Читать книгу NESTOR - Stefan Högn - Страница 11

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IX


Kofferpacken


Am nächsten Tag klingelte es und Rául ging zur Gegensprechanlage, die praktischerweise in jedem Raum von Seldom House installiert war. Es war der Bote mit den Kleidern für Nestor Nigglepot und Lilly.

Das Mädchen war natürlich sofort zur Stelle, um zu begutachten, was sie in der nächsten Zeit wohl anziehen würde. Sie war enttäuscht. Das Gewand, ein Peplos, bestand aus nicht mehr als einer langen Stoffbahn, die ein Stück höher war, als sie selbst. Diese Art Umhang war an den beiden Schmalseiten zusammengenäht, wurde oben ungefähr 50 cm umgeschlagen und an den Schultern mit zwei Klammern, so genannten Fibeln, befestigt, damit er nicht herunterrutschte. Ein Lederriemen als Gürtel raffte das Kleid. Das war’s.

»Ich vermute, du vermisst die Unterwäsche und die Schuhe, nicht wahr?« Rául verkniff sich ein Lachen.

»Du hast es gewusst, oder?«

»Natürlich, wenn es so etwas im achtzehnten Jahrhundert noch nicht gab, dann auch nicht im vierten Jahrhundert vor Christus.«

»Super ...«, sagte Lilly leicht genervt. »Ich geh mich dann mal umziehen.«

Rául brachte die Kleidung für Nestor Nigglepot in dessen Schlafgemach und betätigte die Sprechanlage erneut. Ein Sammelruf erklang im ganzen Haus. »Sir, Ihre neuen Kleider sind eingetroffen. Ich habe sie in ihr Zimmer gebracht.«

»Danke!«, kam es aus dem Gerät heraus, in das der Butler hineingesprochen hatte. Erstaunlicherweise dauerte es auch überhaupt nicht lange und Nestor erschien in kompletter Montur in der Empfangshalle.

»Wieso trägst du Sandalen und ich nicht, Nestor Nigglepot?«, fragte Lilly neidisch und aufgebracht. »Und warum hast du noch dieses Manteltuch darüber und ich nicht? Außerdem ...«, sie fühlte an dem Gewand des Hausherrn, einem Chiton, »... sind deine Kleider aus viel feinerem und weicherem Stoff als meine. Das ist ungerecht!«

Sie drehte sich zu Rául und wollte Unterstützung haben, die sie aber nicht bekam.

»Tja, ich fürchte man konnte schon früher an der Kleidung erkennen, wer das Sagen hatte und wer nicht!« Nestor zog lässig die Schultern hoch.

»Rául! Haben sie das gehört?«

»Ja, Lilly, aber er hat recht.« Und das hatte der Butler ebenfalls. Auch wenn es Lilly noch so wenig schmeckte, sie war die Sklavin und Nestor Nigglepot ihr Herr.

»Beruhig dich, Lilly! Du kennst ihn doch«, flüsterte Rául dem Mädchen zu.

»Ich versuche es«, raunte sie mit zusammengebissenen Zähnen zurück.

»Dann sollten wir jetzt zu Sofia gehen, ich denke sie hat noch ein paar abschließende Informationen für uns«, sagte Nigglepot und machte sich auf. Die beiden folgten ihm.

»Ihr seht schick aus!«, sagte Sofia, sofort nachdem alle den Raum des Zentralcomputers betreten hatten.

»Es kratzt überall!«, meckerte Lilly, die sonst viel ertrug.

»Ich bin mir sicher, chinesische Seide fühlt sich anders an«, sagte Sofia.

»Wie hoch ist die Chance, dass Lilly sich an das Kratzen gewöhnt?«, wollte Nestor wissen.

»Genau 34,7%«, antwortete der Zentralcomputer.

»Du siehst, es könnte schlimmer kommen«, sagte Nestor in seiner überheblichen Art.

»Ich habe die letzten Informationen für euch parat, damit möglichst wenig schief gehen kann.

»Dann lass’ mal hören, Sofia!«

»Du wirst dich als Reisender von der Insel Korfu ausgeben. Lilly Foo wird, wie schon gesagt, als deine Dienerin auftreten. Die Bürger Korfus und aus Syrakus sind Nachfahren von Kolonisten der Stadt Korinth. Du bist also quasi mit allen Syrakusern verwandt, Nestor.«

»Hoffentlich wollen die nicht alle ein Mitbringsel von mir«, witzelte Nigglepot.

»Du, Lilly, wirst vorgeben, Piraten hätten dich im östlichen Meer als Kleinkind deinen Eltern geraubt und dich später in Ägypten an einen Sklavenhändler verkauft. Nestor hat dich vor ein paar Jahren auf dem Sklavenmarkt in Rachotis gekauft, und seit dem bist du seine Dienerin. Ansonsten gibst du vor, nichts weiter über deine Herkunft zu wissen«, fuhr Sofia fort.

»Rachotis? Nie gehört«, sagte Lilly.

»Im Jahre 331 v. Chr. wird Alexander der Große dort die Stadt Alexandria gründen, oder besser gesagt, Rachotis in Alexandria umbenennen«, erläuterte der Zentralcomputer.

»Vergiss das besser wieder!«, sagte Rául, »Den kannte zu eurer Reisezeit noch keiner.«

»Alles klar!« Lilly war verblüfft, an was sie alles zu denken hatte.

»Die Zeitmaschine wird in einer Höhle, nahe der heutigen Stadt Catania, auf Sizilien versteckt, bis dorthin müsst ihr euch unbedingt und möglichst unauffällig durchschlagen. Von dort sind es bis Syrakus mit dem Schiff und günstigen Winden nur ein paar Stunden.«

»Schiff? Da wird mir schlecht! Muss das sein?« Nestor Nigglepot klang plötzlich gar nicht wie ein Draufgänger.

»Auf dem Landweg müsstet ihr mindestens zwei zusätzliche Reisetage einplanen. Überlegt es euch. Vermutlich gibt es dort auch reichlich Banditen.«

»Und was ist mit Piraten?«, wollte Lilly wissen.

»Gab es damals auch, aber der Seeweg ist kurz und sehr nah an der Küste. Weiter draußen könnte das allerdings ein echtes Problem werden.«

»Wir nehmen das Schiff, oder?« Lilly schaute selbstbewusst zu Nestor Nigglepot herüber, der genervt in seinem Sessel hin und her schwang.

»Ja, ja ...«, quälte er es aus sich heraus.

»Gut, weiter! Lilly, du musst aufpassen, dass du Nestor in der Öffentlichkeit nicht widersprichst, das steht Dienern nicht zu. Wenn euch ganz sicher niemand zuhört, könnt ihr frei sprechen, sonst müsst ihr eurer Gesellschaft wirklich hundertprozentig vertrauen können. Ich würde dennoch davon abraten!«

Dann wandte sich die blaue Lichtgestalt wieder dem Hausherrn zu, der den Reinigungsgrad seiner Fingernägel überprüfte.

»Nestor, ich würde dir empfehlen, gleich zu Beginn auf dem Sklavenmarkt in Catania noch mindestens vier weitere Diener zu kaufen. Ein Mann deines Standes hatte zur damaligen Zeit selten weniger als fünf Sklaven.«

»Das ist ja besser als Zuhause!« Wenn er wollte, konnte er auch richtig gemein sein. Alle schauten ihn finster an, sogar Rául.

»Hallo? Das war ein Witz ... ich werde ihnen später die Freiheit schenken!«

»Ach, Nestor«, sagte Sofia kopfschüttelnd und fuhr fort: »Versuch’ junge Menschen zu kaufen, die noch ein paar Jahre Zukunft haben. Ich habe Rául eine Einkaufsliste gegeben, damit ihr auch die notwendige Grundausstattung vor Ort kaufen könnt.«

»Sonst noch was?«, scheinbar verging Nestor langsam die Lust an dieser Besprechung.

»Natürlich!« Der Zentralcomputer machte ein Pause. »Eure Ausrüstung, die ihr von hier mitnehmen werdet, müssen wir auch noch besprechen.«

Rául legte verschiedene Gegenstände auf den Tisch, in dem Sofia stand.

»Lilly, du bekommst diesen schwarzen Ring dort. Er müsste dir passen. Nestor, für dich ist der blaue daneben. Beide Ringe stehen immer in Verbindung. Wenn ihr auf die Steine drückt und sie dabei dreht, habt ihr sofort eine Sprechverbindung miteinander. Es reicht, wenn einer von euch drückt, dann summt der andere Ring. Passt aber auf, dass die Dinger nicht allzu nass werden, sonst gehen die Ringe kaputt.«

Lilly nahm ihren Ring und stellte fest, dass er ihr gut am linken Zeigefinger passte. »Hübsch!«, sagte sie knapp.

Nestor nahm seinen, warf ihn kurz hoch und steckte ihn dann, ohne zu überlegen, an seinen rechten Ringfinger.

»Dieser Dolch dort ist auch für dich, Nestor. Er enthält eine betäubende Substanz, die deine Gegner ein paar Stunden außer Gefecht setzt, falls es zu einem Kampf käme, von dem ich nachdrücklich abraten möchte. Ihr reist in eine ausgesprochen ungerechte Zeit. Einmal falsch gucken bedeutete allzu oft, dass nächste Sonderangebot auf dem Sklavenmarkt zu werden!«

»Ich dachte wir besuchen die Zeit der großen Philosophen«, hakte Lilly nach.

»Stimmt ja auch, aber wenn alles in Ordnung ist gibt es eher weniger zu philosophieren«, erklärte Sofia.

Das leuchtete Lilly ein.

»Deinen Desorientator wirst du diesmal hier lassen müssen, mein lieber Nestor!«

»Kommt gar nicht in Frage!«

»Das kommt sehr wohl in Frage! Stell dir vor, du aktivierst ihn und Lilly wird auch desorientisiert. Das kann fatale Folgen haben. Außerdem gab es damals keine Schmuckstücke, die dem Ding auch nur entfernt ähnlich sahen.«

»Irgendwelche andere Spielsachen?« Nestor wollte die Angelegenheit offensichtlich überspielen.

»Ja, dieses blaue Medaillon ist für dich, Lilly. Damit kannst du eine direkte Verbindung mit mir aufnehmen. Aber anders als die Ringe muss es sogar nass werden, denn es funktioniert nur eingetaucht in Gewässern, die eine Verbindung mit dem Meer haben. Also keine Brunnen oder Seen ohne Abfluss. Hast du das verstanden?«

»Ich glaube schon ...«, Lilly hatte wirklich viel zu beachten.

»Sind wir jetzt fertig?«, Nestor hielt mit seiner Langeweile nicht mehr hinter dem Berg.

»Eine Sache noch«, antwortete Sofia.

»Und die wäre?«

»Benehmt euch!« Der Zentralcomputer sah insbesondere Nestor genauer an. »Viel Glück und passt auf euch auf!«

»Danke!«, sagte Lilly, hängte ihr Medaillon um, und erhob sich gemeinsam mit den anderen.

Alle drei verließen den Geheimtrakt des Anwesens, wünschten sich in der Empfangshalle gegenseitig eine Gute Nacht und gingen auf ihre Zimmer. Um 7:30 Uhr würde Rául das Frühstück servieren und direkt im Anschluss sollte es losgehen.

Alles war durchgeplant und Lilly gut vorbereitet. Dumm war allerdings, dass sie überhaupt nicht müde war. Ihr Herz schlug mit unglaublicher Kraft und ein innerer Druck wanderte ständig zwischen Hals und Magen hin und her. Wie alle Kinder vor einer spannenden Reise, war sie fürchterlich aufgeregt. Nachdem ihr eine Million Fragen unbeantwortet durch den Kopf gegangen waren, schlief sie endlich ein und beinahe noch zu lange, hätte Rául sie nicht geweckt.

Weil ihr vor Müdigkeit kalt war, hing sie sich einen Bademantel über ihren Peplos und saß stumm am Tisch im Bunten Salon und aß ihr Frühstück. Lilly fragte sich, wann sie wohl wieder hier sitzen würde.

»Ich habe die Münzen schon in die Zeitmaschine gestellt, Sir!«, sagte Rául zu Nestor Nigglepot, der lustlos in sein Fladenbrot biss. »Haben sie noch anderes Gepäck, das sie gerne mitnehmen möchten?«

»Nur eine kleine Tasche. Die nehme ich gleich selber mit.«

»Und du, Lilly?«

»Ich habe alles was ich brauche, mein Ring, mein Medaillon und meine Kleidung habe ich schon an. Aber ich hätte gerne noch eine letzte Tasse Tee, bevor es losgeht.«

»Die mache ich dir ... für sie auch, Sir?«

»Ausgesprochen gerne, Rául!«

Der Tee belebte die beiden Reisenden und schon nach wenigen Schlucken war Lillys Müdigkeit besiegt und die Kälte verflogen. Wenn es nach ihr ging, konnte es jetzt losgehen.

Nestor Nigglepot schien erheblich mehr Zeit zu haben. Er saß noch, wie üblich, unrasiert in seinem Morgenrock und hatte alle Zeit der Welt. Er blätterte ausgiebig in der Zeitung herum, aber ob er wirklich las, war nicht zu erkennen. Er schien sich eher die Zeit zu vertreiben.

»Wann geht es denn los?«, wollte die Chinesin wissen.

»Wenn ich fertig bin!«, war die lakonische Antwort von Nestor Nigglepot. Lilly war fest davon überzeugt, dass er sie nur ärgern wollte.

Er faltete betont langsam seine Lektüre zusammen, streckte sich ausgiebig und erhob sich langsam.

»Dann will ich mich mal frisch machen.«

Nestor verließ den Raum und kam erst eine halbe Stunde später wieder – rasiert, geföhnt und griechisch angezogen. Über der Schulter trug er einen unscheinbaren Beutel und an seinem Gürtel steckte links der Betäubungsdolch.

»Können wir?«, fragte Nigglepot unbeteiligt.

»Endlich!«, entfuhr es Lilly, die dachte er käme nie zurück.

Gemeinsam gingen sie in das Labor, in dem Lilly im Sommer angekommen war. Die Maschine summte wieder leise vor sich hin und leuchtete hellblau.

Nestor tippte an den Tasten herum und die Türe öffnete sich mit ihrem hübschen Wuuusch.

»So, ich denke wir haben alles, oder?« Nestor schaute sich noch einmal um und betrat dann die Zeitmaschine.

Lilly wollte gerade hinterher, als sie urplötzlich stehen blieb.

»Wie sollen wir wieder zurück kommen?«, fragte sie völlig verunsichert.

»Was ist los?«, fragte Nigglepot verwirrt.

»Na, in der Höhle wird es ja wohl vermutlich keine Steckdose geben, oder?«

»Stimmt, du hast recht!« Nestor zuckte erschrocken.

Lilly ließ enttäuscht die Schultern hängen.

»Aber Energiekristalle!« Er fummelte in seiner Tasche herum und zeigte dem Mädchen einen etwa Ei-großen, grünlichen Kristall, der ganz schwach leuchtete.

»Die besten und seltesten Batterien der Welt!«, er lachte und sagte: »Komm Lilly! Bis später, Rául!«

»Alles Gute, Sir. Viel Glück und viel Spaß, Lilly! Bis gleich!«

»Bis bald, Rául« sagte das Mädchen, und ärgerte sich über ihre Naivität. Natürlich hatte Nestor Nigglepot an das Energieproblem gedacht.

Die Tür der Maschine schloss sich. Nestor und Lilly wurden in dunkelblaues Licht getaucht, und die metallische Stimme zählte rückwärts: »Vier ... drei ... zwei ... eins ... null ... Zeitvektor geöffnet!«

Plimm!

NESTOR

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