Читать книгу NESTOR - Stefan Högn - Страница 12
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388 v. Chr.
Als Lilly und Nestor die Maschine verließen, traten sie in eine dunkle, aber geräumige Höhle und es war kühl. Die beiden unterhielten sich flüsternd. Die Zeitmaschine strahlte genug blaues Licht aus, sodass sie sich gut orientieren konnten.
»Wieso hat Rául Bis gleich gesagt?«
»Wenn alles gut läuft, und wir wieder in unsere Heimatzeit zurückkehren, treten wir – zumindest für Rául – im allernächsten Moment wieder aus der Maschine heraus.«
»Ob ich das mit diesen Zeitphänomenen wohl irgendwann komplett begreifen werde, Nestor Nigglepot?«
»Ganz bestimmt! Du übst ja noch«, sagte Nestor. »Aber wir sollten uns von jetzt an nur noch auf Altgriechisch unterhalten«
»Ach ja! Du hast Recht, Nestor von Korfu!«
Und fortan sprachen die beiden sehr lebendig eine tote Sprache.
Ihre erste Aufgabe war es, die Höhle nach Spuren von Menschen oder wilden Tieren zu untersuchen, aber sie fanden keine. Sofia hatte das Versteck für die Zeitmaschine gut gewählt. Nestor schloss den Energiekristall an die Maschine an, tippte wieder an dem Pult herum. Die Maschine hörte auf zu Summen und leuchtete nur noch ganz schwach.
»Stand-by, spart Strom!«, sagte er zu Lilly und suchte dann den Ausgang, der ein bisschen versteckt hinter drei Felsvorsprüngen, aber auf gleicher Höhe lag. Sie trugen schweres Gepäck, denn die beiden mussten die ganzen Münzen in robusten Lederbeuteln schleppen. Außerdem hatte der Butler ihnen einen typischen Schlauch Wasser und einen Beutel mit Fladenbrot und Dörrfleisch mitgegeben.
Als sie den Höhlenausgang erreichten, schlug ihnen die sengende Sommerhitze Siziliens entgegen.
»Hui! Damit hab’ ich aber nicht gerechnet!«, sagte Lilly und atmete tief durch den Mund.
»Tja, bei uns wird es langsam Winter. Wir hätten an Sonnenhüte denken sollen«, sagte Nestor und ergänzte: »Sonnenmilch wird es hier wohl nicht zu kaufen geben.«
»Sonnenmilch?«, fragte Lilly, denn die gab es in ihrer Heimatzeit 1921 auch noch nicht.
»Die schützt gegen Sonnenbrand.«
»Dann gehen wir halt im Schatten«, bemerkte Lilly.
»Siehst du hier irgendwo Schatten?«
In der Tat war hier wenig Schatten. Die Landschaft war geprägt vom nahegelegenen Ätna, leicht hügelig und außer zahlreichen dornigen Büschen und ein bisschen grünem Gras hier und da, war die Landschaft verdorrt. Selten sahen sie ein paar spärliche Olivenbäume.
Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, war es Vormittag und weit und breit keine Spur eines Weges oder einer Straße zu sehen. Nicht einmal ein Trampelpfad oder ein Wildwechsel ließ darauf deuten, dass in dieser Gegend viel los gewesen wäre.
»In welche Richtung sollen wir gehen?«
»Das haben wir gleich!« Nestor wühlte in seinem Beutel herum und kramte ein kleines Gerät von der Größe eines Mobiltelefons heraus, strich mit seinen Fingern ein paar mal darauf herum und sagte dann: »Da lang!«
Er zeigte nach Südosten, talwärts, und ging los. Das Mädchen folgte ihm hastig und schielte hinter ihm auf das Gerät.
»Was ist denn das für ein Ding?«, wollte Lilly wissen.
»Ach, nichts ... nur ein kleines Spielzeug!«
»Aber Sofia hat nicht gesagt, dass wir das mitnehmen sollen!«, stellte das Mädchen altklug fest.
»Weil sie sich immer Sorgen macht, durch moderne Technologie könnte der Zeitablauf zu sehr verändert werden.«
»Und dir ist das völlig egal?« Lilly konnte es nicht glauben.
»Ich pfeif drauf!«
»Aber sie hat doch recht!«, beharrte das Mädchen.
»Wo fängt moderne Technologie denn für dich an, Lilly?«
»Zum Beispiel damit!« Sie langte nach dem Teil, das Nestor noch immer in der Hand hielt, ihr aber nicht geben wollte.
»Schnickschnack! Wie sollen wir deinen Platon denn finden, wenn wir nicht mal wissen, wo wir lang müssen?« Nestor war sich seiner Sache sehr sicher.
»Aber, wenn das Ding den Menschen hier in die Hände fällt?«
»Können sie es nicht bedienen, weil ihnen die Schrift darauf unbekannt wäre! Es wäre für sie nur ein buntes Kästchen.«
»Na gut, Nestor von Korfu, du hast mich überzeugt.«
»Das war mir klar!«, kam es überheblich zurück, aber Nestor freute sich, das es dieses mal so schnell ging.
»Zeig’ mir das Ding doch mal, bitte!«
Nestor reichte ihr das Gerät nach hinten, denn er ging vor, immer darauf bedacht auf dem Pfad. den er sich selber suchen musste, nicht umzuknicken oder zu stolpern. Das Mädchen war, obwohl barfuß, erheblich trittsicherer als er.
Sie schaute sich das Teil an, wischte mit ihrem Zeigefinger darauf herum und es erschienen auch für sie nur unbekannte Schriftzeichen, die aber Ähnlichkeit mit den Türsymbolen im Geheimtrakt von Seldom House hatten.
»Hat das Ding auch einen Namen?«, fragte Lilly Foo.
»Das Ding ist ein Atalandor. Er kann wie ein Kompass arbeiten, rechnen, ist ein Lexikon, kann Krankheiten erkennen, im Bedarfsfall übersetzen und noch so einiges mehr. Sehr praktisch!«
»Wenn man einen Atalandor denn bedienen kann.«
»Was allerdings sehr kompliziert ist. Die Schrift und die Sprache des Geräts sind extrem schwierig zu lernen, die Mühe solltest du dir gar nicht erst machen.«
Lilly wusste, das Nestor ein Schaumschläger war, aber manchmal fand sie ihn sogar witzig.
»Auch wenn man ein Didaktafon zum Lernen benutzt?«
»Dann geht es etwas leichter... aber auch nur etwas.«
»Ja, ja ...« Lilly gab ihm den Atalandor zurück.
Sie erreichten einen kleinen Bach und Nestor folgte dem Gewässer in Fließrichtung.
»Es kann nicht mehr weit sein, bis wir die ersten Spuren menschlicher Zivilisation entdecken, sieh dich also vor«, sagte Nigglepot, der immer noch übervorsichtig führte.
»Soll ich vielleicht mal vorgehen? Wenn du hier weiter so rumeumelst, kommen wir nämlich nirgendwo an, bevor wir verbrennen!«, sagte Lilly und überholte Nestor flink.
»Hey, Moment mal!«, stutze er und gab sich Mühe den Anschluss nicht zu verlieren. »Das Wort Eumeln gibt es überhaupt nicht im Altgriechischen!«
»Jetzt schon!«
»Na, das kann ja heiter werden«, wollte er sagen und tat es natürlich auch.
Obwohl Lilly die Hauptlast des Gepäcks trug, allein deshalb, damit sie als Sklavin und Nestor als Herr nicht ungewöhnlich auffielen, legte das Mädchen ein erstaunliches Tempo vor. Erstens war sie viel jünger, zweitens hatte sie eine hervorragende Kung-Fu-Ausbildung genossen, die ihr eine hohe körperliche Sicherheit verlieh, und drittens hatte sie es ganz einfach eilig.
Hier gab es nichts zu sehen, nichts zu lernen und nichts zu erleben, und wenn sie das schwere Gepäck schnell loswerden wollte, mussten sie zeitig den Sklavenmarkt von Catania erreichen. Die neuen Kollegen würden ihr dann tragen helfen. So einfach war ihr Plan. Und Nestor Nigglepot musste ihr folgen, ob er wollte oder nicht. Auch seine plumpen Versuche das Tempo zu drosseln, scheiterten fast alle kläglich.
»Oh! Sieh mal, da ist eine Eidechse!«, zum Beispiel, wurde mit: »Davon gibt es hier hunderte!«, quittiert.
Als die ersten Ziegen in der Landschaft auftauchten verlangsamte Lilly ihren Schritt etwas, denn das deutete in der Tat auf eine nahegelegene Menschensiedlung hin.
»Können wir jetzt mal Pause machen?« Nestor schien tatsächlich erschöpft zu sein. »Ich kann bei dieser Hitze nicht so lang stramm marschieren wie du!«
»Na, gut ... dann machen wir halt eine Pause«, sagte das Mädchen, denn auch sie spürte langsam die Anstrengung. Also suchten sie in einem kleinen Olivenhain Schatten.
Schwer atmend setzte sich Nestor Nigglepot auf einen Stein und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Den Wasserschlauch, bitte!«, war das Einzige was er sagte, dann trank er bis sein Durst gestillt war.
Lilly biss in das Dörrfleisch, spuckte es aber sofort angewidert wieder aus. »Bah!«
»Gib mal her.« Er nahm einen Bissen und der schien ihm zu schmecken. »Was hast du denn?«
»Das Zeug ist total versalzen! Davon bekommt man doch noch mehr Durst.« Lilly bevorzugte das Fladenbrot.
»Ach was! Das schmeckt so ähnlich wie gegrillte Bücklinge!«
»Aber das Wasser wird gerecht geteilt!« Darauf bestand Lilly vehement.
»Nöö!«, entgegnete Nigglepot gelangweilt.
»Aber der Wasserschlauch ist irgendwann auch mal leer!«
»Und was ist mit diesem hübschen, kleinen, sprudelnden Bach dort?« Er zeigt auf den Bachlauf, dem sie schon seit dem Verlassen der Höhle gefolgt waren.
Manchmal war Nestor Nigglepot allerdings wirklich zu gebrauchen. Lilly stand auf und kostete aus der hohlen Hand das Wasser. Es schmeckte muffig durch den Schwefel des nahen Vulkans, war aber genießbar, kühl und herrlich erfrischend.
Sie stellte sich mit den Füßen in den Bach, bis die Haut anfing zu kribbeln. Dann schüttelte sie sich kurz, schnappte den Wasserschlauch und füllte ihn wieder auf.
»Dann können wir ja jetzt weiter!«
»Das war doch keine Pause!« Nestor packte hastig seine Sachen und grunzte: »Das war maximal ein Päuschen!«
Das Gelände wurde immer flacher. Die zahlreichen Baumstümpfe zeigten, dass hier ganze Wälder gerodet worden waren und es dauerte nicht lange, bis Lilly und Nestor auf einen einigermaßen befestigten, zumindest aber ausgetretenen Pfad stießen. Sie folgten diesem Weg, bis er sie hinter einem letzten Hügel zu einem Dorf führte.
Lilly schaute Nestor fragend an.
»Ja, meine Liebe, es wird ernst. Wenn du nicht weißt, was du sagen sollst, halt einfach deinen Mund.«
»Wie nett von dir, Nestor von Korfu!«
Es war mittlerweile Nachmittag geworden und noch heißer, als bei ihrer Ankunft. Um nicht aufzufallen, gingen sie zügig auf die wenigen Häuser zu. Sie waren schmucklos und grob gemauert, niedrig und mit flachen Dächern versehen. Die wenigen Fenster waren mit Holzläden verschlossen. Stimmen oder Geräusche waren nicht zu hören.
»Meinst du, das Dorf ist verlassen?« fragte Lilly.
»Quatsch! Die machen Siesta, nur Verrückte marschieren bei dieser Hitze um ihr Leben.«
Sie erreichten das erste Gebäude und Nestor ging völlig selbstverständlich auf die Türe zu und klopfte laut an, eine Antwort kam aber nicht.
»Vielleicht ist das Dorf doch verlassen«, sagte das Mädchen.
»Ich versuch’s nochmal!« Diesmal klopfte er so stark, dass die schlecht gezimmerte Tür in ihren Angeln wackelte.
»Verdammt und zugenäht!«, rief es von drinnen und scheinbar bemühte sich jemand stöhnend zur Tür, die sich ruckartig nach innen öffnete.
»Was willst du?«, krächzte ein altes Mütterchen, das Mühe hatte gegen das blendende Sonnenlicht die Besucher zu erkennen. Sie blinzelte, hielt sich dann die flache Hand als Sonnenschutz an die Stirn und fuhr sofort zusammen.
»Verzeiht, Herr!«, flehte die alte Frau. »Ich dachte, ihr wäret mein verrückter Schwager. Der hat mich heute schon zigmal aufgescheucht.«
»Du täuschst dich, Weib!«, sagte Nestor mit einer für Lilly völlig unerwarteten Souveränität. »Wir werden dich nur dieses eine Mal aufscheuchen, denn wir benötigen Hüte, um uns gegen die Sonne zu schützen.«
»Hüte, Herr?« Die Omi starrte ihn ungläubig an.
»Ja, Hüte! Die Sonne brennt und wir haben noch einen weiten Weg vor uns.«
»Sieht das hier etwa wie ein Hutladen aus? Wo wollt ihr denn überhaupt hin?«, krächzte die Frau.
»Gute Frau, wir bekommen einen Sonnenstich, wenn wir uns nicht schützen. Als wir uns auf den Weg machten, war das Wetter schlecht, darum haben wir unsere Hüte vergessen. Wollt ihr uns nicht helfen?«, mischte sich Lilly ein, fest davon überzeugt, dass Freundlichkeit immer weiterhilft.
»Das Wetter war schlecht, als ihr aufgebrochen seid? Wann soll denn das gewesen sein, im Winter? Hier scheint immer die Sonne!« Die alte Frau misstraute den Wanderern.
»Wir kommen von weit her, Mütterchen! Und nun mach hin und bummle nicht, wir sind in Eile. Es soll dein Schaden nicht sein!«
Die Frau tat einen Schritt vor die Tür und brüllte so laut sie konnte: »Perikles!«, dann wandte sie sich wieder Nestor Nigglepot zu: »Es dauert nur einen Moment, Herr!«
Ihr Lächeln offenbarte zahlreiche Lücken im Gebiss.
»Peeeeerikles!«, schrie sie wieder, lächelte und brüllte dann: »Beeil dich, du fauler Sack!«
»Wer ist Perikles?«, wollte Lilly wissen.
»Mein Schwager.«, antwortete die alte Frau, ohne das Mädchen auch nur anzusehen, stattdessen lächelte sie mit schrägem Kopf, hin und wieder freundlich nickend, Nestor an – und zwar so lange bis Perikles endlich auftauchte.
Nestor betrachtete die Frau immer wieder mal beiläufig und tat was er am besten konnte: hochnäsig wirken.
Als Perikles endlich auftauchte schienen alle aufzuatmen.
»Gib dem Herrn da deinen Hut!« befahl die Alte.
»Warum?«, wollte Perikles wissen.
»Weil ich es sage. Basta!«
»Verrücktes Weib«, grummelte Perikles, gab Nestor seinen Hut und starrte die Zeitreisenden mit offenem Mund an.
»Und jetzt verzieh dich wieder oder gibt es hier was zu glotzen?«, fuhr seine Schwägerin ihn erneut an.
»Schon gut, reg dich wieder ab!« Und Perikles machte kehrt und drehte sich auf seinem Rückweg noch mehrmals gaffend zu den merkwürdigen Besuchern um.
»Einen Obolos, bitte, Herr!« sie hielt die Hand auf.
»Lilly ...«, sagte Nestor, um ihr zu bedeuten, dass sie die alte Frau bezahlen möge.
»Ja ... und was ist mit einem Hut für mich?«, war Lillys Deutung der Situation.
»Das gelbe Kind soll auch einen Hut bekommen?«, fragte die Alte völlig überrascht.
»Ja, Weib!« Nestor schlug einen Befehlston an.
»Sehr wohl, Herr!« sie verbeugte sich, spuckte Lilly vor die Füße und verschwand leise fluchend im Haus und kehrte wenig später mit einem weiteren Hut in der Hand zurück.
»Ich habe aber nur den einen! Der ist teurer als der andere.«
»Wie viel?«, fragte Lilly trocken.
»Zusammen vier Oboloi!«
Lilly wühlte in einem Geldsack und gab ihr irgendeine kleine Münze, weil sie nicht wusste, wie ein Obolos aussah.
»Habt ihr es nicht passend?«
»Stimmt so, der Rest ist für Dich!«, sagte Nestor.
»Danke, Herr! Habt vielen Dank! Mögen die Götter euren Weg beschützen!« Sie macht zahlreiche Verbeugungen.
»Sag Mütterchen, wie weit ist es noch bis Catania?«
»Ach, ihr seid jung! Vielleicht drei oder vier Stunden, ihr werdet schnell da sein!« Dann bedankte sie sich wieder wortreich und verbeugte sich, bis sie außer Sichtweite waren.
»Ich glaube, die mochte mich nicht«, sagte Lilly, als sie ihren müffelnden Hut aufsetzte.
»Sie hat Angst vor dir«, erklärte Nestor.
Auf ihrem Weg durchs Dorf tauchten jetzt verstohlen blickende Augen in verschiedenen Fenstern auf, die betrachteten, was sich dort abgespielt hatte.
»Wir sind in einem Dorf im Jahr 388 v. Chr., die Menschen hier haben Angst vor Sachen, die sie nicht kennen. Und kleine gelbe Mädchen mit Schlitzaugen könnten schließlich auch Dämonen sein«, fuhr Nestor fort.
»Ich glaube, die Omi gerade war ein Dämon. So ein böses Biest!« Lilly verzog den Mund und Nestor musste lachen.
Die Gegend wurde immer urbarer. Getreidefelder tauchten auf, Hirten saßen dösend im Olivenschatten und ab und zu ergänzten Weinfelder die Landschaft. Sie erreichten eine Straße, der sie weiter folgten. Hin und wieder überholte sie ein Reiter. Die wenigen Eselskarren waren langsamer als Nestor und Lilly. Ansonsten war wenig Betriebsamkeit zu spüren, bis es langsam dunkel wurde und sich am Horizont das glitzernde Mittelmeer und Häuser einer Stadt mit beleuchteten Fenstern zeigten.
»Wir müssen uns eine Herberge suchen. Ich bin müde!«, sagte Nestor.
»Ich auch.« Lillys Feuereifer zu Beginn der Wanderung war inzwischen verflogen.