tun müssen. Aber dazu hätte fast ein Übermaß an Zivilcourage gehört.«

Und auch ein DDR-Dichter zeigte sich wendewillig. Der greise Stefan Heym verkündete von der Bühne: »Die Macht gehört nicht in die Hände eines Einzelnen oder ein paar weniger.« Beifall brandete auf, und er fuhr fort: »… oder eines Apparates, oder einer Partei.«

Dann war, fünf Tage später, plötzlich über Nacht die Mauer gefallen.

Deutschland, Deutschland

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