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Einleitung

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Von Paulus aus Tarsus bis Steve Jobs

„Seele des Menschen,

Wie gleichst du dem Wasser!

Schicksal des Menschen,

Wie gleichst du dem Wind!“

Diesen Ausruf formulierte Goethe als „Summation“1, als zusammenfassenden Höhepunkt, am Ende seines 1779 entstandenen Gedichtes „Gesang der Geister über den Wassern“2.

Sein Gedanke klingt reichlich melancholisch, fast verzweifelt. Dabei kann es Goethe seinerzeit gar nicht so schlecht gegangen sein: Er befand sich auf einer Reise durch die Schweiz und betrachtete im Lauterbrunnental, im Berner Oberland, einen Bach, der heute noch von einer hohen Felswand herabstürzt und sich nach einiger Zeit in der Luft zu einem feinen Dunst zerstäubt. Ein herrlicher Anblick.

Der Dichter nahm das Naturschauspiel erneut zum Anlass, um über das Schicksal des Menschen nachzudenken und sich mit den eigenen Schicksalsmomenten auseinanderzusetzen; denn im selben Jahr notierte er in seinem Tagebuch, dass er sich – obwohl erst dreißig Jahre alt – wie ein Schiffbrüchiger sehe: „Stiller Rückblick auf das Leben, auf die Verworrenheit, Betriebsamkeit, Wißbegierde der Jugend […] Wie ich alles Wissenschaftliche nur halb angegriffen und bald wieder habe fahren lassen, wie eine Art von demütiger Selbstgefälligkeit durch alles geht, was ich damals schrieb […] wie nun kein Weg zurückgelegt, sondern ich nur dastehe wie einer, der sich aus dem Wasser rettet.“3

Goethe erscheint hier nicht als einer, der schon frühzeitig versucht, auf einen Denkmalsockel zu steigen, um sich dann verherrlichen zu lassen, sondern vielmehr als Mensch, der sich gnadenlos mit sich selbst auseinandersetzt, und zwar vor dem Hintergrund höherer Instanzen: der „Geister“, der Naturgesetze und der Wissenschaften. So empfing schon der junge Goethe Augenblicke der Inspiration, die zu Schicksalsmomenten wurden, die letztlich die ganze Welt verändern konnten.

„Ein Wetterleuchten, dann ein Blitz, der im jungen Goethe niedergeht, und die Gewichte der Welt haben sich vom Objektiven ins Subjektive verschoben: Von nun an wünscht man dem Helden um seinetwillen ein Durchkommen“4, schreibt Thomas Steinfeld über Goethes noch früheres Gedicht „Willkomm und Abschied“ aus dem Jahre 1770.

Immer wieder geschah es, dass in Menschen ein solcher „Blitz“ niederging und ein persönlicher Schicksalsmoment sich ereignete, der in größerem oder kleinerem Maßstab, soweit man es bisher schon überblicken kann, die Welt veränderte. Manchmal, wie bei Luther, soll es ein ganz realer Blitz gewesen sein, bei anderen wurde es eher als inneres „Wetterleuchten“ empfunden – fast immer in Einsamkeit und gegen die Tendenzen der großen „Welt“.

Freilich muss man sich die „Geistesmenschen“ früherer Zeiten, noch bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein, als „Ideenträger“ vorstellen, wie sie sich in den Tragödien Friedrich Schillers oder auf Thomas Manns „Zauberberg“ (Roman, 1924) versammelten, um ihre jeweiligen Ideologien, Religionen oder andere Denkrichtungen zu verkörpern. Dort waren die Personen, genauso wie die realen Menschen, noch einigermaßen in den Rahmen eines geschlossenen Weltbildes eingebunden. Dieses existiert heute wohl nicht mehr. Weltbilder, ob gemeinsam oder nicht, spielen kaum mehr eine Rolle.5 Nach den „gescheiterten Utopien“6 bzw. Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts sind große, übergreifende Denksysteme zumindest in der westlichen Welt in Misskredit geraten.

Die Schicksalsmomente großer Persönlichkeiten früherer Zeiten hatten eine transzendentale Dimension. Sie empfingen ihre Inspiration aus dem „Reich der Ideen“, um es mit Platon7 zu formulieren. Aus einzelnen Inspirationen wurden Schicksalsmomente insofern, als dass sich die Denker bzw. Künstler damit existenziell befassen; das heißt, sie waren auf der Suche danach, wie sie die gewonnene Idee mit ihrem Leben und ihren sonstigen geistigen Entwürfen vereinbaren könnten und schufen neue gedankliche Möglichkeiten. Dabei war das zwischenzeitliche Scheitern, so wie Goethe es bei sich sah, durchaus nicht ausgeschlossen. Aber sie wagten große neue Schritte, welche manchmal geeignet waren, die „Gewichte der Welt“ zu verschieben.

Die Schicksalsmomente im Leben von Menschen aus jüngerer Zeitgeschichte resultierten ebenfalls aus einer Suche, doch sie blieb unerfüllt, wenn die Anbindung an eine Religion oder vertiefte Weltanschauung fehlte. Die Suche selbst wurde zur Lebensform. Die große Inspiration, empfangen aus der geistigen Auseinandersetzung mit der Welt der Ideen, ist dann nicht mehr vorhanden oder basiert auf Hilfskonstruktionen; denn über „Visionen“ oder „Philosophie“ wird durchaus viel gesprochen, mehr als jemals zuvor: Jede Firma entwickelt eine „Firmenphilosophie“, jeder neue Chef präsentiert in seinem Betrieb oder in seiner Abteilung eine „Vision“, wobei man die eigentliche „Letztbegründung“8 vermisst. Der Gesamtrahmen ist nicht mehr da, er wird hilfsweise durch begrenzte „Projekte“ ersetzt.

Im geistigen Bereich sind die empirischen Naturwissenschaften, trotz aller Einschränkungen, zunehmend anerkannt und im Vordergrund. Sie haben sich aber, so gewinnt man den Eindruck, gerade durch die Entwicklung neuer Technologien, auf das Speichern von unzähligen Daten aus Erhebungen, Dokumentationen und Begutachtungen aller Art verlegt. Gliederungen und ethische Strukturen scheinen in der Sammelwut unterzugehen, eine unübersichtliche „Multi-Welt“9 tut sich auf, die Sprache wird undeutlich, Interpretationen, inhaltliche Auseinandersetzungen, Inspirationen oder gar Schicksalsmomente scheinen kaum noch denkbar. Wie in einer – echten – Vision hat schon Goethe jenen Projekten ein paar Verse gewidmet:

Verlaßt mich hier, getreue Weggenossen!

Laßt mich allein am Fels, in Moor und Moos;

Nur immer zu! euch ist die Welt erschlossen,

Die Erde weit, der Himmel hehr und groß;

Betrachtet, forscht, die Einzelheiten sammelt,

Naturgeheimnis werde nachgestammelt.10

Schicksalsmomente

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