Читать книгу NESTOR - Stefan Högn - Страница 16
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Ahnen
»Der Hund muss aber draussen bleiben!«, polterte Lakis beim Anblick von Arf, den Lilly unterm Arm in den Gastraum der Herberge trug.
»Kommt überhaupt nicht in Frage«, protestierte die Chinesin genauso lautstark, denn sie hatte beschlossen, dass die Promenadenmischung ab sofort ihr Wachhund sein würde. »Der passt auf mich auf!« Sie setzte das Tier auf den Boden, und sofort kläffte Arf den Mann hinter der Theke an.
»Ach ja, stimmt ja ... wir sind ja was Besonderes«, fiel es dem Wirt mit genervtem Blick wieder ein. »Da will ich doch gleich mal nach einem Leckerchen schauen.« Und er suchte nach irgendetwas, das man gut werfen konnte.
»Ein alter Knochen würde reichen«, versuchte Nestor die Stimmung zwischen Lilly und Lakis abzukühlen.
»Pah! Der Köter kostet extra!«, sagte der Herbergsvater und schaute erst dann auf die vier anderen, die gemeinsam mit den Zeitreisenden den Gastraum betreten hatten. »Und die vier hier auch. Sollen die auch eigene Zimmer bekommen, oder wäre es ,diesmal genehm das Gesindelager zu buchen?«
»Gesindelager«, sagte Nestor.
»Eigene Zimmer«, sagte Lilly.
Nigglepot sah das Mädchen erstaunlich scharf an.
»Gesindelager ...«, gab sie kleinlaut bei, obwohl sie es nicht mochte, dass andere unter freiem Himmel im Hof bei Pferden und Eseln schlafen sollten. Aber um nicht aufzufallen, musste sie ihrem Herrn Recht geben.
»Wo habt ihr die denn her?«, fragte Lakis, als er sich die neuen Sklaven seiner Gäste genauer ansah. »Wart ihr etwa bei einer Haushaltsauflösung?«
»Quatsch nicht, Lakis! Bring’ uns Essen und Getränke. Wir haben Hunger!« Nestor schien allmählich genervt von dieser Einkaufsaktion zu sein und eine weitere stand noch aus.
Alle setzten sich an einen Tisch, drei zu jeder Seite und Arf in der Mitte – unter dem Tisch.
»Wer von euch kann denn eigentlich rechnen?«, wollte Nigglepot wissen.
»Schwierige Sachen oder mehr so das Übliche?«, hakte Darian nach.
»Was man halt zum Einkaufen so an Rechenkünsten braucht«, erklärte Nestor.
»Da kann ich helfen«, sagte Roxanna zögerlich. »Ich war bei meinen Herrschaften immer für die Einkäufe zuständig!«
»Wunderbar!« Nestor spielte den großen Organisator und fragte dann: »Wer kennt sich mit Pferden und Eseln aus? Denn wir benötigen ein Pferd für mich und einen Eselskarren.«
»Darum kann ich mich kümmern«, antwortete Darian, der Perser. »Zuhause war ich für die Pferde verantwortlich, ich verstehe viel davon.«
»Willst du doch über Land reisen?«, fragte Lilly verblüfft.
»Nein, aber ich möchte in Syrakus nicht wie ein hilfloser Haufen Touristen mit euch ankommen«, erläuterte Nestor. »Judith und Aaron, ihr erkundigt euch nach einer Schifffahrtsgelegenheit nach Syrakus. Wir wollen möglichst bald reisen und werden außer einem Pferd, einem Eselskarren und uns nur wenig Gepäck haben.«
»Und was soll ich machen?«, Lilly hatte beinahe das Gefühl, er hätte sie vergessen.
»Ach ja, du Lilly ... du ... gewöhnst dieser Töle das Kläffen ab und ansonsten siehst du zu, dass deine neuen Kollegen alles richtig machen«, war seine Antwort. »So, hat noch jemand irgendwelche Fragen?«
»Ja. Was machst du, Herr?«, wollte die Chinesin wissen.
»Ich? Nichts. Ich werde doch nicht arbeiten, wo ich euch habe«, war die logische Antwort von Nestor Nigglepot. Dann nahm er sich ein Fladenbrot und einen gebratenen Fisch, goss sich Wasser in seinen Becher und sagte in die Runde: »Greift ruhig zu!«
Lakis hatte ein reichhaltiges Mahl für sechs Personen aufgetischt und Arf – unter Protest – einen alten Knochen unter den Tisch geworfen. Damit war der Hund bestens beschäftigt und vergaß das Kläffen.
»Was wollt ihr denn in Syrakus, Herr?«, interessierte sich Judith für das Reiseziel.
»Wir wollen einen Freund besuchen«, antwortete Lilly, weil Nestor den Mund voll hatte.
»Und wenn ihr das gemacht habt?«, fragte nun Aaron.
»Dann reisen wir wieder zurück«, sagt das chinesische Mädchen.
»Wo ist denn dieses Zurück? Hier in Catania?«
»Nein, nein ...«, Lilly musste kurz überlegen und sagte dann: »Auf Korfu. Wir kommen von Korfu.«
»Gibt es da keine Sklaven zu kaufen?«, hakte Aaron nach.
»Doch schon ...«, es hatte etwas von einem Verhör und Lilly wunderte sich, dass Nestor nicht das Wort ergriff, sondern sie reden ließ. Scheinbar wollte er sehen, wie gut sie improvisieren konnte. »Aber, die Auswahl ist nicht so groß und die Qualität lässt doch zu wünschen übrig.«
Aaron sah sie misstrauisch an und sagte dann: »Sind auf Korfu alle Mädchen gelb?«
»Nee, nur ich! Und ich bin auch gar nicht von Korfu, sondern aus China!«
»China? Ist das auf dem Festland oder auch eine Insel?« Der Junge ließ nicht locker.
»Auf dem Festland«, sagte sie und fühlte sich unwohl.
»Davon habe ich aber noch nie gehört«, mischte sich Roxanna ein, »und ich kenne das Mittelmeer ganz gut.«
»Ja, weil ...«, Lilly erinnerte sich an Sofias Worte, »... das ja auch gar nicht am Mittelmeer liegt, sondern am östlichen Meer, sogar noch hinter Ägypten!«
Sie erntete anerkennende Blicke. Das östliche Meer war weit weg, das wussten sie alle und der Perser ergriff das Wort.
»Aber vom Fluss Indus kommst du nicht. Selbst dort sehen die Menschen nicht sehr viel anders aus als ich.«
»Nein, vom Indus komme ich auch nicht.« Sie fühlte sich immer noch unwohl.
»Oder kommst du sogar von hinter dem großen Gebirge?«
»Stimmt! Richtig geraten!« Ihr fiel ein Stein vom Herzen. »Ich komme von hinter dem großen Gebirge.« Das war noch nichtmal gelogen. Zwischen Syrakus und China lagen Indien, mit dem Indus und der Himalaya, das große Gebirge.
»Und wie bist du hier hergekommen?«, wollte nun wieder Judith wissen. Und Lilly fing an sich mit ihrer gespielten Figur anzufreunden.
»Ach, das Übliche. Das Schiff mit dem meine Eltern und ich unterwegs waren, wurde von Piraten aufgegriffen und ich wurde in Ägypten auf dem Sklavenmarkt verkauft. Ganz einfach.«
»Wird denn in China auch Griechisch gesprochen?«
»Um Gottes Willen, nein! Dort wird natürlich Chinesisch gesprochen.«
»Welchen Gott meinst du?«, hakte Aaron wieder nach.
»Ach, such dir einen aus!« Diese Frage traf Lilly völlig unvorbereitet.
»Ich darf mir keinen aussuchen, aber du vielleicht. Die Griechen haben ja jede Menge Götter ... und die Chinesen?«
»Hui ... eigentlich glaube ich an gar keinen Gott.«
Alle starrten sie fassungslos an und Nestor kicherte leise, aber schadenfroh.
»Das geht ja gar nicht! Man kann nicht nicht an einen Gott glauben. Los such du dir einen aus«, beharrte Darian.
»Nein, denn ich will an keinen Gott glauben! Ich habe das nicht gelernt und bisher auch nicht vermisst.«
»Herr! Ihr müsst ihr sagen, dass sie an einen Gott glauben muss, meinetwegen auch an den der Hebräer. Aber ohne geht’s doch nun wirklich nicht. Ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der nicht an einen Gott glauben wollte.« Roxanna war sichtlich erschüttert.
»Darum kümmere ich mich nicht«, antwortete Nestor, zuckte gelassen mit den Schultern und aß genüsslich weiter. Lilly sah ihn ziemlich böse an.
»Es ist doch meine Sache, was ich glaube und was nicht!«
»Nein, das ist es nicht unbedingt! Wenn wir gemeinsam auf Reisen gehen, und du keinen Gott um Hilfe und Unterstützung anrufen kannst, dann steht unser Unternehmen unter einem schlechten Stern. Das bringt Unglück und wenn unser Schiff untergeht oder wir überfallen werden, bist du schuld«, versuchte der Perser zu erklären.
Für Lilly war es zum Verzweifeln, denn in Nestors Bibliothek hatte sie natürlich über viele Religionen gelesen und festgestellt, dass der Glaube an einen Gott für sie nicht das Richtige war. Sie freute sich für andere, denen ihr Götterglaube Kraft und Hoffnung gab, aber sie war Kung-Fu-Kämpferin.
Kung-Fu bezieht seine Kraft aus der Konzentration auf das Wesentliche. Kung-Fu ist Buddhismus und diese Religion kommt ganz gut auch ohne allmächtige Götter aus. Aber dann kam ihr die rettende Lösung in den Sinn.
»Dort wo ich her komme, dürfen die Menschen glauben, was sie wollen. Die einen glauben an einen Gott und andere nicht. Ich glaube zwar nicht an einen Gott, aber ich verehre meine Ahnen, bitte sie um Rat, Hilfe und Kraft.«
»Puh!«, schnaufte Darian durch.
»Und ich hatte schon Sorge, du hättest auch etwas von diesem unmöglichen Sokrates gehört und wärest seine Anhängerin«, entspannte sich auch Roxanna.
»Wer ist denn jetzt dieser Sokrates?«, fragte Aaron.
»Ein Wichtigtuer, der ganz Athen mit seinen Fragen genervt hat und am Ende völlig zurecht hingerichtet wurde, weil er der Jugend nur Flausen in den Kopf gesetzt hat und sie vom rechten Glauben abbringen wollte«, war Roxannas Antwort.
»Und was soll der rechte Glaube deiner Meinung nach sein?«, fragte Darian.
»Das die Götter Zeus, Athene, Poseidon und alle anderen das Schicksal der Menschen bestimmen. Mich haben sie zu einer Sklavin gemacht und unseren Herrn Nestor, zum Beispiel, zu einem Gebieter. Habe ich recht, Herr?«
»Kann sein ... ich glaube nur, dass die Götter an mich glauben!«, antwortete Nestor gespielt gelangweilt, aber echt eingebildet.
»Gewiss, Herr! Da hört ihr es!« Roxanna war zwar auf dem Holzweg, glaubte aber was sie hören wollte.
»Es gibt aber nur einen Gott!«, mischte sich Judith nun auch noch ein.
»Ganz genau ... Mithra – der Sonnengott! Er ist groß und mächtig, er steht für das Recht und beschützt diejenigen, die gerecht sind«, sagte Darian.
»Falsch! Das tut Jahwe und das ist überhaupt der einzige Gott. Er beschützt diejenigen die Rechtes tun und bestraft alle, die gegen sein Wort verstoßen«, konterte Judith.
»Zeus und die Seinen haben immerhin die Giganten besiegt und sind so was von mächtig, da fällt eurem Jahwe und deinem Mithras aber nichts mehr zu ein«, widersprach nun Roxanna.
Es entstand ein ewig hin und her wechselndes Streitgespräch unter den Sklaven und jeder beharrte auf seinem Standpunkt. Richtig böse wurde keiner, nur einig wurden sie sich nicht und als Lilly genug davon hatte, sprach sie einfach dazwischen.
»Meine Großeltern haben meine Eltern erzogen und satt gemacht. Meine Eltern haben mich erzogen und satt gemacht ... so lange sie konnten. Darum verehre ich meine Großeltern und meine Eltern«, sagte Lilly leise.
Und alle anderen waren still.