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Die Woche danach

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November 1989

Auf Leipziger Montagsdemonstrationen gibt es eine neue Parole: »Deutschland – einig Vaterland«. Bundeskanzler Kohl gibt sein Zehn-Punkte-Programm zur Entwicklung einer einheitlichen bundesstaatlichen Ordnung bekannt (28. November).

Ein deutsches Wintermärchen war wahr geworden. Doch die Realität nahte in Siebenmeilenstiefeln. Ein halbes Volk hatte seine Ersparnisse, nebst Begrüßungsgeld, an zwei grenz- und verkaufsoffenen Wochenenden auf den Kopf gehauen und der Bundesrepublik einen jähen Konjunkturaufschwung beschert.

Sofort nach Öffnung der Grenzen geriet die sieche DDR-Wirtschaft schutzlos unter den Druck des ökonomischen Muskelprotzes Bundesrepublik. Deren Regierung schraubte ihre Ansprüche auf Gegenleistungen für eine Wirtschaftshilfe immer höher. Offenbar hatte man vierzig Jahre lang von Einheit geredet, gesungen und gequatscht, und jetzt, da die Mauer de facto gefallen war, wusste man nicht mehr so richtig weiter, jedenfalls nicht, solange es etwas kostete.

Bei Spiegel TV hatten wir alle Reporter und Kamerateams mobilisiert, um Bilder aus Ostberlin einzufangen. Kameramann Rainer März filmte das Brandenburger Tor, umrahmt von dunklen Wolken. Nur die Westseite glänzte im Scheinwerferlicht der zahlreichen Filmteams aus aller Welt. Die Quadriga, vom Westen her hell erleuchtet. Die Pferde vor der Kutsche traben von West nach Ost gegen den Strom. Auch jetzt war es ein ziemlich symbolisches Tor: die Ostseite im Schatten, die Westseite im funkelnden Fernsehlicht. Man wartete darauf, dass es geöffnet würde, obwohl es bequem umgangen werden konnte. Allzu lange hatte man gefordert: Macht das Tor auf! Jetzt fehlte nur noch die letzte historische Geste, doch die DDR ließ sich Zeit damit.

Vor der Neuen Wache paradierten Soldaten der Volksarmee im Stechschritt. Das rote Preußen in der Woche nach der Revolution. Staatsbesuch aus Norwegen. Statt der Wende wurde das Gewehr präsentiert, man klammerte sich an die Form, wo der Inhalt längst perdu war.

Ein Sicherheitsbeamter schnauzte in sächsischem Dialekt das Fernsehteam an: »Das gibt’s nicht! Es gibt hier einen Handlungsspielraum. Dafür sind Sie nicht akkreditiert.« Dann stellte er sich den Reportern in den Weg. Eine Militärkapelle spielte. Nicht jedem schien klar zu sein, dass auch bei Staatsorchestern der Ton die Musik macht. In Ostberlin wechselte der jeweilige Kurs wie an der Börse. Manche waren bei der Wende in der vordersten Reihe, andere hinkten hinterher. Aus westlicher Richtung sahen manche hier schon den Gesamtdeutschen Bundestag sitzen, während man sich im Osten mit der weltpolitischen Tagesordnung nicht so leichttat. Die Grenztruppen der Volksarmee zeigten sich von ihrer besten Seite. Sie nahmen Spiegel-TV-Reporter Georg Mascolo und sein Kamerateam mit auf Patrouille im Todesstreifen neben dem Brandenburger Tor. Es war eine Weltpremiere, ein westliches Kamerateam in der Todeszone. Zivilisten waren hier bislang nicht sehr willkommen gewesen.

Einer der beiden Grenzsoldaten zeigte auf einen Spalt in der Mauer und erklärte seine Abscheu vor derart eigenmächtigen Abbruchhandlungen: »An diesem Abschnitt wurde versucht, von Westberliner Bürgern mit Hammer und Meißel die Grenzmauer zu zerstören.«

»Warum sind Sie nicht selbst rüber?«, fragte ihn der Reporter.

»Nein«, wehrte er ab. »Dafür gibt es ja auch Befehle. Das muss ja von irgendjemand geführt werden, die ganze Aktion, da muss ja schließlich der kühle Kopf bewahrt werden.«

Gemeinsam gingen die beiden Grenzsoldaten mit dem Fernsehteam an der Innenseite der Mauer entlang, dem bislang bestbewachten Landstrich der Welt.

»Haben Sie gedacht, dass Sie die Öffnung der Berliner Mauer noch miterleben werden?«

Der Grenzer antwortete: »Von vornherein möchte ich sagen: Nein.«

Sein Genosse pflichtete ihm bei: »Das hat wohl keiner von uns gedacht. Es ging ja alles relativ schnell. Wir waren alle sehr überrascht darüber.«

»Wiedervereinigung ist für uns kein Thema«, sagte der andere Grenzsoldat. »Das ist meine Meinung. Dafür gibt es zu krasse Unterschiede zwischen Sozialismus und Kapitalismus.«

»Ist das früher ein unbeliebter Job gewesen, Mitglied der Grenztruppen zu sein?«, erkundigte sich Mascolo.

»Die Leute, die in den Grundwehrdienst gezogen worden sind, sind hierhergekommen, und andere haben das aus Überzeugung gemacht. Aber ein strenger Dienst war das eigentlich nicht, kann man eigentlich nicht sagen, das ist wie jeder andere bei der Volksarmee.« Der Kamerad nickte zustimmend.

Der Reporter hakte nach: »Es gab ja Zeiten, in denen Sie damit hätten rechnen müssen, auf flüchtende DDR-Bürger zu schießen.«

»Nein«, sagte der eine Grenzsoldat und sein Kollege ergänzte: »Das möchte ich mal widerlegen. Es ist eindeutig festgehalten. Es gibt einen Paragraphen, der unseren Schießbefehl eindeutig erklärt. Der Grundinhalt ist: Da wird nur geschossen, wenn das eigene Leben bedroht ist. Also wenn jetzt einer kommt, ein Grenzverletzer, und bedroht mich mit dem Messer. Was würden Sie denn da machen? Würden Sie sich abstechen lassen, oder? Das ist eindeutig festgelegt.«

Grenzfälle der Erinnerung. Ein Schießbefehl in der historischen Rückschau.

Seit dem 13. August 1961 waren an der deutsch-deutschen Grenze 188 Menschen durch Schusswaffengebrauch oder Minenexplosionen zu Tode gekommen. Allein an der Mauer zwischen Ost- und Westberlin starben siebenundsiebzig Menschen. 1702-mal war geschossen worden, mit abnehmender Tendenz. Zwölfmal 1986, achtmal 1987.

Unterdessen hatten die Soldaten mit dem Kamerateam das Brandenburger Tor erreicht. Dort fegten Kameraden in Uniform den Boden zwischen den Säulen. Das Symbol der Teilung sollte besenrein an die Zukunft übergeben werden, als Symbol der Öffnung. Die DDR war dabei, sich einen Haupteingang – oder Hauptausgang – zu schaffen, ein Tor zur Welt.

Die beiden Grenzsoldaten stiegen mit Hilfe einer kleinen Leiter auf die Krone der Mauer. Vom Westen aus schauten viele Besucher zu. Es war ein kleiner Schritt für den Menschen in Uniform, aber ein großer Sprung in der Geschichte. Die Reise zum Mond hatte nicht so lange gedauert wie das Dahinsiechen der DDR. Kein Wunder, dass die versammelte Weltpresse auf den historischen Moment lauerte, da die Öffnung der Grenze hier besiegelt würde.

Im Westen brachen englisch- und deutschsprachige Touristen Teile der Mauer als Andenken heraus. Die DDR musste sich beeilen, sonst gab es nicht mehr viel abzubrechen.

Während am Abend in Ostberlin die Volkskammer tagte und sich in immer neuen Wendemanövern selbst überholte, waren andernorts die DDR-Bürger schon wieder auf die Straße gegangen. In die Menge mischte sich Egon Krenz, umringt von Sicherheitsbeamten in Zivil, und rang um eine Erklärung der Massenaufläufe in seinem roten Reich: »Weshalb nun jeder Einzelne dort auf die Straße geht, müssen Sie in Leipzig fragen, aber ich würde sagen, gehen Sie nicht davon aus, dass das eine Opposition gegen die DDR ist. Keine Losung von ihnen wurde gegen die DDR getragen.«

Ein Reporter half nach: »Das ist eine Opposition gegen Sie.«

Krenz tat überrascht: »Gegen mich? Das weiß ich nicht, das glaube ich nicht. Fragen Sie doch die Leute.«

Während sich die einen auf den Weg machten, die Zukunft zu bewältigen, versuchten es andere mit der Vergangenheit.

Besuch bei Markus Wolf, dem geheimnisvollen, langjährigen Chef der DDR-Auslandsspionage. Der Spiegel-TV-Reporter Georg Mascolo eröffnete das Gespräch mit der Feststellung: »Bei Demonstrationen sind Sie verschiedentlich ausgepfiffen worden.«

»Ja nun«, erwiderte »Mischa« Wolf, »damit muss man ja rechnen, erstens als Mitglied der Partei, deren Führung die große Verantwortung tatsächlich zu tragen hat, dafür, dass es so weit kommen musste. Als Mitarbeiter eines Ministeriums für Staatssicherheit, da reicht schon das Aussprechen des Namens, um ausgepfiffen zu werden. Ich meine schon, dass das nicht in erster Linie meiner Person galt. Obwohl, wenn man an verantwortlicher Stelle gestanden hat, muss man das auch in Kauf nehmen und muss es auch zu tragen wissen.«

Reporter Mascolo erkundigte sich, ob Stasi-Mitarbeiter inzwischen, wie die Opposition es gefordert hatte, in der Produktion beschäftigt seien: »Kennen Sie denn schon ehemalige Kollegen, die heute in der Landwirtschaft oder als Busfahrer unterwegs sind?«

»Ich persönlich kenne sie nicht, aber ich weiß, dass eine ganze Reihe so und auch in der Braunkohle und auf anderen Gebieten schon tätig sind, besonders auch Mediziner, die in medizinischen Einrichtungen arbeiten.« Das bisher exklusiv Stasi-Mitarbeitern und ihren Familien vorbehaltene MfS-Krankenhaus werde in Zukunft auch für andere Patienten zur Verfügung stehen.

Ein zweites Kamerateam von Spiegel TV war derweil in Randbezirken der DDR-Hauptstadt unterwegs. In Berlin-Röntgental wurden in einem Lager des Staatssicherheitsdienstes Rückkehrer aus dem Westen durchleuchtet: medizinisch und politisch. Draußen stand: »Zutritt verboten«. Doch plötzlich öffneten sich auch hier die Tore für Fernsehleute aus dem Westen.

Ein junger Mann, der von einem Ausflug in die Bundesrepublik zurückgekehrt war, sagte: »Man ist mit bestimmten Erwartungen und bestimmten Zielen rübergemacht, und die haben sich dann teilweise nicht erfüllt.«

»Welche zum Beispiel?«

»Ich würde sagen, man hat ein bisschen Rosinen im Kopf gehabt, da man hat vielleicht gedacht, man ist erst zehn Minuten drüben und kann sich gleich ein Auto kaufen oder solche Scherze.«

An diesem Tag warteten fünfundsechzig Bundesrepublik-Flüchtlinge auf ihre Abfertigung. Nach der Öffnung der Mauer trafen jeden Tag etwa dreißig Aussiedler im Lager ein. Zwischen zwei und fünf Tage dauerte die Wiedereinbürgerung. Manche waren nur wenige Wochen im Westen gewesen und kehrten nun mit bangem Unbehagen zurück.

»Ich erwarte, dass man jetzt nicht von den anderen Leuten ignoriert wird, dass man normal aufgenommen wird, dass alles klargeht und man keinen Repressalien ausgesetzt ist, dass man nicht ausgestoßen wird aus der Bevölkerung. Dass man nicht zu hören bekommt: Der war im Westen und ist da nicht klargekommen, und jetzt will er wieder zurück.«

Vor dem Leben in der neuen alten Heimat stand der Fragebogen: Fluchtgrund, Vorstrafen, Kontakt zu BRD-Dienststellen, mit wem ausgereist, mit wem wieder eingereist und warum. Die Staatsbürokratie hatte ihre Bürger wieder.

Es ertönte eine Lautsprecherdurchsage: »Die Aufnahme-Ersuchenden Rainer mit der Registriernummer 83, Kai mit der Registriernummer 84 und Thomas mit der Registriernummer 78, bitte umgehend in der sechsten Etage zum Gespräch melden.«

Niemand sollte sich bei der Wiedereinbürgerung vordrängeln können. Ordnung musste sein, auch für kurzzeitige Bürger der Bundesrepublik, die sich erneut in der DDR ansiedeln wollten.

Das Kamerateam beobachtete eine Gruppe Männer, die um einen Tisch herum saßen. »Wir sind noch Bundesbürger«, sagte einer. »Wir wollen DDR-Bürger werden.«

Der Reporter fragte: »Ist es schwierig, wieder DDR-Bürger zu werden?«

»Na ja, kommt darauf an. Das wissen wir ja nicht. Wir müssen warten, warten, warten.« Dann fügte er erleichtert hinzu: »Auf jeden Fall haben wir die politische Wende hier.«

»Deshalb sind Sie zurückgekommen?«

»Ja, weil wir uns sagen: gesicherte Verhältnisse.«

»Was fanden Sie denn am schlimmsten drüben im Westen?«

»Na, da möchte ich keinen Kommentar abgeben.«

»Warum nicht?«

»Wir sind Deutsche und bleiben Deutsche.«

Nun saßen die Ostdeutschen aus dem Westen erst einmal fest, in einem Lager. So hatten sich manche die freiwillige Rückkehr nun auch wieder nicht vorgestellt.

Eine Mitarbeiterin der Dienststelle sprach mit einem jungen Heimkehrer, der klagte, dass er sich eingesperrt fühle. Das Kamerateam drehte mit: »Ihr müsst euch das doch irgendwie überlegt haben, als ihr hergekommen seid. Ich kann doch nun nicht, wie es Ihnen gerade gefällt, hier immer hin und her hopsen. Dafür ist das doch eine Dienststelle.«

»Ich habe es mir nicht so vorgestellt, dass ich hier festgenommen werde«, entgegnete der junge Mann.

»Wer hat Sie denn festgenommen? Wir haben Sie doch ganz normal hier aufgenommen. Es geht keiner an Ihre persönliche Freiheit jetzt ran«, sagte die DDR-Vertreterin ganz im neuen Jargon der Wendezeit.

Ein anderer Umsiedler wusste es besser: »Man darf sich hier aber auch nicht frei bewegen. Man darf nicht raus. Das ist doch nicht in Ordnung.«

»Da wird sich sicherlich auch noch eine Möglichkeit finden. Die Situationen sind für uns ja auch neu.«

Der junge Mann stand auf und verließ das Lager.

Niemand stellte sich ihm in den Weg.

Fast zur gleichen Zeit ereilte die kollektive Chefredaktion des Neuen Deutschland ein kollektives Missgeschick. Sie wurde abgesetzt. Aus dem Neuen Deutschland sollte jetzt ein »ganz Neues Deutschland« werden – wie, war allerdings noch nicht klar. Der Oberkommentator des Blattes durfte bleiben und deutete gegenüber einem Spiegel-TV-Team die Richtung an.

»Okay, wie ausgewiesen, im Untertitel sind wir das Organ des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, das heißt, wir sind eine kommunistische Zeitung, wir werden es auch bleiben. Wir standen unter den Zwängen einer Informations- und Medienpolitik, die uns mehr oder minder stark aufgezwungen wurde. Im Ergebnis dieser Medienpolitik war es eben nicht möglich, die Lebensnähe so herüberzubringen, wie wir es uns selbst gewünscht hätten.«

Eigentlich waren schon immer alle, jedenfalls fast alle gegen diesen Umgang mit den Medien gewesen. Das machte den Kurswechsel leichter. Es war immer das Kollektiv, das schieflag, wohl auch bei jenem denkwürdigen Artikel vom Oktober 1989, in dem behauptet wurde, ein DDR-Bürger sei betäubt und in die Bundesrepublik verschleppt worden.

Der Reporter aus dem Westen fragte: »Haben Sie persönlich geglaubt, dass von bundesdeutschen Sicherheitsbehörden hier ein DDR-Bürger gekidnappt worden ist?«

»Ich will mal sagen, in Einzelfällen war so etwas absolut nicht auszuschließen, aber in einer Zeit, wo Tausende oder Zehntausende Bürger dieses Landes unsere Republik verlassen haben, aus welchen Gründen auch immer, war das zumindest nicht das Typische. Es wurde damit doch der Eindruck erweckt, als seien diese Zehntausende, die damals über Ungarn das Land verlassen haben, mehr oder minder alle gekidnappt worden. Somit, muss ich aus heutiger Sicht sagen, war das eine psychologische Fehlleistung allerersten Ranges, die mit diesem Artikel erreicht worden ist.«

Deutschland, Deutschland

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