Читать книгу Schicksalsmomente - Stefan Fröhling - Страница 9

Paulus, der Pharisäer

Оглавление

Ohne jeden Zweifel aber haben wir in Paulus einen überzeugten Pharisäer vor uns. Mag sein, dass bereits die elterliche Erziehung ein auslösendes Moment für seine religiöse Radikalisierung gewesen ist; wohl aber hat er einen entsprechenden Entschluss aufgrund seiner religiösen Studien gefasst. Möglicherweise war der Ende des ersten Drittels oder im zweiten Drittel des ersten Jahrhunderts in Jerusalem wirkende jüdische Gelehrte Gamaliel d. Ä., der hohes Ansehen genoss, sein Lehrer. Der Pharisäer Gamaliel wird allerdings von „Lukas“ als ein toleranter Mann beschrieben (Apg 5,34 – 39). Paulus trat als Pharisäer entschieden für die religiösen Überlieferungen seines Volkes und die klare Umsetzung der daraus resultierenden Gesetze ein, und das vielleicht auch, weil er von einer zeitnahen jüdisch-messianischen Endzeit- und Gerichtserwartung ausging, die hernach eventuell mit seiner christlichen Naherwartung korrespondierte.25

Aus diesen Gründen hat er die Kirche Christi („Ekklesia“) verfolgen und vernichten wollen, wie er im Brief an die Galater freimütig bekennt: „Ihr habt doch gehört, wie ich früher als gesetzestreuer Jude gelebt habe, und wisst, wie maßlos ich die Kirche Gottes verfolgte und zu vernichten suchte. In der Treue zum jüdischen Gesetz übertraf ich die meisten Altersgenossen in meinem Volk, und mit dem größten Eifer setzte ich mich für die Überlieferungen meiner Väter ein“ (Gal 1,13 – 14).

Der Begriff „Ekklesia“, der mit den Worten „Herausgerufene“ resp. „Versammlung“ zu übersetzen ist, bezeichnet im ersten Jahrhundert noch keine institutionalisierte Kirche, sondern pauschal die Gemeinschaft der Christusgläubigen und speziell die frühen Hauskirchen, also die Häuser einzelner Gemeindemitglieder, in denen sich die Gläubigen versammelten. Der Begriff „Kirche“ wiederum ist mit dem griechischen Wort „Kyrios“ („Herr“) verwandt und bezieht sich auf Jesus Christus, den Herrn.

Der Beginn des Zeitraums, in dem sich Paulus als „Pharisäer“ gegen die Christen gewandt hat (Phil 3,5 – 6), dürfte vor dem Auftreten und der Steinigung des Stephanus um 33 anzusetzen sein. Mit seinem Bekehrungserlebnis, das sich um oder nach 33 ereignet hat, konnte sich Paulus dann von den Pharisäern lösen. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass Paulus von Jesus vor dessen Kreuzigung gehört hat oder ihm gar begegnet ist.

Ab dem zweiten Jahrhundert vor Christus treten im Judentum diverse fromme Gruppierungen in Erscheinung, die eine strenge, gesetzestreue Religiosität vertreten. Zu ihnen zählen die Pharisäer (die „Abgesonderten“). Diese fanden sich in Gemeinschaften zusammen, die vorbildhaft auf die Umsetzung der Gebote und der kultischen Reinheit achteten. Sie waren bei der jüdischen Bevölkerung sehr angesehen und nicht ohne politischen Einfluss. „Zu den pharisäischen Gemeinschaften gehörten einzelne Priester, vor allem aber Laien, Handwerker, Bauern und Kaufleute, die nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land, in Judäa und Galiläa, lebten.“26 Im Gegensatz zu dieser Volksbewegung rekrutierten die Sadduzäer – die ihren Namen auf Zadoq zurückführten, einen Hohenpriester aus der Zeit König Salomos – ihre Anhänger aus den priesterlichen und aristokratischen Kreisen Jerusalems. Ihnen lag sehr viel an der Erhaltung ihrer Macht und ihrer Ämter. „Die Sadduzäer behaupten […], es gebe weder eine Auferstehung noch Engel noch Geister [Dämonen], die Pharisäer dagegen bekennen sich zu all dem“, weiß die Apostelgeschichte zu berichten (23,8). Im Unterschied zu den Pharisäern glaubten die Sadduzäer also nicht an die Auferstehung der Toten am Ende der Zeiten.

In beiden Gruppierungen befanden sich auch Schriftgelehrte, die jedoch einen eigenen Stand bildeten. In diesen wurden nur Männer aufgenommen, die eine umfassende Kenntnis der jüdischen Schriften besaßen. „Die Ausbildung eines Standes von Schriftgelehrten muss in der Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Hellenismus erfolgt sein.“27 Klosterähnlicher waren die Essener (die „Frommen“) organisiert. Ihre Gemeinschaften waren stark von der Askese und festen Tagesabläufen geprägt. Die Zeloten (die „Eiferer“) waren eine Gruppierung, die sich im ersten Jahrzehnt unserer Zeitrechnung von den Pharisäern abspaltete und den bewaffneten Kampf gegen die römische Besatzungsmacht aufnahm. Das führte im Jahr 66 zum Ausbruch des ersten Jüdischen Krieges, den die Römer im Jahr 70 mit der Zerstörung Jerusalems siegreich beendeten. Die Sadduzäer und Essener gingen in diesem Krieg unter.

Der Monotheismus und die differenzierte Ethik des Judentums waren bei den gebildeten Menschen der hellenistischen Welt sehr beliebt. Denn die alten griechischen und römischen Göttervorstellungen oder die Mysterienkulte und Orakel konnten ihnen offensichtlich keinen religiösen Halt vermitteln und die Sinnfragen nicht hinreichend genug beantworten. Zudem distanzierten sich die Philosophen (Stoa und Epikureer) von den überkommenen Götterbildern.

Die Geschichte der frühen Jesus-Bewegung und der ersten schriftlichen Quellen über sie ist mit diesem gesamten Umfeld mehr oder weniger eng verflochten, zumal die Pharisäer nach dem Jüdischen Krieg mehr Geltung erlangten und schon im Jahr 70 den endgültigen Bruch mit den Christen für das Judentum vollzogen haben.28 Auch die Entstehung der Kirche und ihr späterer Stellenwert sind ohne das Römische Weltreich und dessen Untergang im fünften Jahrhundert nicht zu denken. Gerade die Gegnerschaft der Pharisäer, die mit der Kritik Jesu an ihrer peniblen Gesetzesauslegung und -befolgung beginnt, hat der Urgemeinde in Jerusalem und Palästina schwer zugesetzt.

Es verwundert deshalb nicht, dass die Apostelgeschichte in der ersten Texthälfte unter anderem auf den Pharisäer Paulus fixiert ist. „Lukas“ wirft ihm vor, dass er in Jerusalem an der Ermordung des hellenistischen Judenchristen Stephanus, der als erster christlicher Märtyrer gilt, mitgewirkt hat (Apg 7,54 - 8,1a und 22,20). Allerdings ist eine Beteiligung des Paulus’ an jener Aktion, historisch betrachtet, unwahrscheinlich, denn „Lukas“ hat diese Bemerkungen wohl nachträglich eingefügt resp. diesen Textabschnitt geschickt komponiert, um die nachfolgende Paulus-Bekehrung, die in der Apostelgeschichte gleich drei Mal geschildert wird (in den Kapiteln 9, 22 und 26), umso deutlicher herauszustellen. Je dunkler ein solch schändlicher Hintergrund gemalt wird, desto heller leuchtet das Licht der Bekehrung.29

Zudem ist anzumerken, dass die „lukanische“ Darstellung „in typischer Weise auf Jerusalem zentriert ist“. Es liegt jedoch nahe, „die antichristlichen Aktivitäten des Paulus in Damaskus anzusiedeln“, wofür die Textbefunde im Brief an die Galater (1,17 u. 1,22) sowie in der Apostelgeschichte (9,2) Hinweise liefern.30 Der Name „Stephanus“ taucht in den authentischen Paulusbriefen nicht auf.

Die jüdischen Hellenisten Jerusalems, die aus der Diaspora gekommen waren, hielten ihre Gottesdienste unter Verwendung der Septuaginta in griechischer Sprache, während die in Palästina beheimateten Juden, wie erwähnt, die ihnen vertraute aramäische Sprache pflegten. Ein Zirkel jener Hellenisten mit ihrem Wortführer Stephanus war nun zu den Anhängern des Jesus von Nazaret übergetreten, die von den Juden im Sinne einer Sekte „Nazarener“ genannt wurden.31 Die bereits bestehenden Spannungen zwischen den Juden und den Hellenisten eskalierten bezüglich der Gruppe um Stephanus dermaßen, dass dieser schließlich verhaftet und gesteinigt wurde. Seine Gemeinschaft, die ein eigenes, sieben Personen umfassendes Leitungsgremium hatte, wird vorher – und ähnlich wie Jesus – „Anstoß an den Missständen des Tempelkultes und kleinlichen Praktiken der Gesetzesauslegungen“32 genommen haben und musste nach dem Tod des Stephanus aus Jerusalem fliehen.

Von ihnen ging danach die erste Missionierung in den, nach christlicher Ansicht, heidnischen Gebieten aus, die der Apostel Paulus in weitaus größerem Umfang fortsetzte. So begründeten sie etwa die aus Juden- und Heidenchristen bestehende Gemeinde in Antiochia (Syrien). Und dort „nannte man die Jünger zum ersten Mal Christen“ (Apg 11,26). Bischof Ignatios von Antiochia (gest. 117 n. Chr.) verwendete außerdem in einem Brief erstmalig den Ausdruck „katholische“ Kirche, was „allgemein“ oder „auf das Ganze bezogen“ bedeutet.33

Die „Hebräer“, also die aramäisch sprechenden Judenchristen, mit den von Jesus erwählten Zwölf Aposteln an der Spitze – die Zwölfzahl symbolisiert die zwölf Stämme Israels –, konnten hingegen in Jerusalem verbleiben. Die Judenchristen wollten sich nämlich gar nicht von den jüdischen Ritualgesetzen, den Reinheitsgeboten oder der Beschneidung abwenden. Auch Paulus stand für sich selbst dazu. Er vertrat jedoch im Rahmen seiner Missionierungen die Ansicht, dass sich Heiden, die sich zum Christentum bekennen wollen, der Befolgung dieser Gebote oder der Beschneidung nicht zu unterziehen brauchen. Genau das aber führte zu einem Streit mit Petrus und den „Jerusalemer Autoritäten“, obwohl jene dann doch die „gesetzesfreie Heidenmission anerkannt“ haben.34 Nach dem Jahr 70, also nach der Zerstörung Jerusalems und der Verbannung aus dem Judentum, verloren die Judenchristen allerdings erheblich an Bedeutung und wurden zu einer Randgruppe innerhalb der heidenchristlichen Kirche.

Schicksalsmomente

Подняться наверх