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Bautzen – Das Gelbe Elend wird inspiziert

Dezember 1989

Inzwischen hatte die Wende in der DDR sogar die Gefängnisse erreicht. Spiegel-TV-Reporter Thomas Schaefer und sein Kameramann Dieter Herfurth durften drehen, wo bis dahin noch niemals ein westliches Team Zugang bekommen hatte: im Gefängnis Bautzen.

Festungsanlagen hatte es dort schon seit fast tausend Jahren gegeben, in der mittelalterlichen Kleinstadt im Südosten der DDR. Doch nicht die Burganlage an der Spree hatte die Stadt bekannt gemacht, sondern das Zuchthaus.

Am Donnerstag, dem 30. November 1989, präsentierte die DDR erstmals eines ihrer berüchtigten Zuchthäuser. Das »Gelbe Elend«, wie es im Volksmund genannt wurde, öffnete für drei Stunden seine Stahlgittertore. Es waren die Tore einer Anstalt, in der zu Beginn der SED-Ära Tausende politische Häftlinge geschlagen, gequält und hingerichtet worden waren. In wilhelminischen Zeiten konzipiert, sollten in der Anstalt ursprünglich dreizehnhundert Gefangene untergebracht werden. Jetzt, im Herbst 1989, war das Zuchthaus Bautzen mit achtzehnhundert Insassen zu einem Drittel überbelegt.

Der Anstaltsleiter führte das Team durch das Gefängnis. Er selbst hatte hier seine Arbeit vor dreißig Jahren als einfacher Schließer begonnen. Damals herrschten unmenschliche Zustände: Ungeheizte Räume, Wassersuppe, feuchtes Brot. Hinrichtungen am laufenden Band, zu denen die Verurteilten nackt anzutreten hatten. Genauso war man hier schon zwischen 1933 und 1945 mit Gefangenen umgegangen.

1989 war die Unterbringung der Gefangen noch immer unter der Grenze des Ertragbaren. Zu vierzehn waren sie in eine Zelle gepfercht worden. Nur drei Briefe durften sie monatlich schreiben. Der Reporter erkundigte sich bei einem Gefangenen nach dem Vollzugsziel.

»Brechen jeglichen Widerstandes«, erklärte der Häftling. »Ein Wort ist ja schon Widerstand. Hier wird schon eine gegenteilige Meinung als Widerstand gehandelt. Und dann geht es los mit Einkommensreduzierungen, Arrest und so weiter.«

»Gibt es Gewalt? Werden Gefangene geschlagen, gefesselt?« Der Häftling schüttelte den Kopf. Gefesselt werde hier keiner, aber er sei Augenzeuge gewesen, als Anfang Oktober Demonstranten eingeliefert wurden: »Menschen, junge Menschen, mit Händen hinterm Kopf. Im Laufschritt mussten sie sich durch die Anstalt bewegen. Mit einem Gummiknüppel hinterher. Die haben sie ganz schön Maß genommen.«

Der Reporter erkundigte sich, wie er denn das alles vor den Augen des Anstaltsleiters, der hinter dem Kamerateam stand, erzählen könne: »Haben Sie nicht Angst, oder hat sich die Zeit so verändert, dass man keine Angst mehr haben muss?«

»Ich kann das verantworten, was ich sage, weil ich das gesehen habe. Angst, klar, vor den Strafen, die bestanden. Aber es ist auch klargeworden, dass es nicht mehr so geht wie früher.«

Das Ziel der Umerziehung im DDR-Gefängnis lautete, »die Normen des Zusammenlebens« zu begreifen. Dazu zählten Disziplin, Fleiß und Gehorsam.

Das Team wurde in die Küche geführt. Der Koch saß wegen Republikflucht, § 213. Bisher hatte er vergeblich auf seine Entlassung gewartet. Wie viele Andere hatte er weitere Straftaten begangen, um das »Schleusen« zu finanzieren. Er hatte Scheckbetrug begangen, weil er 2500 Mark für die Finanzierung des Fluchthelfers brauchte. »Jetzt ist die Amnestie, und nun warte ich. Dass ich nicht gern hier drin bin, ist klar. Dass ich Schuld habe, dass ich hier drin bin, ist auch klar.« Er hatte schon einmal vier Jahre wegen Republikflucht gesessen.

Nur ein Drittel der Gefangenen befand sich in den Zellen, den sogenannten Verwahrräumen. Sie durften sich von der Nachtschicht ausruhen. Für alle Gefangenen galt Arbeitspflicht. Acht Stunden mussten sie täglich in einem der sieben Betriebe des Zuchthauses arbeiten. Es wurde vor allem für den Export produziert. Das verschaffte dem Staat Devisen.

Während das Team ein Hauskommando bei der Arbeit beobachtete, sprachen vier Gefangene vor den Augen des Gefängnisleiters die Reporter an: »Können wir Sie mal sprechen? Wäre das möglich?«

»Ja, sicher, also wir haben nichts dagegen.«

Ein Gefangener zog ein Papier heraus und erklärte, dass die Insassen Forderungen aufgestellt hätten. Er las sie laut vor: »An alle Strafgefangenen. Wir rufen zum Generalstreik auf. Ab Donnerstag, dem 30. 11. 1989, nimmt kein Strafgefangener mehr die Arbeit auf und bleibt auf dem Verwahrraum, bis folgende Forderungen erfüllt sind: Generalamnestie, Gespräch mit der Presse und dem Neuen Forum sowie mit Vertretern der Modrow-Regierung. Lasst euch nicht provozieren oder einschüchtern. Wendet bitte keine Gewalt an, denn dann ist alles umsonst. Sollte man unsere Forderungen nicht akzeptieren, dann treten wir in den Hungerstreik.«

Das Kamerateam hatte alles gefilmt. Thomas Schaefer fragte die Sprecher der Gefangenen, ob sie sich darüber bewusst seien, welche Konsequenzen ihr Aufruf haben könnte.

»Da bin ich mir drüber bewusst«, sagte der Gefangene. »Aber ich bin frohen Mutes. Draußen werden Demos gemacht, wo gegen die Leute nicht mehr so vorgegangen wird, wie das jahrelang der Fall war. Aber ich kann mich damit nicht einfach einverstanden erklären, dass ich jahrelang kriminalisiert werde, wo ich im Nachhinein sagen muss, dass ich von Seiten des Staates kriminalisiert wurde und nicht aufgrund meines Verhaltens.«

Das Flugblatt sei auch mit anderen Arbeitskommandos abgestimmt worden. Vom nächsten Tag an würden keine Arbeiten mehr aufgenommen werden, bis sich wirklich etwas geändert habe. »Keine Gewalt sollte angewendet werden, das ist unser Appell an die Strafgefangenen. Keine Gewalt, sonst haben wir nichts erreicht und werden nichts erreichen.«

»Danke schön«, sagte Thomas Schaefer.

»Wir bedanken uns auch. Auf Wiedersehen«, antworteten die Strafgefangenen.

Aus den vergitterten Anstaltsfenstern ertönten Sprechchöre: »Freiheit und Amnestie!« Der Reporter wandte sich an den Anstaltsleiter. Der zuckte mit den Schultern: »Ja, was soll ich dagegen sagen?«

»Aber das ist doch ein unglaublicher Vorgang«, meinte der Reporter aus dem Westen. »Hier rufen vier Gefangene zum Generalstreik auf, und Sie stehen nebenbei. Das wäre doch vor einem halben Jahr mit harten Konsequenzen verbunden worden. Oder läuft das jetzt noch so ab? Werden die vier jetzt in Einzelhaft genommen oder diszipliniert?«

»Es ist nicht das erste Mal, dass sich Strafgefangene in diese Richtung artikulieren«, meinte der Anstaltsleiter. Jetzt müsse man erst einmal mit den Gefangen reden und ihnen klarmachen, dass ein Generalstreik für Strafgefangene nichts bringe: »Wenn sich die Bäcker und Köche mit den streikenden Strafgefangenen solidarisieren, dann gibt es nichts zu essen. Wenn sich die Gefangenen, die hier in dem Fernheizwerk arbeiten, ebenfalls an dem Streik beteiligen, dann gibt es keine Wärme.« Es könne nicht so sein, dass sich eine Gefangenenorganisation bilde, die gegen die Ordnung im Strafvollzug auftrete, erklärte er mit einer hilflosen Geste.

»Fürchten Sie den Aufstand?«

Der Anstaltsleiter blieb ganz ruhig. Er werde mit den Strafgefangenen-Funktionären, Häftlingen »mit besonderen Aufgaben«, sprechen und ihnen deutlich machen, dass die Aktionen nutzlos seien.

Dort, wo früher ein beginnender Häftlingsaufstand brutal im Keim erstickt worden wäre, demonstrierte man jetzt Gelassenheit. Es waren dieselben Beamten, die noch vor wenigen Wochen gehorsam dem SED-Staat gedient hatten.

Am Abend legten alle achtzehnhundert Gefangenen des Zuchthauses Bautzen 1 die Arbeit nieder.

In der Krankenabteilung der Anstalt wollten sich die Ärzte nicht filmen lassen. Sie hatten Angst, in der Bundesrepublik als Zuchthausärzte bekannt zu werden. Mit dem Rücken zur Kamera gaben sie Auskunft über die Ereignisse der vergangenen Wochen.

Am 7. Oktober seien in Bautzen zweiundvierzig festgenommene Demonstranten den Ärzten vorgestellt worden. Fünfzehn von ihnen hätten Blessuren gehabt, drei davon an den Oberarmen. Vermutlich durch das lange Hochhalten oder Überkopfhalten der Arme. Drei hätten Blutergüsse, Schürfungen und Hautunterblutungen gehabt.

Der Gefängnisdirektor beharrte darauf, dass in seiner Anstalt Gefangene niemals misshandelt worden seien. Nicht vor der Wende und auch nicht danach. Dem Neuen allerdings wolle er sich aber nicht verschließen. »Es ist auch für mich notwendig, meine Gedankenwelt auf das Neue einzurichten«, sagte er. Ihm mache es keine Schwierigkeiten, seine »Gedanken zur demokratischen Umgestaltung zu verwenden«. So sei er schon lange dafür, die Strafgefangenen ordentlich zu kleiden: »Ihnen also einen Jeansanzug zu geben, wo sie sich wohlfühlen können, und eine einheitliche Mütze, wo man sagt, die setze ich auch auf.«

Fortschritt hinter Mauern. Der Jeansanzug als Symbol der gesellschaftlichen Umgestaltung.

In diesen ersten Dezembertagen des Jahres 1989 wurden siebenundvierzig politische Häftlinge, vorwiegend Republikflüchtlinge, aus Bautzen entlassen. Achtundsechzig weitere hatten – bis dahin vergeblich – einen Entlassungsantrag gestellt. Bei ihnen war zum Fluchtversuch meistens ein anderes Delikt hinzugekommen. So hatte sich das System seine Straftäter selbst geschaffen.

Deutschland, Deutschland

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