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I.

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Bevor davon ausführlicher die Rede sein kann, muß jedoch zunächst die allzu pauschale und vereinfachende Rede von der »Krise des Adels« etwas zurechtgerückt werden. Hält man sich, dem gegebenen Rahmen entsprechend, an Preußen, so fällt vor allem ins Auge, wie ungleichmäßig die Entwicklung dort verlief, mit unterschiedlicher Geschwindigkeit im ökonomischen, rechtlichen, sozialen und politischen Feld. Ökonomisch war schon die ältere Gutsherrschaft in Preußen lange vor den Stein-Hardenbergschen Reformen kommerzialisiert10, gehörten die ostelbischen Güter doch zu jenem »Ring von Agrarlieferanten mit minderem sozioökonomischen Entwicklungsniveau […], der sich um die neuen Metropolen, zuerst um England, mit ihren industriellen Ballungszentren herumlegte.«11 Auf den schon 1717 ausgesprochenen Verzicht des königlichen Lehnsherren auf sein Obereigentum, der die Allodifikation der Lehensgüter einleitete, folgten 1807 und 1811 die Reformedikte, die die noch bestehenden ständischen Restriktionen des Bodenmarktes beseitigten und Güter wie Bauernhöfe zu frei handelbaren Waren machten. Fortan durften Bürger und Bauern adlige Güter erwerben, Adlige ihrerseits Güter mit bürgerlichen oder bäuerlichen Gerechtsamen.12 In den folgenden Jahrzehnten konnte der überwiegende Teil der Voll- und Kleinbauern seine guts- und grundherrlichen Verpflichtungen ablösen oder regulieren und auf diese Weise eine allmähliche Verschiebung der Besitzverhältnisse einleiten. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs befanden sich zwei Drittel der landwirtschaftlichen Nutzfläche Ostelbiens im Besitz von Bauern, nur mehr ein Drittel gehörte Gutsherren.13 Und diese wiederum waren immer weniger mit jener traditionalen Aristokratie identisch, die von den Adelsideologen verklärt wurde. Stellte der Adel noch um 1800 neun Zehntel aller Rittergutsbesitzer, so waren es 1885 nur noch knapp die Hälfte, auch wenn es bei den großen Gütern über 1 000 ha noch mehr als zwei Drittel sein mochten.14 Mit rapidem Tempo verwandelte sich »die Ritterschaft in den Jahrzehnten vor 1848 erfolgreich vom herrschenden Stand zur herrschenden Klasse«.15

Von Max Weber her weiß man jedoch, daß es sich bei Vorgängen dieser Art nicht, wie im Kommunistischen Manifest avisiert, um ein Entweder-Oder handelt, daß, anders gesagt, Vergesellschaftung Vergemeinschaftung nicht ausschließt, jene Art von sozialer Beziehung, bei der die Einstellung des Handelns »auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruht.«16 Vergemeinschaftend in diesem Sinne wirkte insbesondere die für Preußen seit Friedrich Wilhelm I. charakteristische Einbeziehung des Adels in die oberen Ränge des von ihm geschaffenen Militärsystems, das sich zwar im Kern einer zweckrational motivierten Interessenverbindung verdankte (und ipso facto Vergesellschaftung war), zugleich aber das damit einhergehende Ethos des »Dienstes« mit einem ständischen Charisma der Ehre verband.17 Auf der gleichen Linie lag die Zuweisung neuer, wie immer auch ›funktionsständischer‹ Muster durch einen Staat, der auf diese Weise die Verwaltungskosten zu senken bestrebt war.18 So sprach die 1823 eingeführte Provinzialständeordnung die seit 1807 gleichberechtigten adligen und bürgerlichen Rittergutsbesitzer als ersten Stand an und begründete damit eine »neuständische, grundbesitzbasierte Reprivilegierungspolitik«.19 Zugleich band sie die Wahlfähigkeit an einen seit zehn Jahren bestehenden, ununterbrochenen Grundbesitz und begünstigte damit den alten Adel, der einen von Jahr zu Jahr wachsenden Anteil an der Provinzialverwaltung stellte; die Landräte eingerechnet, besetzte er Mitte der 40er Jahre fast die Hälfte der Stellen.20 Die 1828 abgeschlossene Kreisreform, die den Rittergutsbesitzern auf den Kreistagen eine mindestens vierfache, maximal zehnfache Überlegenheit über die Vertreter der beiden anderen Stände bescherte, wurde 1846 von Carl Wilhelm von Lancizolle (1796–1871), einem Mitglied des Gerlach-Kreises, als »das interessanteste und bedeutungsvollste Glied in der ständischen Verfassung unseres Vaterlandes« gefeiert.21 Derselbe Staat, der mit seiner wirtschaftlichen Gesetzgebung die (alt)ständischen Gewalten auflöste, befestigte sie auf sozialer und politischer Ebene neu, indem er sie von den am Grundbesitz haftenden Pflichten befreite, sie durch Steuerexemtionen und Vergünstigungen bei der Kreditvergabe förderte und ihre Herrschaftsrechte auf kirchlichem, jurisdiktionellem und polizeilichem Gebiet bekräftigte.22 Der Ritterstand, so das Resümee Kosellecks, war damit

»gesamtstaatlich eine Klasse, die jedermann zugänglich blieb, führende Schicht der Gesellschaft und ihres wirtschaftlichen Betätigungsfeldes. Auf der Kreis- und Provinzialebene wurde diese Klasse mit politischen Standesrechten neu privilegiert, kraft derer sie nicht zuletzt ihre ökonomischen Interessen zu wahren wußte. Auf der Kommunalebene schließlich behielten die Ritter eine lange und erkleckliche Reihe überkommener Herrschaftsrechte. Hier bildeten sie weiterhin – nicht in allen Provinzen – einen Stand im Wortsinn, freilich ohne die Pflichten der Fürsorge oder Armenhilfe tragen zu müssen, die seinen Rechten früher zugeordnet waren.«23

Dieser eigentümliche Prozeß, der gleichzeitig die Klassenbildung und die ständische Vergemeinschaftung vorantrieb, eben damit aber auch die Bildung einer composite elite nach englischem Vorbild erschwerte24, erfuhr weder durch die Revolution von 1848 noch durch die alsbald einsetzende Gegenrevolution eine grundsätzliche Änderung. Die Revolution fand ihren Niederschlag in der Verfassung vom 5. 12. 1848, die, auch wenn sie oktroyiert war und anschließend mehrfach geändert wurde, doch die Verwandlung Preußens in einen Verfassungsstaat ermöglichte und in wirtschaftlicher wie sozialer Hinsicht den Weg für die Industrielle Revolution freimachte. Die Gegenrevolution erzwang nicht nur die Wiederherstellung der gutsherrlichen Polizeigewalt in den ostelbischen Landgemeinden, sondern auch eine Reihe von Teilrevisionen der Verfassung im ständischen Sinne wie die durch Verwaltungserlaß im Mai 1851 verfügte Reaktivierung der alten Kreistage und Provinzialstände oder die Umwandlung der 1848 gebildeten Ersten Kammer aus einer reinen Besitzkörperschaft in das ab 1855 so genannte Herrenhaus, das seiner überwiegenden Mehrheit nach eine Adelskörperschaft war.25 In der Regierung, der Verwaltung und nicht zuletzt im Militär machte der Adel alle Einbußen wett, die er im Gefolge der Reformzeit erlitten hatte. Zehn Jahre nach der Revolution gehörten rund vier Fünftel der Oberpräsidenten und Landräte dem Adel an, in den oberen Rängen der Ministerial- und Provinzialverwaltung immer noch ein Viertel bis ein Drittel, im Offizierskorps gar zwei Drittel.26 Die so gewonnenen Positionen konnte er während des Kaiserreichs wiederum ökonomisch nutzen, indem er sich als »Broker« zwischen der Lokalgesellschaft und dem Gesamtstaat etablierte und eine Politik gezielter Regionalförderung initiierte, die insbesondere über den Straßen- und Eisenbahnbau »alljährlich Millionenbeträge aus den Steuereinnahmen der Boomzonen« in den Osten transferierte.27 »Der Stand der Rittergutsbesitzer«, so das Resümee Patrick Wagners, »behauptete hier nicht einfach tradierte Privilegien, sondern erhielt völlig neuartige Machtressourcen ohne jede Tradition.«28

Der Ausdruck »Gegenrevolution« erscheint insofern berechtigt, als man es keineswegs nur mit den »kleinen Staatsstreiche[n]« zu tun hat, von denen Huber spricht.29 Schon wenige Wochen nach den Märzereignissen von 1848 formierte sich ein ausgedehntes Netzwerk von konservativen Vereinen, dessen Organisation außerhalb Berlins maßgeblich von Landräten und hohen Beamten getragen wurde. Neben den Patriotischen Vereinen, den Preußenvereinen und dem Verein für König und Vaterland gehörte dazu auch der »Verein zum Schutz des Eigentums und der Förderung des Wohlstandes aller Volksklassen«, dessen Zielsetzung in dem ursprünglich geplanten Titel »Verein zur Wahrung der Interessen des Grundbesitzes und zur Aufrechterhaltung des Wohlstandes aller Klassen des Volkes« deutlicher zum Ausdruck kommt.30 Hier lagen die Keimzellen, aus denen nach dem Verfassungsoctroi vom Dezember 1848 die Bildung einer konservativen Partei erfolgte, die über einen direkten Zugang zum König, Schlüsselstellungen in der Verwaltung und nicht zuletzt mit der schon im Sommer 1848 gegründeten Neuen Preußischen Zeitung, der sogenannten Kreuzzeitung, auch über ein eigenes Medium verfügte.31

Gerlachs vielzitiertes Wort von der ›kleinen, aber mächtigen Partei‹ sollte man freilich gleich aus zwei Gründen nicht zum Nennwert nehmen. Zum einen, weil diese Partei so klein nicht war, zählte sie doch in ihren rund 300 Vereinen etwa 60 000 Mitglieder, deren Repräsentanten zumindest in den 50er Jahren das preußische Abgeordnetenhaus beherrschten32; sodann, weil es weder um ihre Macht noch um ihre Kohärenz gut bestellt war. Die Macht mußte sie mit einem unberechenbaren König teilen, der sich zu keinem Zeitpunkt bereit fand, verfassungsstaatliche Gepflogenheiten zu akzeptieren.33 Die Kohärenz war schon aus rein organisatorischen Gründen prekär, bestanden doch zwischen den örtlichen Honoratiorenklubs und den Parteizentralen kaum Kontakte, um von einer Kontrolle der ersteren durch die letzteren zu schweigen.34 Hinzu kamen politisch-ideologische Gründe. Desintegrierend wirkte etwa die Haltung zur deutschen Frage, hing doch der lange Zeit tonangebende Kreis um Ernst Ludwig von Gerlach und die ›Kreuzzeitung‹ dem Ideal »einer gemeinsam ausgeübten, gleichberechtigten Führung Deutschlands durch Österreich und Preußen« an (»bei gleichzeitiger politischer Mediatisierung der kleineren und mittleren deutschen Länder«)35, während sich um das oben erwähnte Preußische Wochenblatt eine Gruppe bildete, die für den kleindeutschen Nationalstaatsgedanken eintrat und in Österreich nicht nur eine antipreußische, sondern schlechterdings antinationale Macht sah.36 Mit Beginn der »Neuen Ära« wurde die Wochenblattpartei sogar für einige Jahre zur Regierungspartei, konnte diese Stellung aber nicht halten, da infolge zunehmender Spannungen auf den Feldern der Wehr- und der Sozialpolitik die Konservativen ihre Mehrheit in der zweiten Kammer einbüßten. Hatte die Regierung sich noch 1855 auf 205 von 352 Sitzen stützen können, so kehrte sich das Verhältnis 1858 zugunsten der Liberalen um: diese erzielten 150 Mandate, während es die Mehrheitskonservativen nur noch auf 47 brachten.37

Es bedurfte indessen nicht erst dieser Rückschläge, um bei weiter blickenden Repräsentanten des konservativen Lagers das Bewußtsein zu schärfen, daß man 1848/49 nur erst eine Schlacht gewonnen hatte, jedoch noch lange nicht den Krieg. Zu ihnen gehörte an vorderster Stelle mit Friedrich Julius Stahl ein Autor, der entscheidende Prägungen durch den süddeutschen Konstitutionalismus erfahren hatte, bevor er an die Berliner Universität berufen wurde. Man hat von ihm und Ernst Ludwig von Gerlach als den »Dioscuren des preußischen Conservatismus« gesprochen38, und dies insofern zu Recht, als es sich zeitweilig um eine enge Waffenbrüderschaft handelte. Zwillinge im konservativen Geist waren beide jedoch nicht, im Gegenteil.39 Stahl sah 1848 in den Interventionen Gerlachs in der ›Kreuzzeitung‹ den »ächten Constitutionalismus entweder nicht beachtet oder nicht gehörig bezeichnet«.40 Von Gerlach wiederum ist überliefert, daß in seinen Augen Stahl »dem constitutionalismus vulgaris« verfallen war, den er nur durch christliche-sittliche Gefühle »conservativ zu temperiren« versucht habe. »Seine Wissenschaft war schwach und seine Füße hatten keinen Felsengrund unter sich; seine Gegner und seine tiefer sehenden Freunde sahen dies auch und hielten seine conservative Stellung für etwas relativ Zufälliges; er hätte allenfalls 1850 radowitzisch und 1851 bethmannisch sein können. Vielleicht (ich weiß es nicht) wäre er heute bismarckisch oder doch hengstenbergisch.«41 Auch Heinrich Leo, mit den Gerlachs während der 48er Revolution eng verbunden, bekannte privatim, er habe Stahls »Art von Konservatismus […] nie von Herzen teilen können«. Rückblickend bemerkte er 1867: »Nur bei Aristoteles ist richtiger Konservatismus; und Stahl, den alle Welt für einen Konservativen preist, war richtig in platonischer Atmosphäre ertrunken. Für eine Zeit, wo der Weltgeist noch auf abstrakteren Pferden ritt als Plato, mag Stahl das Ansehen eines konservativen Stallmeisters zugestanden werden – das war aber damals und die Toten reiten schnell.«42 Für die Gründung einer Partei waren das keine guten Auspizien.

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