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Der letzte Sommer der DDR

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Rückblende

Hans-Dietrich Genscher verkündet am 30. September in Prag die Ausreiseerlaubnis für Botschaftsbesetzer. Einige tausend DDR-Flüchtlinge werden in Sonderzügen in die Bundesrepublik gebracht. Am 3. Oktober riegelt die DDR die Grenze zur Tschechoslowakei ab und setzt den pass- und visafreien Reiseverkehr aus.

(Diese Regelung wird am 1. November wieder aufgehoben.)

Ein junges Mädchen schlich hastig und hechelnd, mit geducktem Oberkörper durch ein mit hohem Schilf bewachsenes Gelände. Hinter ihr, mit laufender Videokamera, ihr Freund. »Rechts. Ganz langsam«, keuchte er. »Pass auf, wo du hingehst. Langsam, langsam, ganz langsam.« Und kurz darauf: »So … wir haben es geschafft. Siehst du? Wir sind in Österreich. Guck mal!« Die beiden fielen einander in die Arme. Die Kamera wackelte.

Wir sahen uns die Szene auf dem Schneidetisch an. Da hatten sich zwei aus der DDR abgesetzt und ihre eigene Flucht gefilmt.

Sie hatten es geschafft. Für sich selbst und für das Land, aus dem sie geflohen waren. Es wurden die letzten Sommerferien der DDR. Mehr als dreißigtausend Bürger der Deutschen Demokratischen Republik machten sich im Juli und August 1989 über die Nachbarstaaten auf und davon. Endgültige Ferien vom Sozialismus. Und bald auch für den Sozialismus.

Vor allem die Hauptstadt der Tschechoslowakei, des sozialistischen Bruderlandes der DDR, wurde zum sinnbildlichen Zwischenstopp ganzer Bevölkerungsteile auf dem Weg nach Westen. Ziel der sommerlichen Polit-Reisewelle: die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag. Die neue Freiheit begann hinter Gittern im Schlamm der diplomatischen Immunität. Innerhalb weniger Tage suchten hier über viertausend Flüchtlinge Asyl und damit einen Weg, endlich in den westlichen Teil der Welt ausreisen zu dürfen.

Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher reiste an, um die Genehmigung für den ersten legalen Massenexodus seit Bestehen der DDR zu verkünden. »Wir sind zu Ihnen gekommen …«, sprach er vom Balkon der Botschaft. »Ihre Ausreise …« Der Rest seiner Worte ging im Jubel der Massen im Botschaftsgarten unter.

In der Nacht zum 1. Oktober 1989 verließen die ersten sechshundert Besetzer die bundesdeutsche Botschaft Prag in Richtung Bahnhof.

Die Bahnstrecke verlief über Dresden. Gemäß einer Vereinbarung mit Erich Honecker sollte die Reise nach Westen durch das Territorium der DDR führen. Der DDR-Chef wollte noch einmal Souveränität beweisen. Ein schwerer politischer Fehler, wie sich herausstellen sollte.

Es ist gerade noch knapp sechs Wochen hin bis zum Fall der Mauer und genau ein Jahr und zwei Tage bis zur Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990. Niemand hier und niemand anderswo ahnt, welche historischen Folgen all diese Ereignisse haben werden.

Vertreter der Botschaft mahnen zur Eile. »Bitte gehen Sie weiter, steigen Sie in die Züge ein. Sie müssen doch alle mitkommen.« Ein Flüchtling erklärt dem Team von Spiegel TV, was er vorhat: »Wir nutzen die Chance, wir werden etwas tun. Das Beste, alles daraus machen.« Ein Tscheche wünscht: »Viel Glück, alles Gute!« – »Ist klar. Danke schön.« Ein Flüchtling bedankt sich artig: »Danke an die Botschaft, an das ganze Personal.«

Der Zug wird von außen verriegelt. Geschlossene Gesellschaft mit einem anderen Ziel, als es sich die SED vorgestellt hatte. So reisten in den folgenden Tagen rund siebzehntausend Menschen von Prag zum vorerst letzten Mal durch ihre alte Heimat in den Westen. Seit Ungarn im September den Stacheldrahtzaun zu Österreich durchgeschnitten hatte, war die Lebenslüge der DDR tot. Denn von dem Moment an konnte, wenn auch unter Schwierigkeiten, jeder DDR-Bürger sein Land verlassen. Die absolute Gewalt des Staates über seine Untertanen war unwiederbringlich verloren. Die Züge aus Prag sollten der DDR-Führung die Grenzen ihrer Macht demonstrieren.

In der Nacht fuhr der erste Westexpress durch die DDR. Die Flüchtlinge winkten jubelnd aus den Fenstern ihres verschlossenen Zuges.

Überall an der Bahnstrecke, in Dresden und anderswo, erwarteten DDR-Bürger die Züge aus Prag und hofften auf eine Mitfahrgelegenheit. Dresden wurde zur Festung. Volkspolizei und Armeeeinheiten versuchten, den Bahnhof abzuriegeln und Ausreisewillige abzudrängen. Doch Tausende von Jugendlichen probten den Aufstand.

Sie entfachten Feuer auf den Straßen. Die Polizei griff mit Wasserwerfern an. Amateurfilmer drehten, wie eine Frau von Volkspolizisten malträtiert wurde. Die aufgebrachte Menge stimmte die bis dahin nur im Stillen geäußerte Kampfparole gegen »Schwert und Schild der Partei« an und skandierte: »Stasi raus, Stasi raus …« Es war die erste Straßenschlacht in der DDR seit sechsunddreißig Jahren. Und der Staat traute sich nicht mehr, scharf zu schießen.

In der Morgendämmerung des 5. Oktober 1989 rollte nach elf Stunden Fahrt der erste von acht am Abend zuvor eingesetzten Sonderzügen im bayerischen Hof ein. Weitere zehntausend DDR-Bürger kehrten an diesem einzigen Tag ihrer sozialistischen Heimat den Rücken, manchmal Hals über Kopf, ohne Rücksicht auf Verluste.

»In Dresden haben sie abgeräumt auf dem Bahnhof«, sagte einer beim Verlassen des Zuges einem Reporter. »Nur Polizei. Das war Ausnahmezustand … Und meine Frau ist ja noch dort.«

Ein amerikanischer Reporter fragte die Angereisten: »Can I ask you how do you feel, now that you are here in the West?«

»We are feeling very good here. It’s a very good feeling«, antwortete ein junges Mädchen.

»Why?«

Das Mädchen blickte hilfesuchend in die Runde. »Was heißt denn Freiheit?«

»Freedom?«

»Yes!«

Im Herbst 1989 lag der Geruch der Freiheit in der Luft. Mit Glasnost und Perestroika hatte Michael Gorbatschow nicht nur in der Sowjetunion die Wende eingeleitet. Überall in der DDR begann das marode System zu bröckeln. Die Bürger spürten, dass der Staatsmacht die Macht entglitt.

Ein Spiegel-TV-Team hatte bei den Vorbereitungen zum vierzigsten Geburtstag der DDR gefilmt. Countdown zur großen Parade. Christiane Meier und Kameramann Dieter Herfurth drehten in Ostberlin, Thomas Schaefer und Rainer März in Polen, Gunther Latsch in Prag. Es wurde eine Reportage über DDR-Bürger zwischen Flucht, Resignation und Rebellion: »Deutschland – im Herbst 1989. Eine Staatsgrenze hat Geburtstag. Östlich des Zaunes leben 16,7 Millionen Bürger. Zurzeit werden es täglich weniger. Exodus zum Jubelfest.«

Am 4. Oktober begannen die Feierlichkeiten mit einem Fahnenappell der Volksarmee. Gefeiert wurde nicht nur das Jubiläum, sondern in diesem Fall speziell auch die Abkehr von Faschismus und Militarismus. »Fahnenkommando halt – Fahne sinkt«, brüllte der Offizier. Honecker salutierte. Dann wurde die Nationalhymne der DDR gespielt. Auferstanden aus Ruinen. Ständige Erinnerung an die Stunde null. Jeder Fortschritt in der DDR wurde gemessen an der Zeit bis 45.

Es war ein Weg, den von Anfang an nicht alle mitgehen wollten. Bevölkerungsrückgang seit 1946: drei Millionen.

Auf einem Festempfang hob Erich Honecker das Sektglas und rief mit brüchiger Stimme: »Auf unseren Nationalfeiertag, den vierzigsten Jahrestag der Deutschen Demokratischen Republik.« Die DDR – vierzig Jahre jung. Und dennoch greisenalt.

An einem Nachmittag, drei Tage vor der sozialistischen Feierinszenierung, fingen die Reporter eine Szene vor der amerikanischen Botschaft in Ostberlin ein. Achtzehn DDR-Bürger hatten sich in die US-Vertretung geflüchtet, weitere wurden abgewiesen. Ein Botschaftsangehöriger streckte seinen Kopf zur Tür heraus: »Entschuldigung, es tut mir leid, aber Sie müssen sich …« Der Rest der Worte ging im Tumult unter. Die Menge versuchte, das Gebäude zu stürmen, obwohl Volkspolizisten danebenstanden.

Torschlusspanik. Nichts wie weg, solange es noch ging. Der Respekt vor Regeln und Uniformen hatte rapide abgenommen. Und vor westlichen Fernsehkameras hielten sich die volkseigenen Beamten zurück.

Ein Volkspolizist mischte sich vorsichtig ein: »Nehmen Sie doch die Kinder hier raus.«

»Hau ab, du Vopo«, antwortete die angesprochene Frau.

Der Ordnungshüter besann sich auf seine Amtssprache: »Sie behindern die Tätigkeit der Botschaft. Deswegen sollen Sie hier weggehen.«

Dann wurde mit verhältnismäßig sanfter Gewalt der Zugang zum exterritorialen Gebiet des amerikanischen Klassenfeindes geräumt. Doch der kollektive Fluchtwille der DDR-Bürger hatte sich ausgebreitet wie die Herbstgrippe. Selbst die, die bleiben wollten, standen unter permanentem Verdacht. Kein Wunder, denn am Tag zuvor hatte es im Fernsehen geheißen: »Nach den Konsultationen mit der ČSSR wurde die Vereinbarung getroffen, zeitweilig den pass- und visafreien Verkehr zwischen DDR und ČSSR für die Bürger der DDR mit sofortiger Wirkung auszusetzen.«

Folge der Entscheidung: Gültige Flugtickets wurden über Nacht zu teurem Altpapier. Eine Bürgerin wandte sich wutentbrannt an die Westreporter. Auf dem Flughafen habe man ihr gesagt, sie solle wieder nach Hause gehen. Sie habe nicht das Recht zu fliegen. »Ich sagte: Warum nicht? Weil um siebzehn Uhr dieser Beschluss gekommen wäre. Wir wussten nichts davon. Da haben wir alle Rabatz gemacht. Dann wurde den Leuten gesagt: Solche Leute wie Sie brauchen wir sowieso nicht in der DDR. Da habe ich gesagt: Sehen Sie, deswegen war es vielleicht einen Versuch wert, über Prag rauszugehen …«

Ein anderer drängte sich vor die Kamera: »Weil die Massen sich das alles nicht mehr bieten lassen, alle nicht mehr. Das ist meine Begründung, warum ich nicht mehr arbeiten gehe ab heute.«

Eine frustrierte Ostberlinerin beklagte sich beim Kamerateam aus dem Westen. »Gestern wurde uns vorgeworfen, wir wollen nach Prag abhauen. Heute will man in die Bibliothek, da wird einem vorgeworfen, man will vielleicht drinbleiben. Nichts mehr, nichts mehr geht hier. Und das ist das Schlimme. Wenn man die Massenhysterie sieht, dann ist nämlich auch alles zu spät.«

In einer Nebenstraße öffnete sich eine Botschaftstür. Es war der Lieferanteneingang. Die Bürger stürzten darauf zu. Jeder Notausgang konnte zum Notausgang aus der DDR werden. Kopfschüttelnd sagte ein deutscher Mitarbeiter der US-Botschaft: »Ich weiß nicht, was das soll, nur DDR-Personal arbeitet hier. Wir sind ja selber nicht in der Botschaft. Also wenn sie hier drin sind, ist das kein exterritoriales Gebiet.«

Dennoch versuchte ein Pärchen, die Tür zu öffnen. Sie ruckten am Türgriff und brachen ihn ab. Das herbstliche Reisefieber kannte keine Grenzen.

Die bevorstehenden Feierlichkeiten zum DDR-Jubiläum wirkten wie ein Katalysator der Staatsverdrossenheit. In der Nacht wurden die Tribünen für die offiziellen Gäste aufgebaut, an denen der Aufmarsch der DDR-Truppen vorbeiziehen sollte. Doch mit Massenveranstaltungen in sozialistischer Tradition war das Volk nicht mehr in den Gleichschritt zu zwingen.

Selbst da, wo die Grenzen zum sozialistischen Bruder noch intakt waren, versuchten Flüchtlinge ihr Glück. Spiegel-TV-Reporter Thomas Schaefer fuhr an die Oder, zu einer Stelle, wo der Fluss nur eineinhalb Meter tief ist. In dieser Nacht hatten dort polnische Grenzer dreißig DDR-Bürger festgenommen.

Wer ohne Visum ertappt wurde, musste mit der Abschiebung in die DDR rechnen. Dort warteten erhebliche Gefängnisstrafen auf Republikflüchtige.

»Wir sind durch die Oder geschwommen«, sagte einer der gescheiterten Flüchtlinge dem Reporter, der die Erlaubnis erhalten hatte, sie im örtlichen Gefängnis zu interviewen. »Das ist illegaler Grenzübertritt hier. Auf jeden Fall anderthalb Jahre, auf jeden Fall, sperren die uns erst mal ein, das weiß ich genau.«

Er zitterte am ganzen Körper. »Ich will nicht zurück, ich persönlich, ich will nicht zurück, ich versuche, hier zu bitten und zu betteln. Es ist mir scheißegal, und wenn ich mich total erniedrige. Ich versuch hier zu betteln und zu betteln, dass sie mich nicht zurückschicken. Dass sie mich in die Botschaft reinlassen und dass ich raus kann. Wie viele haben ihr Leben riskiert und solche Aktionen gestartet wie wir heute, nur um ihre Eltern wiederzusehen. Ist doch so.«

Dem jungen Mann kamen die Tränen. »Die lassen keinen fahren. Haben die da Schiss vor? Die bauen den Sozialismus auf, sagen sie. Bloß, ich meine, die Arbeiterklasse hat doch gar nichts zu sagen!«

Auch in Polen hatte die DDR längst verloren. Die bevorstehende Jubelfeier brachte die Staatsmacht in Zugzwang. Ostdeutsche, die sich in die bundesdeutsche Botschaft in Warschau geflüchtet hatten, wurden nach Prager Vorbild durch die DDR hindurch in die Bundesrepublik abgeschoben. Sprachregelung, verkündet durch die Aktuelle Kamera: »Dabei ließ sich die Regierung der DDR vor allem durch die Lage der Kinder leiten, die von ihren Eltern in eine Notsituation gebracht worden sind und die für deren gewissenloses Handeln nicht verantwortlich gemacht werden können.«

Das Team von Spiegel TV war mit im Zug, als die ersten DDR-Flüchtlinge über das Land, aus dem sie geflohen waren, in die Bundesrepublik ausreisen durften. »Sehr schwer ist es, da noch mal durchzufahren, wirklich. Ich kann Ihnen das gar nicht beschreiben«, erklärte ein Abgeschobener dem Reporter. »Am liebsten würde ich woanders rüberfahren. Meinetwegen über Schweden ausfliegen, aber die DDR wollte ich nicht mehr befahren. Ich habe Angst, dass da noch mal was passiert.«

Kutno, letzter Stopp auf polnischem Gebiet. Das Kamerateam musste aussteigen. Während des kurzen Aufenthaltes rollte ein zweiter Zug auf dem Gegengleis ein. Junge polnische Fußballfans kehrten von einem Freundschaftsspiel in ihre Heimat zurück. Sie sangen die Nationalhymne ihres Landes. Die ausgewiesenen DDR-Bürger antworteten mit der Westhymne »Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland …«

Polen war das erste Land im Ostblock, das die Alleinherrschaft der Kommunisten abgestreift hatte. Seit Juni 1989 war die oppositionelle Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc an der Regierung beteiligt. So bröckelte es an allen Grenzen der DDR, als die regierende Altherrenriege ihre vierzigjährigen Erfolge feiern wollte.

Um 18.00 Uhr hatten sich an diesem Tag vor der Gethsemane-Kirche im Ostberliner Stadtteil Prenzlauer Berg Oppositionelle zu einer Mahnwache für inhaftierte Bürgerrechtler eingefunden. Politischer Freiraum, so weit das Licht der flackernden Kerzen strahlen konnte. »Wer heute die Hoffnung der Menschen im Polizeieinsatz ersticken will«, erklärte der Pfarrer den Westreportern, »der ist nicht mehr als Sozialist zu verstehen, sondern der ist ein Konterrevolutionär. Er betreibt eine reaktionäre Gewalttätigkeit.«

Derweil bereitete sich die Hauptstadt der DDR auf die Parade vor. Die Kulissen standen, angestrahlt von farbigen Scheinwerfern. Es fehlten nur noch die Statisten.

Deutschland, Deutschland

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