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Inspector Fazzoletti
Grafula verließ die Lagerhalle und ging hinaus in den Regen. Was machte es schon, dass er wieder nass wurde? Er fühlte sich sowieso wie ein begossener Pudel. Nigglepot war ihm wieder entkommen und diesmal sogar mit einer Komplizin, diesem gelben Kind!
»Der Kerl schreckt vor nichts zurück«, dachte er ungläubig. »Ganz sicher ist er auch schuld an meinen Gedächtnislücken. Ganz sicher!«
Der Weg führte ihn in die Wellington Street im Central District Hongkongs. Dort befanden sich ein Arzt und was noch wichtiger war: die hiesige Niederlassung von Scotland Yard! Die eigene Unsterblichkeit ließ übertriebene Sorgen wegen seiner Gedächtnisaussetzer unbegründet erscheinen, also entschied er, zunächst der Polizei ein Besuch abzustatten. Und wenn Nigglepot sich noch in der Stadt befand, war Eile geboten. Die zahlreichen Erfahrungen mit dieser Plage hatte, den Untoten gelehrt, dass der eingebildete Schnösel sehr beweglich war. Er ging zum Informations-Schalter.
»Officer! Ich muss dringend den zuständigen Kommissar für übernatürliche Phänomene sprechen!« Grafula wählte den schnellen Weg.
»Hinten anstellen!« Der Officer wählte offenbar den langsamen Weg.
»Hören sie, guter Mann! Dort draußen treibt ein Mann seit Jahrtausenden sein schändliches Unwesen!«
»Also werden wir ja wohl noch ein Viertelstündchen Zeit haben, wie?« Der Polizist schaute Grafula jetzt erst an. »Sie sehen blass aus. Fühlen sie sich nicht wohl?«
»Doch, doch …«
»Dann stellen sie sich hinten an, oder kommen sie morgen wieder, und stellen sich dann an.«
»Aber hier ist doch nirgendwo eine Schlange, an der ich mich anstellen könnte …«
»Dann fängt die Schlange eben mit ihnen an!«, entgegnete der Beamte und widmete sich wieder seiner Schreibarbeit.
Als es schien, dass der Officer hatte seine Tätigkeiten erledigt, stand er auf, schaute auf die große Uhr in der Halle, sagte knapp: »Teepause« und ging.
Grafula stand völlig alleine in dem großen Raum und dachte: »Jetzt könnte ich gut eine von diesen Gedächtnislücken gebrauchen.«
Exakt fünfzehn Minuten später erschien der Officer wieder, nahm hinter seinem Schreibtisch Platz und sprach den Untoten an: »Wird ihnen bereits geholfen, mein Herr?«
»Nun, wie ich bereits sagte, ich muss dringend den zuständigen Kommissar für übernatürliche Phänomene sprechen!«
»Das Kommissariat für übersinnliche Phänomene befindet sich dort …«, er zeigte auf die rechte Tür direkt neben seinem Schreibtisch. Hinter dieser Tür hatte Grafula eigentlich eine Art Abstellraum vermutet.
»Sie waren mir eine große Hilfe, Officer«, sagte Grafula, ging auf die Tür zu und las auf dem Schild: Kommissariat für übernatürliche Phänomene – Inspector Fazzoletti. Der Name Fazzoletti kam ihm irgendwie bekannt vor.
Er klopfte an und ein undeutliches Wort von hinter der Tür ließ ihn vermuten, dieser Inspector Fazzoletti hätte Herein gesagt. Daraufhin drehte der Halbvampir den Türgriff und betrat ein Büro, das so winzig war, dass nur ein kleiner Schreibtisch mit Schreibmaschine und ein Stuhl dort hineinpassten. Auf der Schreibmaschine lag ein angebissenes Sandwich und auf dem Stuhl saß ein dicker Mann, in einem zu kleinen Anzug, mit einer großen roten tropfenden Nase, der kaute und sich gerade die Fußnägel abknipste.
»Darf ich eintreten?«, fragte der Untote ungläubig.
»Iff hab’ laub unb beutliff NEIN wefagb!«
»Wie, bitte?«
Der Mann schluckte, zog deutlich vernehmbar seinen Rotz hoch, schluckte noch mal und sagte: »Schon gut!« Er stand auf, ging barfuß auf den Halbvampir zu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte unüberhörbar stolz: »Fazzoletti. Inspector Fazzoletti!«
»Ich weiß, es steht draußen an ihrer Tür. Mein Name ist Grafula, einfach nur Grafula!« Der Halbvampir wollte den Händedruck erwidern, aber Fazzoletti stutzte kurz und rannte an ihm vorbei und bestaunte die Tür. »Das ist ja nicht zu fassen! Seit über fünf Jahren arbeite ich in diesem Büro und bis gestern hing da noch das Schild Abstellraum.« Der Inspector ging zu seinem Platz zurück. »Ich sag’s ja immer wieder … in einer so straffen und schlagkräftigen Einrichtung funktioniert alles – wie in einem Uhrwerk. Scotland Yard! Tolle Behörde!« Er setzte sich zufrieden hin. »Wie war gleich ihr Name?«
»Grafula.«
»Und weiter?«
»Nur Grafula.«
»Nur Grafula?«
»Ja. Nur Grafula!«
»Aha.« Fazzoletti zögerte. »Künstler?«
»So was in der Art.«
»Ich kann Künstler nicht leiden«, sagte der Inspector sehr glaubwürdig.
»Nein, nein! Ich bin nicht wirklich Künstler. Ich hab’ nur keinen Nachnamen.«
Fazzoletti schaute sein Gegenüber eindringlich an und warnte mit dem rechten Zeigefinger. »Bei Scotland Yard wollen wir aber immer schön die Wahrheit sagen, oder?«
»Selbstverständlich!«
»Man kann sich kaum vorstellen, was mir die Leute hier ständig für einen Unfug erzählen. Gespenster, Beschwörungen, Außerirdische … ich glaube diesen ganzen Quatsch eh nicht. Aber scheinbar gibt es da draußen jede Menge Verrückte. Na, ist ja auch egal … wo drückt denn ihr Schuh?«
Der Halbvampir schaute auf die nackten, fiesen, schwieligen Füße des Polizisten. »Eine hässliche Geschichte, Inspector! Seit Jahrtausenden treibt ein Individuum namens Nestor Nigglepot sein schändliches Unwesen auf unserem gesamten Planeten.«
»Aha.«
»Er bringt das Raum-Zeit-Kontinuum ein ums andere Mal völlig durcheinander und niemand ist in der Lage ihn zu stoppen!«
»Wunderbar, dann ist der Fall ja erledigt.« Fazzoletti biss zufrieden in sein Brot.
»Aber ganz und gar nicht! Es wird immer so weiter gehen, wenn sie nichts unternehmen.«
»Herr Grafula … sagten sie nicht, niemand wäre in der Lage ihn zu stoppen?«
»Aber Inspector, sie verstehen mich falsch! Es muss natürlich irgendwann einmal, jemand versuchen ihn wirklich dingfest zu machen!«
»Was hat er denn schlimmes gemacht?«
»Sein ständiges Auftreten, zu allen möglichen Zeiten hat schon unzählige Male den Lauf der Geschichte massiv verändert.«
»Und woher wollen sie das wissen?«, fragte Fazzoletti – fast wie ein guter Inspector.
»Ich war dabei!«
»Aha!« Fazzoletti zog sich die Socken an. »Wie alt sind wir denn?«
»Das tut nichts zur Sache!«
Fazzoletti schaute den Halbvampir lange finster an und musste plötzlich so fürchterlich niesen, dass Grafula einen Schritt nach hinten machte. Der Polizist putze sich laut vernehmlich die Nase und schaute ihn wieder lange finster an.
»Hören sie … Herr Grafula … ich kann ihnen helfen, aber wenn sie nicht freiwillig mit mir zusammenarbeiten, und offen und ehrlich die Wahrheit sagen, kann ich sie auch zum Reden bringen lassen!«
»Ich bin unsterblich …«, sagte Grafula.
»Auf einmal geht es ja doch«, triumphierte Fazzoletti und hatte offensichtlich gar nicht verstanden, was ihm der kleine, fahle Mann, mit der kalten Stimme, da gerade gesagt hatte.
»Ich wurde vor über 36.000 Jahren als Sohn eines Vampirs und einer Sterblichen geboren. Also bin ich ein Halbvampir, was bedeutet, dass ich nicht sterben kann, aber kein Blut trinken muss, ich kann bei Tageslicht überleben, aber meine Flugkünste als Fledermaus gleichen eher der eines Huhns.«
»Aha.«
»In all diesen Jahren ist mir besagter Nestor Nigglepot immer wieder begegnet. Damit muss irgendwann Schluss sein, sonst werde ich noch wahnsinnig!«
»Sie sind auch schon ganz blass.« Fazzoletti schaute kurz zu ihm auf und band dann seine Schuhe zu. »Wenn man sie so sieht, möchte man gar nicht glauben, dass sie unsterblich sind … eher das Gegenteil. Aber, sie sind absolut sicher, dass sie unsterblich sind?«
»Absolut!«
»Könnte das jemand bezeugen, ihre Eltern zum Beispiel?«
»Meine Mutter ist vor über 36.000 Jahren verstorben und meinem Vater wurde seine romantische Vorliebe für Sonnenaufgänge zum Verhängnis.« Grafula klang nur mäßig betroffen. Er hatte mit den Jahrtausenden gelernt privaten Schmerz zu verarbeiten.
»Irgendwelche Nachbarn mit gutem Leumund?«
»Leider nein.«
»Irgendwelche Nachbarn mit schlechtem Leumund?«
»Hören sie, Inspector!« Der Untote wurde nun unruhig. »Die Zeit drängt! Dieser Mann könnte inzwischen überall sein Unwesen weitertreiben.«
»Was hat dieses Individuum denn verbrochen?« An gutem Willen mangelte es dem Inspector zwar erheblich, aber er vermochte die Vorschriften wenigstens einigermaßen einzuhalten.
»Er ist verschwunden!«
»Verschwinden ist im British Empire, einschließlich Hongkong, nicht verboten.« Fazzoletti war inzwischen genauso genervt wie sein Gegenüber. »Damit Scotland Yard aktiv wird, müssten sie schon ein bisschen mehr auf Lager haben. Hat er wenigstens einem Baby die Bonbons geklaut?«
»Kennen sie sich mit theoretischer Physik und Astronomie aus?«
»Nicht, das ich wüsste!«
»Ich meine, verstehen sie etwas von Zeitabläufen?«
»Dass schon«, entgegnete der Inspector. »Wenn sie nicht zügig etwas Stichhaltiges präsentieren, ist Ihre Zeit hier abgelaufen … Also?«
»Ich will versuchen, ihnen ein Beispiel für seine gravierenden Einflüsse auf den Ablauf der Zeit zu geben.« Grafula stemmte seine Fäuste auf die Hüften. »Ich vermute, hätte Nestor Nigglepot im Jahre 1773 auf einer Tee-Party Samuel Adams und seine Freunde nicht mit dem Satz: Dann macht euch doch selbstständig, gegen die britische Krone aufgebracht, dann wären die USA heute kein unabhängiger Staat.«
»Warum hätte er, das denn tun sollen?«, wollte Fazzoletti eher gelangweilt wissen.
»Was weiß ich? Vielleicht wollte er die originale Unabhängigkeitserklärung haben?«
»Schön und gut, aber ich fürchte, dass solche Gegebenheiten dennoch keine Verbrechen sind, und selbst wenn, wären sie vermutlich verjährt. Außerdem müssten sie ihr Anliegen, dann vermutlich an das Betrugs-Dezernat richten.«
»Inspector! Wer weiß, was er jetzt schon wieder plant? Vielleicht wird durch sein Eingreifen China zur größten Wirtschaftsmacht auf diesem Planeten!«
Das war eine unerwartete Wendung. Fazzoletti machte große Augen und sagte: »Gott bewahre!«
Er griff in die oberste Schublade seines Schreibtischs und zog ein Formular hervor, das er unter Schwierigkeiten in die Schreibmaschine spannen wollte. Nach einigen Fehlversuchen kam er auf die Idee, zunächst sein Butterbrot von der Maschine zu entfernen, und erst dann den Bogen einzuziehen.
Der Inspector tippte langsam suchend los. Nach einer Weile hielt er inne. »Tja, lieber Herr Grafula. Ich fürchte, mir sind da doch die Hände gebunden.«
»Aber, warum?«
»Weil sie kein Künstler sind!«
»Das tut doch nichts zur Sache!« Grafula war fassungslos, fast hatte er die Staatsmacht soweit gehabt.
»Leider doch. Ich darf das Feld Nachname auf diesem Formular nur dann leer lassen, wenn der Anzeigenerstatter, in diesem Fall also sie, Künstler ist.«