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Nach dem Fall
ОглавлениеNovember 1989
Die NVA ist in erhöhter Gefechtsbereitschaft. Der sowjetische Außenminister Schewardnadse lobt die Grenzöffnung als »weise Entscheidung«. Bundeskanzler Helmut Kohl wird vor dem Schöneberger Rathaus ausgepfiffen (10. November). Die DDR-Volkskammer wählt eine neue Regierung unter Ministerpräsident Hans Modrow (18. November).
Am Morgen nach dem Fall der Mauer hatten wir in der Hamburger Redaktion von Spiegel TV immer noch nichts von unserem Team in Ostberlin gehört. Telefonverbindungen waren nur nach stundenlanger Voranmeldung möglich. Funktelefone waren selten und in der DDR verboten.
Ich nahm den nächsten Flieger nach Berlin und stellte mich am Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße an. So plötzlich die Tore geöffnet worden waren, so plötzlich waren sie am Morgen wieder geschlossen. Alles sollte seinen ordnungsgemäßen sozialistischen Gang gehen. Endlose Schlangen stauten sich auf der östlichen und auf der westlichen Seite des Übergangs. Nach stundenlangem Warten erhielt ich endlich mein Tagesvisum für Ostberlin.
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wo ich unser Team treffen konnte. Doch kaum war ich auf der Ostseite angekommen, erspähte ich unseren Reporter, der ebenfalls in der Schlange stand. Unter dem Arm trug er ein Bündel Videokassetten, die Filmaufnahmen der vergangenen Nacht. Er wollte die Bänder in den Westen bringen, damit wir in Hamburg aus dem Material die Sendung des kommenden Sonntags schneiden konnten. Ich übernahm die Videos und reihte mich wieder in die Schlange ein, jetzt in Richtung Westen. Er durfte gleich wieder zu seinem Kamerateam zurückkehren.
Der Morgen danach. Freitag, 10. November 1989. Diplomatische Aktivität auf allen Kanälen. Damit hatte niemand gerechnet. Jetzt sollte der massenhafte Grenzübertritt von Ost nach West und West nach Ost wieder in geregelte Bahnen gelenkt werden. Die Grenzen waren wieder geschlossen worden. Durchgelassen wurde nur, wer seinen Pass mit einem Visumstempel versehen ließ. Das dauerte. Doch im Schlangestehen war der DDR-Bürger geübt. Ein Zurück zur geschlossenen Gesellschaft gab es nicht mehr. Die war Geschichte.
Es war eine Geschichte, die am 13. August 1961 begonnen hatte. Die DDR, gerade zwölf Jahre alt, hatte sich eingemauert. Eine stetig anwachsende Fluchtwelle in Richtung Westen drohte den »Arbeiter- und Bauernstaat« auszutrocknen. »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen«, hatte noch wenige Wochen zuvor Staats- und Parteichef Walter Ulbricht verkündet.
Der Westen sah hilflos zu, wie der Osten sein Territorium abriegelte. Der Kalte Krieg kannte ein paar Regeln. Eine davon war, niemals im Herrschaftsgebiet des anderen zu intervenieren. Alles andere hätte den Dritten Weltkrieg auslösen können. Die Menschen waren Zuschauer einer Teilung der Welt, die mitten durch Familien verlief. Zementiert für die Ewigkeit, so schien es. Doch achtundzwanzig Jahre danach war sie über Nacht eingestürzt.
Am Morgen des 10. November spielten sich vor den Dienststellen der Volkspolizei groteske Szenen ab, die inzwischen auch vom DDR-Fernsehen gefilmt wurden. Die große Freiheit ergriff in Windeseile sogar bis dahin linientreue Ostjournalisten.
Eine Reporterin stellte sich vor: »Wir kommen vom Fernsehen. Vom DDR-Fernsehen. Wir würden uns gern einmal mit einem von den Genossen unterhalten, weil es noch Unklarheiten gibt, wie die Regelungen nun richtig funktionieren. Können wir das mit Ihnen machen, oder sollen wir lieber reinkommen?«
Der Vopo schüttelte den Kopf: »Nein, das hat wenig Sinn. Ich bin nicht kompetent, Ihnen darüber Auskunft zu geben. Da müssen Sie sich an das Ministerium des Innern wenden.«
Ein Visumstempel in den Personalausweis hatte die Republik verändert, auch wenn er eigentlich sinnlos war. Wenn jeder Antragsteller das Visum bekam, war es im Grunde genommen überflüssig. Das fanden auch einige DDR-Bürger: »So ein Kokolores. Mit einem Stempel, der nicht kontrollierbar ist, kann ich fahren. Dann brauch ich doch den Stempel gar nicht. Ich kann auch ohne Stempel fahren. Warum sollen die Leute hier alle stehen?«
Doch die Zuckeltrabbürokratie wurde schon am Vormittag wieder von der Realität überholt. Wer sich zuvor keinen Visumstempel in seinen Personalausweis hatte drücken lassen, stellte sich einfach ohne Ausreisegenehmigung an. Die Grenzposten stempelten die Papiere dann kurzerhand selbst ab und ließen die Bürger passieren. Ausreise im Akkord.
Der Trabi wurde an diesem Tag Sinnbild der Vereinigung. In schier endlosen Kolonnen dampften die Zweitakter zur Sightseeing-Tour in den Westen.
Am Nachmittag kommentierten Politiker die Situation. Vor dem Schöneberger Rathaus in Westberlin trat Altbundeskanzler Willy Brandt vor eine riesige Menschenmenge. »Meine Überzeugung war es immer, dass die betonierte Teilung und dass die Teilung durch Stacheldraht und Todesstreifen gegen den Strom der Geschichte standen.« Als Regierender Bürgermeister von Berlin hatte Brandt dem Bau der Mauer 1961 tatenlos zusehen müssen. Jetzt versuchte er, die historische Entwicklung auf den Begriff zu bringen: »Berlin wird leben – und die Mauer wird fallen. Übrigens, liebe Freunde, ein Stück von jenem scheußlichen Bauwerk, ein Stück davon könnte man dann von mir aus sogar als ein geschichtliches Monstrum stehen lassen.«
Dann trat der amtierende Bundeskanzler Helmut Kohl ans Mikrophon. Ihm schallten Buhrufe entgegen. Auch einen Tag nach dem Fall der Mauer war die Berliner Linke lautstark. »Liebe Berlinerinnen und Berliner, liebe Landsleute in der DDR und der Bundesrepublik Deutschland«, begann Kohl seine Ansprache in der historischen Stunde seines Landes und seiner Regierung, »hier auf diesem Platz …« Das Pfeifkonzert ließ ihn kurzzeitig verstummen. Dann sagte er hörbar: »Nein, ich mache weiter« und fuhr fort: »Vor dem Schöneberger Rathaus sind seit über vierzig Jahren Berlinerinnen und Berliner zusammengekommen, um für die Freiheit dieser Stadt zu demonstrieren.« Kohl kämpfte sich wacker durch den Rest seiner Rede. Dann wurde die Nationalhymne angestimmt, doch sie ging ebenfalls im Lärm des Massenprotestes unter.
Auf dem Kurfürstendamm probierten unterdessen die Ostberliner ihre neue Freiheit aus. Nach langem Warten an der Grenze mussten sie nun wieder anstehen: für hundert Mark Begrüßungsgeld, das die Bundesrepublik Deutschland jedem DDR-Bürger – einmalig – spendierte.
Die Arbeiterklasse der DDR übernahm die führende Rolle im Einkaufsparadies am Kurfürstendamm.
So konnten die Landsleute aus dem Osten auch die ersten Erfahrungen mit dem bundesdeutschen Ladenschlussgesetz machen. Punkt 18.00 Uhr schlossen die Banken und Sparkassen, und es gab auch kein Begrüßungsgeld mehr.
Auch die Westberliner Polizei stellte sich vor. Mit Helmen, Schlagstöcken und Schilden wurden die Wechselstuben gesichert, als wären jetzt die Kreuzberger Chaoten über den Kurfürstendamm hergefallen.
Ein paar Ostler sangen russische Lieder, als wollten sie zeigen, dass der Einfluss der Sowjets nicht ganz vergebens gewesen war.
Die neue Spitze der DDR befand sich derweil kurzzeitig auf sicherem Boden. Man hatte zu einer Kundgebung von SED-Mitgliedern im Berliner Lustgarten aufgerufen. Mobilmachung der Parteibasis für das letzte Gefecht. Die Genossen sangen tapfer die Parteihymne: »Wir fürchten nicht, ja nicht den Donner der Kanonen … Auf, auf zum Kampf, zum Kampf, zum Kampf sind wir bereit. Dem Karl Liebknecht haben wir’s geschworen, der Rosa Luxemburg reichen wir die Hand.«
Lautes Singen im Keller vertreibt die Angst.
In der Menge erschien in dunkelblauem Regenmantel der Mann, der durch ein paar bedacht unbedachte Worte die Mauer vorzeitig geöffnet hatte: Günter Schabowski. Noch wurde ihm zugejubelt. Später galt er den SED-Genossen als Inbegriff des Verräters.
Ihm folgte der Mann, unter dessen Verantwortung die Mauer geöffnet wurde und der dafür, dass sie vorher geschlossen gewesen war, später von einem bundesdeutschen Gericht zu einer hohen Freiheitsstrafe verurteilt wurde: Egon Krenz.
Spiegel-TV-Reporter Georg Mascolo drängte sich durch die Menge an die SED-Führungsgarde heran und streckte Schabowski das Mikrophon entgegen. Der tat überrascht: »Wie erklären Sie sich dieses merkwürdige Interesse für einige?«
Der Reporter antwortete: »Ich gucke seit vier Wochen DDR-Fernsehen und merkte mir einige Gesichter, darunter Ihres.«
»Weil ich einen so großen runden Kopf habe, oder?« Schabowski deutete auf einen Parteigenossen neben ihm: »Hier steht ein interessanter Kollege.«
»Wer ist denn das?«
»Das ist Wolfgang Herger, Mitglied des Politbüros.«
Alle diese Funktionäre wären wenige Tage zuvor niemals spontan vor eine westliche Kamera getreten. Schabowski wandte sich dem Reporter zu: »Sie können sich doch vorstellen, dass die Sache nicht ohne Risiken hätte ablaufen können. Das war eine Demonstration, erlauben Sie mir, das etwas phrasenhaft auszudrücken, von Volkssouveränität. Rüber, und dann kommen wir wieder zurück und sind wieder hier. Ich habe eine Reihe von Fernsehinterviews gesehen, wo junge Menschen auf dem Kudamm gefragt wurden: Wollen Sie denn nun hierbleiben? Die haben gesagt: Nein, wir bleiben nicht hier. Wir gehen wieder zurück. Unser Platz ist da drüben. Es war vielleicht der kühnste Schritt, der in dieser kurzen Zeit zu machen war.« Es gebe keine Alternative zu dieser Politik, davon sei er fest überzeugt. »Und wir sind auch bereit, die Risiken einzugehen, die diese Politik mit sich bringt.«
Am Rande diskutierte Egon Krenz mit SED-Genossen und versuchte, ihnen die plötzliche Öffnung der Mauer zu erklären. »Man kann ja machen, was man will. Bestimmte Leute im Westen haben erst gesagt, ihr seid gegen das Reisen. Und jetzt auf einmal sagen sie, das war zu schnell.«
Ein besorgter Genosse erkundigte sich, worin denn der Unterschied zwischen 1961, dem Jahr des Mauerbaus, und heute bestehe.
»Der Unterschied ist groß«, antwortete Egon Krenz. »Wir sind trotz unserer Probleme, die wir haben, gewachsen. Und wir werden uns nicht ausverkaufen lassen.«
»Wie verhindert man das?«, erkundigte sich ein Genosse, und ein anderer warnte: »Vorsicht mit den Joint Ventures.« Einer erinnerte an die Zeit vor dem Mauerbau, in der einige im Westen arbeiteten und im Osten wohnten.
Krenz flüchtete sich ins Allgemeine. »Natürlich, unsere ganze Arbeit ist schwer, Genossen. Wenn wir uns vornehmen, dass wir politische Probleme nur mit politischer Arbeit lösen, dann steht uns noch viel, viel bevor. Es ist einfacher, etwas anzuordnen, in die Verfassung zu schreiben: Wir haben die führende Rolle. Aber diese führende Rolle gilt es zu verteidigen, Genossen, und zu erringen und neu zu erringen.«
Dann war die Batterie des Aufnahmegerätes leer, und der Rest des Gesprächs konnte vom Team nicht mehr aufgezeichnet werden.
Um 1.00 Uhr morgens begann unter dem Jubel der Berliner der Abriss der Mauer in der Bernauer Straße.
Währenddessen versuchten wiedervereinigungsberauschte Berliner die Grenze der Vernunft zu durchbrechen, indem sie selbst Hand und Hammer anlegten, um die Mauer Stück für Stück abzutragen. Die Unfreiheit starb meterweise. In der Bernauer Straße wurde ein neuer Grenzübergang eingerichtet. Im Gegenzug bauten Westbeamte eine Aussichtsplattform ab, von der aus man bisher die östliche Seite der Schandmauer hatte betrachten können.
Manchen Ostgrenzern war der Widerwille ins Gesicht geschrieben. Einer raunzte Westreporter an: »Ich bin nicht befugt, Ihnen Auskunft zu geben. Das wissen Sie genauso gut wie ich.«
»Auch in so einem Moment nicht?«, wollte der Reporter wissen.
»Nein, auch in so einem Moment nicht.«
Die Abbrucharbeiten an der Mauer zogen sich bis in den frühen Morgen hin, begleitet von einer Menschenmenge, die immer, wenn ein neues Stück Mauer fiel, rief: »Zugabe! Zugabe!«
Samstag, 11. November 1989 Schon bei Anbruch des Tages standen Leute auf der Mauer und neben dem Brandenburger Tor und lauerten darauf, mit DDR-Grenzern ins Gespräch zu kommen oder wenigstens in Streit zu geraten. Eigenmächtig zogen manche mit Drahtseilen an Mauerteilen, bis die Volksarmee mit Wasserwerfern anrollte, um die heißen Köpfe abzukühlen. An manchen Stellen griff die Westberliner Polizei ein und stoppte den Abriss auf ihrer Seite der Mauer.
Ein DDR-Grenzer erprobte das Gespräch mit dem Westen: »Sie können rüberkommen und uns besuchen.« Auf ein paar gehässige Bemerkungen aus westlicher Richtung antwortete er: »Ich verstehe nicht, dass du uns so beschimpfst. Du hast mich schon teilweise sehr beschimpft. Du hättest mit mir reden können. Das ist sehr traurig.«
An einigen Stellen wurde die in der Nacht demolierte Mauer wiederhergestellt. Sie sollte wenigstens heil auf dem Müllplatz der Geschichte landen.
Am Vormittag dieses Samstags verließ die Bevölkerung von Ostberlin beinahe geschlossen ihre geöffnete Stadt. Es waren Bilder zwischen Völkerwanderung und New-York-Marathon. Auch auf der Glienicker Brücke, wo früher Spione, die aus der Kälte kamen, ausgetauscht worden waren, riss der Menschenstrom nicht ab, der dort eine neue Grenzstelle passierte. Im Westen erwartete die Ostbürger Schokolade, die von Lastwagenladeflächen aus verteilt wurde. Die zarteste Versuchung, seit es Kapitalismus gab.
Und überall ertönte die gesamtdeutsche Hymne dieses Tages: »So ein Tag, so wunderschön wie heute …«
Eingemauerte Geschichte bewegte sich plötzlich im Eiltempo. Drei Tage hatten mehr verändert als vierzig Jahre Nachkriegspolitik.
Am Samstagabend wurde ein weiterer neuer Grenzübergang eingerichtet: am Potsdamer Platz, einst der verkehrsreichste Platz Europas.