Читать книгу NESTOR - Stefan Högn - Страница 15
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Vier
»Guten Morgen, mein Herr«, begrüßte der Sklavenhändler seine Kundschaft überschwänglich. Er war ein rundlicher Mann mit dunklen krausen Haaren, einem kurzen Vollbart und sehr kurzen Beinen. »Ich kenne euch zwar nicht, aber nennt mir eure Wünsche und ich werde sie erfüllen. So wahr ich Metros heiße!«
»Man nennt mich Nestor von Korfu! Seid gegrüßt, werter Metros«, sagte Nigglepot sehr freundlich zu dem Händler, der wiederum Lilly betrachtete.
»Ihr sucht etwas Exotisches?«
»Was habt ihr im Angebot, Metros?«, fragte Nestor.
»Nubier. Feinste Qualität, anspruchslos, fleißig und schweigsam ... allererste Wahl«, und Metros zeigte auf ein paar muskulöse farbige Männer, die sich wie auf Kommando hinstellten.
»Was verkauft ihr denn im Moment am besten?«
»Völlig unterschiedlich, Herr Nestor. Sehen sie, die einen brauchen etwas Praktisches, die anderen suchen etwas Kräftiges. Weiber, Männer, Kinder ... kostspielig, günstig oder Sonderangebote. Jeder hat einen anderen Geschmack und unterschiedliche Aufgaben. Die einen suchen Lehrer, die anderen wollen Arbeiter. Manch einer sucht auch Gesellschaft ... aber, sprecht! Was sucht Ihr?«
»Wir suchen ...«, mischte sich Lilly ein, stockte aber.
»Ja, junge Dame?« Metros war erstaunlich freundlich zu Lilly. »Was sucht ihr denn?«
»Ich weiß eigentlich nicht recht?« Das Mädchen fühlte sich ausgesprochen unwohl in ihrer Haut und hatte nicht die kleinste Vorstellung von dem, was sie tatsächlich in diesem Geschäft suchten.
»Vielleicht möchtest du dich erstmal in Ruhe umschauen, junges Fräulein!«, schlug der Sklavenhändler vor.
»Das wird wohl das Beste sein«, sagte Lilly und ging unsicher auf die verkäuflichen Menschen zu, aber schaute sie aus Scham gar nicht richtig an. Hätte sie gewusst, wie unangenehm ihr diese Situation sein würde, wäre sie lieber allein in der Herberge geblieben.
»Na, guck sie dir ruhig mal richtig an, Kind! Fass sie an, frag sie irgendetwas, schau ihnen in die Augen und in den Mund ... wenn du Statuen suchst, bist du hier falsch!«
»Metros, ich glaube ich weiß was ich suche. Am liebsten hätte ich eine Art Familie mit vier Mitgliedern. Nicht zu alt, aber auch keinesfalls zu jung«, erklärte Nigglepot.
»Eine Familie?«, staunte Metros. »Bitte, die meisten meiner Kunden kümmern sich zwar lieber selbst darum, aber ... gut, ja! Schauen wir, was ich habe.« Der Sklavenhändler legte seinen Zeigefinger auf die Lippen und überlegte.
Im Kopf ging er jeden einzelnen Sklaven durch. Die familiären Verhältnisse seiner Ware schienen bisher völlig unbedeutend gewesen zu sein.
»Versteht mich nicht falsch, Herr Metros! Ich will nur, dass sich die Sklaven gut miteinander verstehen«, versuchte der Zeitreisende das Ganze zu erklären.
»Mir sind eure Beweggründe völlig egal, mein lieber Nestor! Wenn ihr euch eine Familie wünscht, dann sollt ihr auch eine bekommen!« Der Sklavenhändler hielt inne und fuhr dann etwas zögerlich fort: »Wenn ihr allerdings wünscht, dass sie sich untereinander wirklich gut verstehen, würde ich an eurer Stelle, als allerletztes nach einer Familie suchen. Versteht ihr was ich meine?«
Es fiel Nestor nicht leicht, sich von einem Sklavenhändler Nachhilfe in Sachen zwischenmenschlicher Beziehungen geben zu lassen, aber wo Metros Recht hatte, hatte er Recht.
»Ihr habt mich überzeugt. Keine Familie. Ich möchte keine Familie.
»Habt ihr denn wenigstens eine Idee, welche Farbe sie haben sollen? Ich sehe ihr bevorzugt dieses sportliche Gelb. Wäre aber nicht ganz billig und müsste ich auch erst bestellen«, bohrte der Händler nach.
Lilly sah beleidigt zu Metros hinüber. Der nahm sie aber gar nicht wahr, sondern grübelte zu welchem Angebot Nestor nicht nein sagen konnte.
»Ach, die Farbe ist nicht so wichtig ...«, auch Nestor überlegte scharf. Er hatte in seinem Leben viel Ungewöhnliches gekauft, aber selbst für ihn war der Sklaveneinkauf Neuland.
»Dann würde ich doch ein paar gebrauchte Einstiegsmodelle empfehlen. Preiswert im Unterhalt, leicht zu handhaben ... was haltet ihr von Ägyptern?«
»Ihr führt Ägypter?«, wunderte sich die Chinesin.
»Aber sicher! Und Iberer, Karthager, Hebräer, Kelten, ein paar Germanen ... selbstverständlich auch Griechen, viele Italier. Ich verkaufe Menschen aus der ganzen Welt. Ich bin der führende Händler in Catania!«
»Die Sklaven sollen schlau sein!«, warf Lilly ein.
»Oh, schlau sind die meisten. Du meinst aber sicher gebildet?«, verbesserte der Sklavenhändler.
»Beides«, erweiterte Lilly ihren Wunsch.
»Also keine Germanen ...«
»Sie sollten Griechisch können«, ergänzte Nestor.
»Fremdsprachen liegen den Kelten nicht.«
»Und sie sollen nicht stolz oder eingebildet sein«, sagte Lilly, denn einer von Nestors Sorte reichte ihr vollkommen.
»Dann fallen auch die Iberer und Italier weg ... ihr seid wirklich anspruchsvolle Kunden.« Metros war ratlos.
»Es wird das Beste sein, wir überlegen nochmal in Ruhe und kommen dann wieder, Herr Metros«, sagte Nigglepot, bedankte sich und die beiden verließen den Verkaufsraum.
»Kommt morgen wieder, mein Herr! Wir bekommen täglich frische Ware! Nicht vergessen! Bis Morgen!«, rief der Sklavenhändler Nestor und Lilly hinterher.
Beide standen auf der Straße und sahen sich ratlos an, sie brauchten Sklaven, obwohl sie eigentlich gar keine wollten und auch nicht wussten, welche Sorte sie eigentlich suchten.
»Meinst du wir fallen wirklich auf, wenn du zu wenig Sklaven hast?«, fragte Lilly.
»Sofia irrt in diesen Dingen nicht. Und meine bisherigen Besuche bestätigen das ebenfalls«, sagte Nestor.
»Aber hast du denn vorher nie Sklaven kaufen müssen?«
»Nein. Entweder ich war allein oder Rául hat mich begleitet.«
»Und warum dann dieses Mal?« Lilly konnte das Ganze noch immer nicht recht nachvollziehen.
»Um dich zu tarnen! Sonst war ich einfach nur ein Mann auf Reisen. Jetzt habe ich dich im Gepäck. Und wenn jemanden in dieser Zeit und Gegend eine Chinesin mit sich herumschleppt, fällt man auf wie ein bunter Hund. Also muss ich jemanden spielen, der Rang und Namen hat ... und Sklaven, die diesem Rang auch entsprechen.«
»Dreck!«, ärgerte sich Lilly. Es störte sie, dass ihre Hautfarbe an diesem Schlamassel Schuld war, aber sie verstand auch, dass die Zeit hier eine andere als im 21. Jahrhundert im milden Cornwall war.
»Wir können ja mal zu diesem Lefteris gehen. Vielleicht hat der was Passendes.« Nestor klopfte Lilly auf die Schulter und sie gingen lustlos durch die Gassen von Catania, während es auf die Mittagszeit zuging.
Lefteris war ein angenehmer Zeitgenosse. Ruhig, gelassen und weniger aufdringlich als sein Kollege. Sein Laden war eigentlich gar keiner, stattdessen saßen – auf ein paar Hockern im Schatten eines Olivenbaums – er und seine Ware, unterhielten sich oder machten Würfelspiele. Zwischen ihnen streunte ein Hund, eine kleine Promenadenmischung, die die Kundschaft zur Begrüßung ankläffte.
»Entschuldigung ... ich suche Lefteris«, rief Nestor, denn es war schwierig zu erkennen, wer der Chef hier war.
»Schickt euch jemand, Herr?«, der Händler wirkte zunächst misstrauisch.
»Nein, nein! Wir möchten nur gerne ein paar Sklaven kaufen«, sagte Nigglepot verwundert.
»Wart ihr denn schon bei Metros?«, wollte Lefteris wissen.
»Ja, warum?«
»Ach nur so, ich dachte dort ist die Auswahl größer, die Preise besser und die Ware frischer ...«
Seine Ware beschwerte sich darauf hin lautstark mit Äußerungen wie: »Also bitte, ja!«, »Was heißt denn hier frischer?« oder »Ich bin ein absolutes Schnäppchen!«
Lilly gefiel der saloppe Umgangston zwischen Geschäftsleitung und Angebot. Hier würden sie fündig, das konnte sie spüren.
»Sucht ihr etwas Besonderes?«, auch Lefteris war Lilly aufgefallen.
»Nein ...«, sagte sie, besann sich dann aber eines Besseren. »Doch, wir suchen die besten Sklaven der Welt. Vier Stück um genau zu sein. Sie sollten schreiben können, treu zu ihrem Herrn stehen, lustig sein, arbeiten können, freundlich sein, streiten können, faulenzen wollen, nicht allzu alt, gesund und ehrlich sein.«
Nestor stand der Mund offen, als er Lilly bei ihren Ausführungen betrachtete. Dann schloss er ihn wieder und sagte zu Lefteris: »Habt ihr da was Passendes?«
»Hui!«, staunte der Sklavenhändler und wandte sich an seine Angebotspalette: »Fühlt sich da einer von euch angesprochen?«
»Muss man alle Punkte erfüllen?«, fragte ein Junge in Lilly Foos Alter.
»Nein, aber die meisten«, antwortete das Mädchen, nachdem sie kurz überlegt hatte.
»Hey!«, sagte ein Mann und knuffte seinen Nachbarn, »Das wär doch was für dich. Du bist ehrlich faul ...« Und alle lachten sich halb kaputt.
»Jetzt reißt euch mal zusammen«, unterbrach Lefteris irgendwann die fröhliche Runde. »Ich kann euch hier nicht alle ewig durchfüttern, ab und zu muss ich mal ein paar von euch verkaufen.«
Alle schauten betreten und nickten. Das ganze wirkte eher wie eine Genossenschaft und weniger wie ein Sklavenmarkt. Alle schienen sich bei Lefteris häuslich eingerichtet zu haben und wollten offenbar auch nicht wirklich weg. Das gefiel dem chinesischen Mädchen.
»Vielleicht sollten wir doch noch mal zu Metros gehen«, sagte Nestor und machte schon kehrt, denn das Angebot hier wirkte ihm zu aufsässig.
»Kommt gar nicht in Frage«, hielt Lilly ihn auf »Also?«
Ihr Blick richtete sich an jeden Einzelnen in der Runde und als Erstes stand der Junge auf, der gefragt hatte. Er nahm die Hand einer jungen Frau und zog sie mit sich hoch.
»Komm, Judith! Wir gehen mit den beiden.«
Als nächstes erhob sich ein gebräunter Mann um die Zwanzig und ihm folgte noch eine Frau, die in Nigglepots Alter war.
Lilly strahlte Nestor mit großen Augen an: »Kann ich die vier haben, Herr?«
Herr Nestor seufzte tief und wühlte dann nach seinem Geldbeutel »Wie viel?«
»Sagt einen guten Preis, Herr«, forderte Lefreris ihn zum Feilschen auf.
»100 Drachmen?«
»Eine Mine? Seid ihr verrückt? Sie sind das Doppelte wert. Fragt sie selbst ...«, entgegnete der Sklavenhändler.
»200 Drachmen?«, Nestor fragte erst gar nicht, weil er wusste, dass sie ihrem Verkäufer nicht wiedersprechen würden.
»Verkauft: Ich gratuliere! Ihr werdet es nicht bereuen.«
Daraufhin platzte die unverkaufte Ware wieder in schallendes Gelächter aus.
Nestor sah in Lillys Augen, zog ahnend eine Braue hoch, gab Lefteris das Geld und wollte dem Zugang seiner Reisegruppe den Abmarsch signalisieren, als Lefteris hastig sagte: »Wartet! Wartet! Ich hab’ noch eine Gratis-Zugabe für Euch!«
Lilly und Nestor wunderten sich.
Dann drückte der Sklavenhändler der Chinesin den sich ebenso wundernden und kläffenden Hund in den Arm.
»Danke«, sagte sie und freute sich.
»Arf, arf«, sagte der Hund und wusste nicht, ob er sich freuen sollte.
Nestor ließ ermattet die Schultern sinken und schlug den Weg zur Herberge ein. Sein Gefolge tat es ihm gleich.
Lefteris setzte sich wieder zu seiner Ware und begann zu würfeln. Einer sein Mitspieler schaute ihn an und sagte: »Der Hund gehörte doch gar nicht dir!«
»Na, und? Jetzt ist er ein Werbegeschenk.«
Nestor, Lilly, die Neuerwerbungen und der Hund hörten das schallende Gelächter von Lefteris Runde langsam hinter sich leiser werden, als sie den Hafen ansteuerten. Wenig später standen sie an einer Kaimauer und Nigglepot ergriff das Wort.
»So, Herrschaften ... ach nein, das bin ja ich, Entschuldigung! Nochmal ... so, Männer und Frauen!«, versuchte Nestor das Wort souverän zu ergreifen, was aber wieder gründlich misslang.
»Und Kinder!«, sagte der eben gekaufte Junge.
»Ja, genau ... und Kinder!«, pflichtete ihm Lilly bei, die sich sichtlich freute das Nestor mit der Situation überfordert war.
»Meinetwegen ... also, Männer, Frauen und Kinder! Mein Name ist Nestor von Korfu! Ich bin euer neuer Herr.«
Alle verbeugten sich, nur der Hund kläffte ihn an.
»Und das dort ist Lilly Foo! Sie ist meine Dienerin und wenn ich nicht da sein sollte, habt ihr ihr zu gehorchen. Verstanden?«
Alle außer dem Hund nickten.
»Wir befinden uns auf dem Weg nach Syrakus. Wenn ihr uns dabei unterstützt, werdet ihr ein angenehmes Leben haben – vielleicht nicht ganz so entspannt wie bei Lefteris, aber es könnte schlimmer kommen. Ich will mich nur auf euch verlassen können wie auf Lilly.« Nestor schaute jedem einzelnen lange in die Augen und alle gaben zu verstehen, dass sie auch dieses verstanden hatten. Nur der Hund ließ ein respektloses »Arf, arf!«, vernehmen.
»Wie heißt ihr und wo kommt ihr her?«, wollte Lilly wissen, während der Hund versuchte sich in Nestors Sandalen zu verbeißen.
Als Erstes ergriff der junge Mann das Wort. Er sprach mit phönizischem Akzent und war mit einer Art Shorts, einem Stoffüberwurf und Sandalen bekleidet. Seine Größe war beeindruckend und sein Kopf kahl geschoren.
»Mein Name ist Darian, ich stamme aus einem Dorf in Persien, jenseits des Flusses Jordan. Ich wurde von Phöniziern verschleppt, als ich auf der Jagd nach Bergziegen war, das ist jetzt neun Winter her.«
»Wem hast du vorher gedient?«, hakte Nestor nach.
»Ich war Ruderer auf Galeeren.«
»Wieso wurdest du verkauft?«
»Das Schiff meines früheren Herrn wurde von Piraten aufgegriffen, aber die hatten keinen Bedarf an weiteren Ruderern, also wurde ich an Metros den Sklavenhändler verkauft. Dort war ich einige Wochen, aber der Markt für Galeerensklaven ist schon seit Monaten zusammengebrochen. Er hat mich dann an Lefteris weiter verkauft.«
»Der Markt ist zusammengebrochen?«, stutzte Nestor.
»Ja, seit der Markt mit billigen Germanen geflutet wird, hat keiner mehr Interesse an hochwertigen Rudersklaven aus Persien. Eine Schande! Heute muss alles immer nur schön billig sein.«
Nestor nickte verständnisvoll. Er selbst war an dem einen oder anderen Börsencrash nicht ganz unbeteiligt gewesen. Sein Blick führte ihn zu der Frau.
»Ich bin Roxanna und wurde in Athen als unfreie Griechin geboren. Meine Eltern waren schon Sklaven und auch meine Großeltern. Über viele Jahre haben wir adeligen Familien dort gedient. Mein letzter Herr dort musste mich verkaufen, weil er sich dem verrückten Sokrates angeschlossen hatte und danach aus der Stadt fliehen musste. Anschließend habe ich noch zwei anderen Herren gedient. Mein letzter Herr verstarb und hatte keine Erben, also wurde ich an Lefteris versteigert.«
»Wie alt bist du?«, wollte Lilly wissen.
»Ungefähr vierzig Jahre.«
»Hast du Kinder?«, hakte das Mädchen nach.
»Ich habe vier Kinder. Alle wurden, wie ich in die Sklaverei geboren. Soweit ich weiß, leben sie in Athen und dienen dort verschiedenen Familien«, sagte Roxanna ruhig und schaute auf den Boden.
Lilly schluckte und wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Und ihr beiden?«, ergriff Nestor das Wort und schaute den Jungen und das junge Mädchen an.
»Ich heiße Judith und das hier ist mein Bruder Aaron, wir sind Hebräer und wurden von syrischen Sklavenhändlern mit allen anderen Kindern unseres Dorfes verschleppt, als wir die Felder bestellt haben. Wir haben bisher nur einem Phönizier gedient, der hier in Catania eine Niederlassung hat. Ich weiß nicht, warum er uns verkauft hat, aber bisher hatten wir großes Glück und wurden noch nicht von einander getrennt.«
»Wie alt seid ihr?«, fragte Lilly mit belegter Stimme.
»Ich bin fünfzehn und mein Bruder ist neun Jahre alt«, sagte Judith und ihr Bruder sah Nestor und Lilly erwartungsvoll mit großen Augen an.
»Na, dann ... wollen wir mal was Essen gehen!«, sagte Nigglepot und schlug den Weg Richtung Herberge ein.
»Wie kannst du denn so einfach sagen: Dann wollen wir mal was Essen gehen?«, flüsterte Lilly entsetzt zu Nestor. »Was die da alle erzählt haben, ist doch fürchterlich! Da kannst du doch nicht einfach nur ans Essen denken!«
»Lilly! Deine Anteilnahme ehrt dich. Dennoch, in dieser Zeit sind das zwar keine schönen, aber völlig normale Schicksale. Jeder kennt hier jemanden, dem so etwas passiert ist. Und vermutlich wird das alles noch viel schlimmer gewesen sein, als sie uns erzählt haben.« Er legte die Hände auf ihre Schultern und kniete sich zu ihr herunter, dann fuhr er flüsternd fort: »Zu deiner Zeit in Hongkong starben Menschen noch an den einfachsten Krankheiten. In unserer Heimatzeit in England gibt es Menschen, die obdachlos sind und keine Arbeit haben. Es gibt immer tausend schreiende Ungerechtigkeiten und du kannst nur Kleinigkeiten dagegen unternehmen. Damit musst du dich abfinden!«
Nestor konnte sehen, wie sich innerlicher Widerstand in Lilly rührte, ihr aber keine passenden Lösungsvorschläge oder Argumente einfielen, vermutlich weil er Recht hatte.
»Aber wenn man satt ist, sieht die Welt gleich ganz anders aus. Und deshalb gehen wir jetzt was essen. Basta!« Er ließ keinen weiteren Widerspruch in dieser Angelegenheit mehr zu.
Die Chinesin blieb stehen und ließ sich etwas zurückfallen. Die Worte von Nestor taten ihre Wirkung. Sie atmete tief durch, schnappte sich den Hund und lief den anderen hinterher.
»Wie heißt der Hund eigentlich?«, fragte sie in die Runde.
»Der hat keinen Namen«, sagte Roxanna.
»Aber jeder Hund hat doch einen Namen«, entgegnete Lilly.
»Vielleicht, da wo ihr herkommt. Aber hier hat kein Hund einen Namen. Hier heißt ein Hund einfach Hund«, erläuterte Darian.
»Ich werde ihm aber trotzdem einen Namen geben!«, Lilly war es völlig egal, dass man hier Hunden keinen Namen gab.
»Und wie soll die Töle heißen?«, fragte Nestor Nigglepot belustigt nach.
»Arf!«