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XI


Catania


Lilly hatte sich eine Stadt vor 2.500 Jahren ganz anders vorgestellt. Sie kannte Hongkong aus dem Jahr 1921 und London im 21. Jahrhundert. Beides waren riesige Städte, die eigentlich nie schliefen und auch nachts an den meisten Stellen so hell waren, das man sich schnell und sicher bewegen konnte.

Catania unterschied sich davon deutlich. Die Straßen verliefen ungeordnet, nur wichtige waren gepflastert und eine Straßenbeleuchtung fehlte völlig. Kaum ein Mensch lief ihnen über den Weg und in den meisten Häusern, die sie passierten, herrschte völlige Stille. Das wenige Licht, das die Straßen erhellte, kam von Häusern deren Bewohner sich noch nicht zur Ruhe begeben hatten, obwohl es noch gar nicht lange dunkel war. Am Hafen herrschte etwas mehr Betriebsamkeit und hier und da erleuchten Feuerkörbe und Fackeln die Kais. Dort fanden sie ein Haus, aus dem erstaunlich viel Lärm drang: eine Taverne.

Nestor betrat als erster den Schankraum, der nicht durch eine Tür verschlossen wurde, und Lilly folgte ihm so dicht wie möglich, denn dieser Ort war alles andere als beruhigend.

Er ging auf die Theke zu, die erheblich niedriger als heutige war, und an der auch keine Menschen saßen. Die Gäste drängten sich an Tischen und Bänken, die eng gestellt die Taverne füllten. Der Wirt sah zu ihm auf, als er gerade viele Tonbecher mit rotem Wein füllte.

»Seid gegrüßt, Herr! Was hat euch in mein ehrenwertes Haus geführt?«, fragte der Mann hinter der Theke gespielt freundlich.

»Der Wunsch nach einem Nachtmahl und Unterkunft für mich und meine Dienerin, Wirt!«

»Ihr habt Glück, Herr, dass die Götter eure Füße zu mir geführt haben. Wie es der Zufall will, habe ich noch ein letztes Zimmer frei – und es ist sogar das Beste in meiner Herberge. Habt ihr noch mehr Gesinde, so bringt sie nur herein. Im Hof ist Platz genug.«

»Ich schlafe unter keinen Umständen im Hof!«, protestierte das Mädchen aus China.

»Habt ihr eurer Dienerin zu viel Wein gegeben, Herr?«, stutze der Wirt.

»Wie ist dein Name, Wirt?«, wollte Nestor wissen.

»Lakis, stets euer Diener!«

»Hör zu Lakis! Diese Dienerin stammt direkt von den fernen Völkern am östlichen Meer. Kannst du dir vorstellen, wie wertvoll und selten sie ist?«

»Nein, gewiss nicht, Herr, verzeiht Herr!«, entschuldigte sich Lakis ölig.

»Ich wünsche für sie ein Extrazimmer, und zwar direkt neben meinem. Verstanden?«

»Oh, ich fürchte, das wird nicht ganz so einfach werden. Da müsste ich ein oder zwei Gäste umquartieren. Eine sehr unangenehme Geschichte, versteht ihr, Herr?«, wand sich der Wirt und es war sonnenklar, dass Lakis einfach nur mehr Geld herausschinden wollte.

»Egal! Bring’ uns vorher etwas zu Essen und zu trinken. Danach kümmere dich um die Zimmer!«, befahl Nestor.

»Selbstverständlich, Herr! Nehmt Platz, dort bei den Matrosen ist noch etwas frei.« Lakis zeigte auf einen nicht ganz besetzten Tisch.

Lilly und Nestor schauten sich an und gingen dann zum Tisch. Die Matrosen schauten verwundert auf, als sie den Mann und das Mädchen neben sich sahen und rückten nur widerwillig zusammen und ihr Gespräch wurde auffällig leiser. Scheinbar waren sie so feine Gesellschaft nicht gewohnt.

»Seid gegrüßt, Männer!«, sagte Nestor knapp, nahm Platz und bedeutete Lilly sich ebenfalls zu setzen.

Das Mädchen setzte sich wortlos hin und betrachtete das Gasthaus und seine Gäste. Die Seemänner an ihrem Tisch nahmen nur kurz Notiz von den beiden und erreichten bald wieder ihre ursprüngliche Lautstärke. Überhaupt war es sehr laut. Niemand schien auf die anderen zu achten. Hier wurde über einen schlechten Herrn gelästert, dort über einen schlechten Sklaven. Die Einen beschwerten sich der Wein wäre zu teuer, die Anderen klagten das Getreide wäre zu billig. Niemand war zufrieden und durch die immer wieder gefüllten Weinbecher beharrte jeder immer deutlicher auf seinem Standpunkt. Es wurde laut gestritten, aber auch laut gelacht.

Nur die Männer, die mit jungen Damen in irgendwelchen Ecken schmusten, waren eher leise. Der Schankraum war erstaunlich groß, ungefähr zwanzig mal zwanzig Schritt, und neben dem Schanktresen führte eine hölzerne Treppe in das obere Stockwerk. Auf jedem Tisch standen einige Öllampen und in der Nähe des Eingangs flackerte eine Fackel, wohl damit der Wirt besser sehen konnte, wer die Kneipe betrat.

»Hätte es bessere Zeitalter gegeben, in die wir hätten reisen können?«, fragte Lilly ihr Gegenüber so leise wie möglich.

»Oh, ja!« Nestor schob die Unterlippe vor und nickte.

»Du warst bestimmt schon oft in dieser Epoche, oder?«

»Wie hätte ich denn sonst an die Münzen herankommen sollen, Lilly?«

Eine junge Frau brachte einen Krug Wein, der mit Wasser gemischt war, zwei Becher, Fladenbrot, Oliven und kaltes Fleisch an ihren Tisch, sagte dabei aber keinen Ton.

Nestor bediente sich reichlich und auch Lilly hatte großen Hunger. Beim Trinken hielt sie sich allerdings zurück. Ihr Wissen um die Kung-Fu-Lehren gestatteten es ihr nicht, Wein zu trinken. Das Fladenbrot war erstaunlich lecker und auch die Oliven waren von einer Qualität, die das Mädchen nicht erwartet hatte. Das kalte Fleisch war fad, aber immerhin nicht zäh.

»Hier trachtet auch jeder nur nach seinem Vorteil, oder?«, wollte Lilly wissen.

»Allerdimf!« Nestor hatte den Mund voll und brauchte eine Weile, bis er richtig antworten konnte: »Das ist zu fast allen Zeiten so. Darum habe ich auch kein Problem damit, auf meinen Vorteil zu achten.« Er warf sich genüsslich eine Olive in den Mund und spülte mit reichlich Wein nach.

Die Matrosen stimmten plötzlich ein Lied an und sangen so laut, dass eine weitere Unterhaltung völlig unmöglich war. Mehr und mehr Gäste stimmten in den Refrain ein, der mehrmals wiederholt wurde, dann lachten alle und beschäftigten sich wieder mit ihren Gesprächspartnern.

»Aber ihren Spaß scheinen sie zu haben«, stellte die Chinesin erfreut fest.

»Auch das war zu fast allen Zeiten so!«

Plötzlich stand der Wirt an ihrem Tisch und sagte, dass die Zimmer bereit wären und sobald sie wollten, bezogen werden könnten. Die beiden einigten sich darauf, erst aufzuessen und dann zu Bett zu gehen.

Sie folgten dem Wirt die Treppe hinauf, der in ihren Zimmern Öllampen entzündete und eine Gute Nacht wünschte. Lilly und Nestor einigten sich darauf, dass wer als erstes wach würde, den anderen wecken solle. Daraufhin wünschten auch sie sich eine Gute Nacht und verriegelten von innen ihre Zimmertüren mit einfachen Holzbalken, die aber einen sicheren Schutz vor Eindringlingen boten.

Das Mädchen war viel zu müde, um sich lange über den Lärm, das harte Lager und die Decke zu ärgern, die nach altem, staubigen Schweiß roch. Auch Nestor Nigglepot legte sich sofort hin, allerdings hatte er an dem Atalandor vorsichtshalber noch die Alarmanlagenfunktion aktiviert und löschte das Licht.


»Heyhoo!«, brüllte ein Mann in aller Frühe direkt vor der Herberge und brachte mit lautem Gerappel ein Pferdefuhrwerk zum stehen, was Lilly und Nestor aus ihrem Schlaf hochschrecken ließ. Ein Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass die Sonne gerade erst aufgegangen war.

Sie wusch sich, zog sich an, nahm ihr Gepäck und wollte Nestor wecken, der zur gleichen Zeit aus seinem Zimmer trat.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du so früh aufstehen kannst, Nestor von Korfu!«

»Keine Frechheiten um diese Zeit. Ich bin das Paradebeispiel für einen Morgenmuffel!«

»Schlecht geschlafen?«, grinste Lilly ihn an.

»Zu kurz!«

Während das Mädchen voller Energie war, schien Nestor wenig belebt zu sein.

»Was ist los? Du musst doch genauso lang geschlafen haben wie ich«, stellte Lilly fest.

»Ja, aber du hast auch erheblich weniger billigen Wein getrunken als ich«, grunzte er.

»Und jetzt weißt du auch warum«, kam es altklug zurück.

»Ich werde es beherzigen«, raunzte Nestor zurück und schob noch ein »Pffff!« hinterher.

Lilly ging munter die Treppenstufen herab und Nestor folgte ihr mit vorsichtigen Schritten. Im Gastraum saßen der Wirt und zwei Gäste. Viel musste er nicht umquartieren.

»Ich hoffe, ihr habt wohl geruht, Herr!«, rief ihm Lakis schroff entgegen.

»Mhmm«, nickte der Herr.

»Du solltest mal die Decken waschen, Lakis! Die müffeln nämlich nach alten Socken!«, stellte Lilly fest.

»Socken?«, der Wirt sah das Mädchen ratlos an.

»Ja, Socken. Kennst du keine Socken?«

Nestor stupste Lilly unauffällig an und flüsterte: »Er kennt keine Socken.«

»Na ... wasch sie halt. Die Dinger stinken!«

»Wenn die edle Sklavin es wünscht ...« Der Wirt war beleidigt, denn er war es nicht gewöhnt, dass sich Sklaven, insbesondere so junge, bei ihm beschwerten.

»Sie hat recht! Und wenn du sie waschen lässt, bleiben wir noch eine Nacht länger in deiner Herberge«, sagte Nestor.

»Natürlich, Herr, sehr gerne Herr!«, biederte Lakis sich an. »Das Frühstück findet ihr dort.« Er zeigte auf einen Tisch, auf dem Früchte, Fladenbrot und Erbsenbrei standen.

Lilly wunderte sich: »Du willst noch eine Nacht hier bleiben? Muss das sein?«

»Selbstverständlich, Lilly! Oder glaubst du, wir könnten heute alles erledigen, was wir zu tun haben?«

Das Mädchen schnupperte an dem Tonkrug und runzelte die Nase: »Da ist ja schon wieder Wein drin!«

»Aber viel zu wenig!«, brüllte einer der beiden anderen Gäste, schüttelte sich vor lachen und trank einen großen Schluck aus seinem Becher.

»Gibt’s auch normales Wasser?«, wollte Nestor wissen.

»Wasser? Ja, natürlich, aber wer will denn schon normales Wasser zum Frühstück trinken?«

»Wir!«, sagte Lilly fest.

»Sehr wohl!« Der Wirt und das Mädchen würden keine guten Freunde werden, soviel stand fest.

Die Zeitreisenden nahmen sich ihr Frühstück und setzten sich, ein Stück weit von allen anderen weg, an einen Tisch und beratschlagten den kommenden Tag.

»Wir müssen einen guten und ehrlichen Sklavenhändler finden«, sagte Nestor.

»Wieso ehrlich? Was kann denn daran ehrlich sein, Sklaven zu verkaufen? Das scheint mir das Unwürdigste zu sein, was ein Mensch überhaupt machen kann.

»Ja, aber auch da gibt es Unterschiede. Das ist wie bei den Autohändlern in unserer Heimatzeit.«

»Aha! Und was schwebt dir vor? Etwas Praktisches oder eher etwas Sportliches ... Nestor von Korfu, du bist widerlich!«

»Das kommt natürlich auf die Angebote an.« Er ging gar nicht weiter auf Lilly ein. »Vielleicht bekommen wir ja sogar Rabatt, wenn wir alle vier bei einem Händler kaufen.«

Lilly schüttelte den Kopf und begann mit ihrem Frühstück. Obwohl sie erst eine Nacht von Seldom House weg war, fehlte ihr das typische Frühstück schon jetzt. Sie vermisste ihre Nudelsuppe und Rául. Den Gedanken, was der Butler wohl jetzt gerade machte, verwarf sie wieder, denn der stand ja neben der Zeitmaschine.

Nestor aß nur wenig, ihm stand der Sinn mehr nach Wasser, das er becherweise zu sich nahm.

»Sag, Lakis, wo finden wir den größten Sklavenhändler der Stadt?«, wollte er vom Wirt wissen.

»Wollt ihr euer Prinzesschen veräußern?«

»Mal sehen ... wenn er mir einen guten Preis macht?«

Lilly sah Nestor entrüstet an.

»Versucht euer Glück bei Metros, der kauft und verkauft alles was zwei Beine hat. Ihr findet ihn direkt neben dem Apollon-Tempel am Hafen. Wenn ihr dort seid, bestellt einen Gruß von mir: Die Matrone für die Küche kann er wieder haben. Die taugt nichts.«

»Wir werden für dich keine Botengänge machen!«, giftete Lilly den Wirt an, denn es störte sie zutiefst, wie er über Menschen sprach.

»An eurer Stelle würde ich jedes Angebot für die Kleine akzeptieren. Wenn man die hier erstmal kennt, fällt ihr Preis ins Bodenlose!«

»Danke für den Hinweis, Lakis. Und wo finde ich den billigsten Sklavenhändler der Stadt?«, sprang Nestor in die sich anbahnende Diskussion zwischen Lilly und dem Wirt.

»Ihr wollt euer Glück doch nicht etwa bei Lefteris versuchen? Der kauft seine Ware auch immer bei Metros. Er nimmt alle seine Ladenhüter. Den Weg könnt ihr euch sparen, Herr.«

»Wo finden wir diesen Lefteris?«, wollte Lilly wissen.

»Gar nicht weit von hier, die zweite Gasse links und dann einmal rechts«, antwortete Lakis kopfschüttelnd und wandte sich dann wieder Nestor zu: »Herr, ich kann euch verstehen!«

»Ich werde mich überraschen lassen. Danke, Lakis«, sagte Nigglepot, stand auf und sagte zu Lilly: »Komm, wir gehen bummeln!«

Der Wirt sah den beiden zu, wie sie die Gaststube verließen und sagte dann zu einem anderen Gast: »Die Kleine erinnert mich an meine Schwägerin oben im Dorf am Ätna.«

Währenddessen baute sich das Mädchen auf der Straße vor Nigglepot auf und stemmte die Fäuste in die Hüften: »Wenn du mich verkaufst, kannst du was erleben, Nestor von Korfu! Dann kannst du was erleben!«

»Beruhig dich! Lakis hat doch recht, für dich bekomme ich sowieso keinen guten Preis.«

Lilly trat Nestor wuchtig gegen sein linkes Schienbein, aber weil Nestor so lachen musste, tat ihm das viel weniger weh, als sie gehofft hatte.

NESTOR

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