Читать книгу NESTOR - Stefan Högn - Страница 7
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Reisevorbereitungen
Nestor Nigglepot, Rául und Lilly trafen sich zum Tee im Weißen Salon. Bald zeigte sich auch, wofür dieser riesige Bildschirm gut war, von dem Lilly anfangs dachte, er wäre nur ein großes graues Bild gewesen. Kaum hatten alle drei Platz genommen, fragte der Hausherr: »Können wir loslegen?«
»Womit?«, wollte das Mädchen wissen. »Wir müssen klären, wer welche Aufgaben zu erledigen hat. Eine Zeitreise ist schon ein bisschen komplizierter als ein Wochenendausflug ins Grüne, meine Liebe«, fuhr er fort und klang so besserwisserisch wie immer.
»Sofia hat das Dossier fertig, Sir«, sagte Rául.
»Na dann, auf den Schirm damit!« Nigglepot verschränkte souverän seine Arme hinter dem Kopf und sein Sessel glitt bequem nach hinten, als er sich zum Bildschirm umdrehte. »Also, bitte!«
Eine Idee später ging der Monitor an und Sofia tauchte auf. Diesmal aber nicht als blaue Lichtwolke und nur halb, sondern ganz und in Farbe. Hinter ihr war eine riesige Landkarte des Mittelmeers zu sehen.
»Guten Morgen zusammen!«, war ihre Begrüßung. Sie tat so, als könne sie in die Teetassen blicken und schnupperte. »Darjeeling? Wie kommt das denn, mein lieber Nestor? Haben wir etwa keinen Yin Zhen von 1921 mehr im Haus?«
Nestor schaute sie pikiert an, sagte aber nichts.
»Na gut, dann will ich mal. Euer Platon wurde nach heutiger Zeitrechnung im Jahr 427 v. Chr. geboren, also vor circa 2.500 Jahren. Und damit fangen eure Probleme auch schon an.«
»Probleme? Lächerlich!« Vor Lilly wollte Nigglepot sich doch keine Blöße geben.
»Du wirst schon sehen, was ich meine, Nestor!« Sofia ließ sich nicht beirren. »Diesmal wird es nicht so leicht, wie kürzlich in Hongkong.«
»Pfff …«, war seine Antwort, und jeder wusste, das diese Reise ein Debakel war.
»Also … euer größtes Problem heißt Lilly.« Sofia lächelte das Mädchen fürsorglich an.
»Aber, aber … warum denn das?« Das Mädchen fiel aus allen Wolken.
»Chinesische Menschen waren zu dieser Zeit in Griechenland ausgesprochen selten. Du wirst also auffallen wie – entschuldige – ein bunter Hund. Aber ich habe eine Idee, wie du trotzdem, erklärbar in dieser Zeit auftauchen kannst …«
Alle starrten gebannt auf den Bildschirm.
»Du, liebe Lilly, wirst als Dienerin von Nestor Nigglepot auftreten müssen, also genau genommen als Sklavin«, ergänzte der Zentralcomputer etwas kleinlaut.
»Ich bin doch nicht verrückt!«, platze es aus Lilly heraus.
»Ach was, halb so wild! Menschen mit meiner Ausstrahlung haben sowieso immer ein aufschauendes Gefolge.«
»Aber natürlich, Sir«, sagte Rául.
»Sofia! Das kann nicht klappen. Dafür bin ich zu frech!«
»Ja, sie hat recht, Sofia! Dieses Mädchen weiß immer alles besser und glaubt mir nicht«, unterstütze Nestor Nigglepot das Mädchen völlig unerwartet.
Die Chinesin sah ihn beleidigt an.
»Jetzt stellt euch nicht so an, ihr beiden!« Der Zentralcomputer ließ sich nicht abbringen. »Die meisten Sklaven zu jener Zeit hatten ein eher freundliches Verhältnis zu ihrer Herrschaft. Viele hatten Familienanschluss und der Besitzer musste für Nahrung und Unterkunft sorgen. Gute Sklaven mehrten den Ruhm ihres Herren. Das würde gut zu dir passen, Lilly!«
»Na, großartig!« Nestor Nigglepot verdrehte die Augen.
»Im Prinzip könntet ihr ja los, wann immer ihr wollt, aber ich würde empfehlen, dass ihr einen Zeitvektor innerhalb der nächsten fünf Tage wählt. Darum muss Lilly noch Altgriechisch und am besten auch Phönizisch lernen«, erläuterte Sofia sachlich.
»Diesmal mit dem Didaktafon?«, fragte Rául.
»Würde ich vorschlagen, sonst dauert es wohl doch zu lange«, sagte Sofia und wandte sich dann zu Nestor: »Du brauchst keine Auffrischung?«
»Sofia … bitte!«, Nestor schaute sie kopfschüttelnd an.
»Ihr werdet euch in den gehobenen Kreisen der griechischen Gesellschaft bewegen, ich würde dir raten, mit mir nochmal ein paar Stunden zu trainieren.« Sie ließ nicht locker.
»In Ordnung …«, antwortete Nigglepot genervt.
»Ich habe als Zeitziel das Jahr 388 v. Chr. ausgewählt. Zu dieser Zeit könnt ihr Platon in der griechischen Stadt Syrakus auf der Insel Sizilien treffen«, erläuterte Sofia. »Vorsichtig müsst ihr in jedem Fall sein, aber erschwerend kommt hinzu, dass sich Platon mit dem dortigen Herrscher überworfen hatte.«
»Gibt es denn keine bessere Möglichkeit Platon zu treffen?«, wollte Lilly wissen.
»Du kannst Sofia auch in solchen Dingen vertrauen«, sagte der Butler.
»Na ja, aber über die Sache mit Hongkong müssen wir nochmal reden«, Nestor war offensichtlich anderer Meinung.
»Gerne, mein Freund! Hattest du nicht morgens festgestellt, dass dein Tee zur Neige geht? Und wolltest du nicht nachmittags wieder zurück sein?« Sofia sah Nigglepot fragend an.
»Gut, dann haben wir das ja auch geklärt!«, war die prompte Antwort und Nestor sagte anschließend zu Rául: »Du kümmerst dich darum, dass Lilly ihre Vokabeln übt, klärst den Rest mit Sofia und ich muss mal eben weg. Bis später dann!«
Er stand auf und verließ den Raum.
»Sofia! War das nötig?«, fragte Rául.
»Das tut ihm manchmal ganz gut«, war die Antwort. »Lilly, unser Nestor muss hin und wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt werden. Das ist eine deiner vielen Aufgaben – nicht nur in der Vergangenheit.«
»Ich vermute«, gab die Chinesin zurück.
Sofia ging noch eine gute halbe Stunde auf verschiedene Dinge ein, zeigte Abbildungen von Gegenständen, Fotos von Statuen und Münzen die man mit einer blauen Lichtwolke nur schlecht hätte sichtbar machen können. Darum saßen sie im Weißen Salon. Und Rául nickte fleißig, während Lilly das Gehörte und Gesehene erstmal verarbeiten musste. Schließlich war dies in der Tat keine Reise, die man im Reisebüro buchen konnte.
Lillys Gedanken schweiften ab, denn sie hatte erst jetzt begriffen, dass Rául wohl gar nicht mitreisen würde, und das gefiel ihr nicht. Sie mochte den alten Herrn und er mochte sie. Warum wollte er also nicht mitkommen? Als auch sie und der Butler den Weißen Salon verließen, fragte sie ihn: »Rául, habe ich das richtig verstanden, dass sie hier bleiben?«
»Selbstverständlich, Lilly!«
»Ich finde das aber gar nicht so selbstverständlich. Ich dachte sie kommen mit.«
»Ach … das tu ich schon seit vielen Jahren nicht mehr.«
»Fühlen sie sich zu alt für Zeitreisen?«
»Das nicht, aber irgendwer muss auf Seldom House aufpassen und, wie bei der Hongkong-Reise, unter Umständen schnell eingreifen!«
»Stimmt, da ist was in die Hose gegangen!«
»Ach, kommt darauf an. Immerhin hat es dich hergeführt«, antwortete der Butler. »Aber, es kann immer etwas Unvorhergesehenes passieren, auch hier an diesem Ort und in dieser Zeit. Viele Menschen denken, dass hier etwas geschieht, was sie nicht verstehen – und wie sollten sie auch? Nestor Nigglepot hat viele Neider und selbst die, die nicht neidisch sind, wollen ihm selten etwas Gutes. Stattdessen muss er sich das Wohlwollen seiner Mitmenschen durch Spenden und Gefälligkeiten erkaufen. Das war schon immer so.«
»Ist er deshalb so eingebildet?«
»Möglich«, sagte Rául, »… aber eigentlich darf ich dir das alles gar nicht sagen.«
»Ich werde sie nicht verraten«, lachte Lilly den Butler an.
»Da bin ich aber erleichtert. Komm, wir müssen nach London. Reisekleidung für dich einkaufen.«
Als sie in das Auto stiegen, ein Bugatti Typ 41 aus dem Jahr 1927, wurde Lilly bewusst, dass sie in der ganzen Zeit, die sie schon bei Nestor und Rául war, noch nicht ein einziges Mal das Anwesen verlassen hatte. Alles was sie bisher brauchte, gab es hier oder wurde vom Butler besorgt. Selbst ihr billiger Kung-Fu-Anzug war längst durch ein paar hochwertige neue ersetzt worden, weil sie darauf bestand, ausschließlich diese Art von Kleidung zu tragen. Aber für eine Reise ins alte Griechenland würden die Dinger nicht taugen.
Sie hatte aber auch nie das Bedürfnis gehabt, das Haus oder den Park mit seinem wunderbaren Garten zu verlassen. In Hongkong hatte sie nie genug Platz. Das Bett musste sie mit einem anderen Mädchen teilen, die Straßen waren eng und überall waren Menschen, die danach hetzten entweder reich oder satt zu werden. In Hongkong war nirgendwo Freiraum gewesen. Sie hatte wenig Zeit und niemand, der sich um sie kümmerte.
Bei Nestor Nigglepot war alles anders. Hier war Platz, hier war Zeit und Rául war immer für sie da – wenn sie wollte. Sie konnte Kung-Fu in der Sporthalle üben, sie konnte lesen, was und wann sie wollte. Wie hätte sie darauf kommen sollen, dass es um sie herum noch eine Welt gab?
Sie verließen das Grundstück und Lilly schaute während der ganzen Fahrt aus dem Fenster, ohne etwas zu sagen. Sie kannte Engländer aus Hongkong und sie kannte Autos. Das, in dem sie selber saß, wäre in Hongkong wohl als teurer Schlitten aufgefallen, mehr aber auch nicht. Aber dieses Fahrzeug wurde von den Menschen angestarrt. Und Lilly starrte die Menschen an, die das Auto anglotzten.
Das war nicht die Sorte Engländer, die sie kannte. Die Kleidung war fremd und ihr Verhalten war fremd. Als sie auf die Autobahn kamen, stellte Lilly zuerst mit Entsetzen, später mit kribbelnder Freude fest, mit welch einer Höllengeschwindigkeit sie selber und die anderen Autos daher rasten. Die Häuser waren anders, am Himmel flogen riesige Flugzeuge, die nur zwei Tragflächen hatten, überall säumten bunte und blinkende Werbebotschaften die Straße: für Essen, für Autos, für Computer, für Versicherungen (wofür auch immer die gut sein sollten) und sogar für Unterwäsche.
Als sie London erreichten, wusste Lilly genau, dass sie tatsächlich mit Nestor Nigglepot in die Zukunft gereist war. Auf dem Anwesen allein hätte alles Sonderbare Zauberei oder sonst was sein können und vielleicht war es das ja auch, aber hier in dieser Stadt, mit Millionen Menschen, die entweder durch die Gegend hetzten oder fotografierten, war völlig klar, dass sie in einer anderen Zeit gelandet war. Aber glücklicher, als die Menschen in ihrem Hongkong, sahen diese hier nicht aus.
Vielleicht waren sie gesünder und reicher, aber sie hatten ganz eindeutig weniger Zeit als früher. Sie dankte Rául in Gedanken, dass er es bisher komplett vermieden hatte, sie auf die Welt außerhalb von Seldom House aufmerksam zu machen. Lilly Foo war geschockt.
Rául steuerte die lange Limousine gekonnt durch die engen Straßen von London und fuhr dann in eine noch schmaler gebaute Tiefgarage. Beide stiegen aus und gingen zum Aufzug, der sie wieder nach oben brachte.
Als sie die Straße betraten, sagte Rául zu Lilly: »Ich mag diese große, volle und hektische Stadt auch nicht besonders.«
Er hatte im Rückspiegel gesehen, dass das Mädchen mit dem Gesehenen erst einmal fertig werden musste. Jetzt nahm er ihre Hand und führte sie durch das Gewühl einer Metropole, mit vielen Autos, Bussen und Lastwagen, Menschen die nach hier und nach dort gingen und Straßen, die scheinbar überall hinführten. Rául führte Lilly in die Oxford Street, denn dort hatte der Modestar Debile sein Atelier, das aus Kostengründen nur wirklich gut betuchte Menschen besuchten. Nestor Nigglepot war einer von Debiles besten Kunden.
Es war bemerkenswert, wieviele Menschen einem auf dem Weg begegneten, ohne, dass sie Lilly oder Rául sahen. Die Chinesin hatte schon lange nicht mehr, wenn überhaupt jemals, so viele Menschen gesehen. Alles war überfüllt, deswegen stieß sie auch plötzlich mit einem Mann zusammen, obwohl Rául sie genauso umsichtig durch das Gewühl steuerte wie den Bugatti durch die Straßen.
»Oh, Verzeihung bitte!«, sagte Lilly zu dem Mann.
»Schon gut, Mädchen« Die Antwort klang kalt und der Mann sah sie nur kurz an und ging dann weiter.
Lilly kam der Mann bekannt vor – aus Hongkong.
»Das war der blasse Mann, der plötzlich in der Lagerhalle aufgetaucht war«, dachte sie.
Schnell drehte sie sich um und plötzlich führte sie Rául durch die Menschenmassen, weg von der gruseligen Gestalt.
Auch der blasse Mann erinnerte sich, war aber auch schon einige Schritte weitergegangen und als er sich wieder nach ihr umdrehte, war sie zwischen all den Leuten einfach nicht mehr zu sehen.
»Die Komplizin!«, fiel es Grafula ein.