Читать книгу NESTOR - Stefan Högn - Страница 17
ОглавлениеXV
Großalarm
Grafula hatte sich vor dem Eintreten von Miss Simmons gerade noch zurück verwandeln und wieder anziehen können. Neben seinen kläglichen Flugkünsten war das mit der Fledermausnummer verbundene Nacktsein die zweite Peinlichkeit, die ihm diese besondere Fähigkeit ausgesprochen verleidete.
Miranda zerrte an dem schlecht gebundenen Knoten von Chief Inspector Fazzolettis Krawatte, der immer noch bewusstlos in seinem Sessel hing und öffnete den obersten Hemdknopf.
Philander war sich für derlei Maßnahmen zu schade. Erste Hilfe war nicht sein Bereich, schon gar nicht für einen zweitklassigen Polizisten. Aber er befand sich in England und war gut beraten den zuständigen Beamten, zumindest in der Anfangsphase eines solch brisanten Falles, einzubinden.
Das die Sekretärin, den ohnmächtig in seinem Sessel sitzenden Chief Inspector jetzt aufbinden musste, war nun wirklich zu lächerlich.
»Atmet er noch?«, fragte der Superintendent, ohne zu vertuschen, dass ihm beide möglichen Antworten gleich recht waren.
»Ich denke schon …« Miranda war sich gar nicht so sicher und ging deshalb mit ihrem Ohr verblüffend nah an Fazzolettis Mund und Nase heran.
»Haaatschi!!!«, brüllte es aus eben dieser, in und eben diesem Moment.
»Er atmet noch«, stellte Philander fest und schaute Grafula dabei gleichgültig an.
Miss Simmons fasste an ihr nun taubes Ohr, taumelte Richtung Bürotür und brabbelte irgendetwas von ekliger Sauerei.
Der Superintendent stemmte seine Hände breit gespreizt auf Fazzolettis Schreibtisch und beugte sich weit zu dessen Gesicht hinunter und flüsterte: »Mein lieber Mann! Sie wissen, wie man mit Frauen umgeht. Alle Achtung!« Er machte eine kurze Pause. Dann flüsterte er noch leiser weiter: »Und jetzt werden sie mir zeigen, wie sie mit diesem Fall umgehen … und wenn mir nicht gefällt, was ich sehe, gehen sie wieder Streife!«
Philander richtete sich auf und sprach in normaler Lautstärke weiter: »Trommeln sie Ihre Truppe zusammen, Fazzoletti. Ich will diesen Nigglepot haben … und zwar lebendig!«
»Ja, Sir«, antwortete der Chief und machte kein Hehl daraus, dass er Philander für diesen Auftrag hasste.
»Kommen sie, Grafula! Unsere Leute haben jetzt viel zu tun, da stören wir nur. Was halten sie von Tee in meinem Büro?«
»Ich würde ihnen Gesellschaft leisten!«, sagte er und dachte: »Ich hab’ ihn soweit! Ich hab’ ihn soweit!« Und sofern man Freudentänze denken kann, dachte er auch diese.
»Chief«, sagte Fazzolettis Vorgesetzter im Gehen, »ich erwarte ihren ersten Bericht heute Abend um 18 Uhr.« Dann verließen er und Grafula sein Büro und nahmen alle gute Hoffnung des Chief Inspectors gleich mit, der sehr verlassen in seinem Büro saß und sich vorstellte, wie sein beruflicher Alltag auf der Straße aussehen würde.
»Simmons! Sofort in mein Büro«, brüllte er in die Sprechanlage und drückte dabei wieder auf Sammelruf.
Es dauerte eine Weile, bis Miss Simmons bei ihm auftauchte, denn noch immer machte ihr rechtes Ohr Probleme und sie war auch nicht wirklich erfolgreich gewesen, den Rotz von ihrem Kostümjäckchen zu entfernen.
Das »Was wollen sie?« mit dem Miranda antwortete, wehte wie ein eiskalter Wind durch den Raum und ihrem Vorgesetzten fröstelte tatsächlich.
»Wir haben da ein Problem«, stellte er unverdrossen fest, denn es war bereits elf Uhr. Es blieben nur noch sieben Stunden Zeit, um irgendetwas zu berichten.
»Nein, Chief. Sie haben da ein Problem«, entgegnete sie kurz und war im Begriff das Büro wieder zu verlassen.
Fazzoletti stutzte kurz, bemerkte aber schnell, dass eine Kurskorrektur die Sache noch ins Reine bringen könnte.
»Miranda … wir, und mit wir meine ich, sie und mich, wir haben es zum ersten Mal mit einem wirklich übernatürlichen Phänomen zu tun. Ich verspreche es ihnen, denn ich habe es mit meinen eigenen Augen fast ganz gesehen.«
»Fast ganz?«, fragte sie skeptisch nach.
»Nun, ich war ja ein wenig abwesend, aber was ich bis dahin gesehen habe, war alles andere als irgendwie auch nur ein bisschen normal.«
»Ehrlich?«
»Miranda? Vertrauen sie mir etwa nicht?«
Natürlich vertraute sie ihrem Chef kein Stück, aber wenn er selber sagte, sie hätten es mit etwas Übernatürlichem zu tun, dann hatte das Gewicht. Fazzoletti glaubte normalerweise nie an solche Dinge. Miranda Simmons hingegen hatte seit Jahren keine TV-Reportage über merkwürdige Dinge beim Pyramidenbau, Kartenlegen, Außerirdische und paranormalem im Allgemeinen und Besonderen verpasst. Sie war besessen von der Vorstellung, es gäbe etwas da draußen, dass nicht zu erklären sei. Nur deshalb war sie in diesem Vorzimmer gelandet. Miss Miranda Simmons wollte als Erste, zumindest aber als Zweite dabei sein, wenn irgendetwas in dieser Art passieren würde.
Das einzig Unnormale in all den Jahren war allerdings Fazzoletti, der keinerlei Anstalten gemacht hatte, sich wenigstens um die stichhaltigsten Hinweise zu kümmern. Und jetzt das!
»Stimmt das? Gibt es diesen Zeitreisenden wirklich?«
»Vermutlich ja …« Der Chief knetete mit der rechten Hand sein Kinn durch.
»Und sie glauben das?«
»Ich muss ja … wenn sich dieser Untote hier vor meinen Augen in eine Fledermaus verwandelt, wird das mit dem Zeitreiseheini wohl auch stimmen«, erläuterte Fazzoletti matt.
»Sie brauchen Hilfe!«, freute sich Miranda.
»Wollen sie mich etwa zum Psychiater schicken?«
»Quatsch! Ich glaube das alles sowieso, aber wenn sie diesen Fall lösen wollen, brauchen sie jemanden, der Erfahrung mit solchen Dingen hat. Jemand der Psi-Experte ist, einen Ufologen, jemand der pendeln kann, einen Profi in Sachen Para-Archäologie, einen Sachverständigen für Zeitverschiebungen ...«
»Möchten sie vielleicht zum Psychiater?«, unterbrach Fazzoletti seine Sekretärin.
»Sie brauchen mich!«, überhörte Miranda die Bemerkung ihres Vorgesetzten.
»Gewiss«, sagte er und verdrehte die Augen.
»Bevor wir loslegen, benötigen wir alle verfügbaren Informationen über diesen Zeitreisenden und dann wollen wir doch mal sehen, ob er sich unserem Zugriff entziehen kann!«
Fazzoletti berichtete ihr von dem Gespräch mit Philander und Grafula. Sie selbst sorgte außerdem dafür, dass auch aus dem Vorzimmer des Superintendents ein umfangreiches Dossier über Grafula und dessen Informationen eintrudelte.
Beides unterzog sie einer eingehenden Prüfung und sagte dann zu Fazzoletti, der sich aus purer Langweile wieder seinen Fußballwettquoten zugewandt hatte: »Chief … wir sollten einen Großalarm ausrufen!«
»Großalarm? Simmons, jetzt übertreiben sie aber. Wenn ich einen polizeilichen Großalarm ausrufe, bin ich meinen Posten noch schneller los, als wenn ich gar nichts mache«, war die Antwort und dann schnäuzte er sich die Nase. »Verdammte Stauballergie!«
»Wer spricht denn hier von der Polizei, Chief Inspector?«, antwortete sie kopfschüttelnd.
»Wen sollen wir denn sonst alarmieren? Die Pizza-Boten vielleicht?«, entgegnete er genervt und betrachtete die Rotzfarbe in seinem Taschentuch.
»Violet-reality.com!«, triumphierte Miranda.
»Bitte was?«, riss es den Chief aus seiner Analyse.
»Die Violette Realität … meine Freundinnen und ich«, sagte sie und setzte sich in den Stuhl vor dem Schreibtisch.
»Sie wollen im Ernst mit einem Damenkränzchen den vermutlich gewieftesten Verbrecher aller Zeiten stellen? Mädchen, sie sind nicht ganz bei Trost. Machen sie Ihre Zahlenrätsel und ich kümmere mich alleine um diesen Fall!« Fazzoletti schüttelte den Kopf und begrub das Gesicht in seinen Händen.
»Chief! Sie verstehen da etwas falsch. Mitglieder der Violetten Realität sind auf der ganzen Welt vertreten. Wir sind vernetzt, wir bloggen, twittern, simsen und mailen den ganzen Tag, wenn wir nicht gerade telefonieren, um die wichtigsten Informationen um den Planeten jagen. Ihr Kerle braucht das Internet, damit ihr Fußballergebnisse lesen könnt. Wir Frauen lassen Nachrichten kreisen, Kochrezepte, Trennungsgerüchte, Modetipps, Beziehungs- und Erziehungsprobleme. Die Violette Realität ist ein Hort des Wissens und des Halbwissens. Was wir rausfinden wollen, finden wir heraus. Wen wir überführen wollen, den erwischen wir. Immer und überall. Wir überprüfen jedes Gerücht, wir entdecken jeden Urlaubsort von allen Prominenten, die nicht gefunden werden wollen und wir finden das letzte Paar Schuhe in Größe 39 … und sei es von Debile.«
Sie holte tief Luft.
»Wir wussten das George Clooney heiraten will, bevor er seine Braut gefragt hat, wir wissen welche Modemarke im nächsten Sommer angesagt ist und das sie seit 23 Jahren keine Freundin mehr hatten.«
»Wie bitte?«, fragte Fazzoletti erzürnt.
»Habe ich recht, oder nicht?«
»Es sind aber noch nicht ganz 23 Jahre, Miss Simmons!«
»Wir haben brauchbare Theorien für das Entstehen von Kornkreisen! Die Violette Realität weiß was sich in Area 51 befindet und wir kennen den Aufenthaltsort von Elvis Presley.«
»Und warum erzählen Ihre Lila Mäuschen das keinem?«
»Chief … wir sind Geheimnisträger! James Bond könnte von uns eine Menge lernen.«
»Also gut.« Seine Augen verengten sich zu Schlitzen und blickten Richtung Fenster. »Wie wollen wir vorgehen?«
»Oh, ganz einfach! Wir machen uns seine Schwächen zunutze.« Sie stand auf und ging um den Schreibtisch herum.
»Hat dieser Nigglepot denn Schwächen?«
»Aber sicher! Laut Grafula ist er immer gut gekleidet und hat jede Menge Stil.«
»Und das bedeutet?« Fazzoletti half diese Aussage kein Stück weiter.
»Wissen sie wie viele Männer immer, also wirklich immer, gut gekleidet sind und dazu auch noch Stil haben?«
»Als wenn ich darauf achten würde.«
»Ich weiß, dass sie das nicht tun, aber wir machen es. Und ich kann ihnen sagen, Chief, dass können so viele nicht sein, nicht in London, nicht in England oder sonst auf der Welt«, sagte die Sekretärin selbstbewusst und schubste Fazzoletti von seinem Sessel. Dann tippte sie so flink auf der PC-Tastatur des Chief Inspectors herum, dass diese sich zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich gebraucht und nicht – wie sonst – nur benutzt fühlte.
Die Fenster auf dem Monitor öffneten und schlossen sich wieder. Programme, von deren Existenzen Fazzoletti noch nie etwas gehört hatte und deren Anwendung ihm völlig unbekannt waren (und blieben), wurden gestartet und wieder beendet, bis plötzlich der ganze Monitor violett leuchtete. Mittig prangte in hübschen, weißen Buchstaben auf Englisch Violet Reality und der Computer forderte die Benutzerin zur Passworteingabe auf.
»Können sie mal weggucken, Chief? Das ist geheim!«
»Was?«, antwortete dieser verdattert und drehte widerwillig seinen Kopf zur Seite. Dann fiel ihm ein, dass dieses sein Computer war und er, seiner Meinung nach, Anspruch auf dieses Wissen hatte. Aber da war Miranda schon fertig.
»Google können sie vergessen, Chief! Hier findet Frau wirkliche brauchbare Informationen.«
Während Miranda einen Suchtext eingab, fragte Fazzoletti die Sekretärin: »Wieviele lila Mäuschen gibt es eigentlich?«
»Ach, in England ein paar hunderttausend. Auf der ganzen Welt wohl einige Milliönchen.«
Der Chief Inspector staunte nicht schlecht und las den Suchtext: »Hallo ihr Süßen! Ich habe da einen Spezialauftrag für Euch. Ich suche einen Mann, der immer bestens gekleidet ist, ausgesprochen stilvoll auftritt, leider sehr eingebildet, dafür aber vermutlich unverheiratet und ganz sicher ausgesprochen wohlhabend ist. Sein Aufenthaltsort ist wahrscheinlich England, er ist ungefähr 185 cm groß, schlank, ca. 45 Jahre alt, hat mittelbraune Haare, blaue Augen und sein Name lautet Nestor Nigglepot. Küsschen, eure MIRANDA3007«
Kurz, nachdem Miss Simmons auf den Senden-Knopf geklickt hatte, wurden zeitgleich einige Millionen Textnachrichten an ebenso viele Handys auf der Welt geschickt und in Seldom House aktivierte sich Sofia schlagartig.