Читать книгу NESTOR - Stefan Högn - Страница 4
ОглавлениеII
Seldom House
Nachdem das dunkelblaue Licht erloschen war und die Türe sich mit ihrem Wuuusch wieder geöffnet hatte, trat Nestor aus der Maschine und sagte selbstsicher zu dem Mädchen: »Komm, Lilly! Du wirst staunen!«
Nestor liebte es einzigartig zu sein.
Und Lilly staunte tatsächlich. Sie befand sich nicht mehr in der Lagerhalle, sondern in einer Art Labor. Überall standen Maschinen von verschiedenster Art. Keine davon hatte sie jemals gesehen oder auch nur eine Ahnung, wofür sie gut sein sollten. Unsicher folgte sie dem ungewöhnlichen Mann.
»Wer bist du? Wo sind wir? Was ist das alles hier und wie ist das alles möglich?«, wollte Lilly wissen.
»Fragen über Fragen – wir haben genug Zeit dafür, unglaublich viel Zeit, mein Kind!«, gab Nestor eingebildet zurück.
»Gerade eben hatten wir aber noch überhaupt keine Zeit, Nestor Nigglepot! Und nenn mich nicht mein Kind! Also, was ist hier los?« Lilly war ungeduldig und wollte noch weiter fragen, als sich eine Tür öffnete und ein älterer Mann eintrat. Offensichtlich war es Rául.
»Hatten sie eine angenehme Reise, Sir?« Der Butler hielt kurz inne. »Oh! Wir haben Besuch? Soll ich ein zweites Teegedeck in den Salon bringen lassen?«
»Nein, Rául, keinen Tee, es gab ein paar Probleme beim Einkaufen, nur Wasser für das junge Fräulein, Früchtekuchen und Sandwiches, ich nehme einen … Sherry«, antwortete Nestor Nigglepot leicht genervt.
»Nun, Sir, ich habe vorsichtshalber First Flush Darjeeling Tee für sie besorgt. Das Wasser kocht bereits«, entgegnete der Butler.
»Na gut. Kein Sherry, Darjeeling … besser als nichts.« So klang es, wenn Nestor Nigglepot frustriert war. »Möchtest du lieber Tee statt Wasser, Lilly?« Und so wiederum klang es, wenn er besonders weltmännisch tun wollte.
»Tee und Antworten, bitte!« So klang übrigens Lilly, wenn sie langsam zickig wurde.
»Wenn mir die Herrschaften bitte in den Weißen Salon folgen wollen …« Rául verließ durch dieselbe Tür das Labor, durch die er gekommen war, und Nestor Nigglepot folgte ihm. »Komm! Du wirst staunen!«
»Muss ich das jetzt öfter?«, fragte Lilly.
»Immer und immer wieder, meine Liebe!«, gab Nestor so dandyhaft zurück, wie er nur konnte.
Als Lilly Foo den beiden durch die Tür folgte, betrat sie ein riesiges Gewächshaus, in dem die prächtigsten Blumen, Palmen und exotischsten Früchte wuchsen, die man sich nur vorstellen kann. Für Menschen die Pflanzen liebten, war dieser fast komplett aus Glas und Eisen gebaute Raum, ganz sicher das Paradies. Ihm schloss sich eine Bibliothek von der Größe einer Turnhalle an. Bücherregale standen dicht an dicht, vom Boden bis zur Decke. Es müssen Zehntausende Bücher gewesen sein.
»Du liest aber viel, Nestor Nigglepot. Wieso verstehst du dann nichts von theoretischer Physik und Astronomie?«, wollte das Mädchen wissen.
»Ich? Viel lesen? Unsinn!« Mit einer lässigen Handbewegung wischte er Lillys Frage einfach weg. »Alle diese Bücher sind etwas Besonderes! Wenn nicht einzigartig, dann zumindest sehr selten. Dort zum Beispiel …«, er zeigte nach rechts. »Alle Welt glaubt, es gäbe nur ein erhaltenes Exemplar des über tausend Jahre alten irischen Buchs Book of Kells. Sie irren. Dort steht mein Exemplar – im 9. Jahrhundert handgeschrieben in einem Kloster, nahe der Stadt Cork. Oder da …«, sein Blick wanderte nach links oben. »Dreiundzwanzig Gutenberg-Bibeln aus dem 15. Jahrhundert. Fast die ganze Auflage. Und direkt daneben: das einzige, ich wiederhole, das einzige, erhaltene Exemplar des Gutenberg-Kochbuchs. Außer uns weiß keiner, dass es das überhaupt gibt!« Nestor strahlte über das ganze Gesicht. Der Stolz quoll ihm beinahe aus jeder Pore. »Na ja … und der Rest ist halt auch so was: Unikate, handsignierte Erstauflagen-Exemplare, Folianten … Bücher eben.«
»Sir, sie belieben zu untertreiben! Ihre Bibliothek ist mit Abstand, die wertvollste der Welt«, sagte der Butler antrainiert bewundernd und ging weiter voraus.
»Vielen Dank, Rául, sehr liebenswürdig!«, entgegnete Nestor in lässiger Manier.
Lilly bekam den Mund kaum zu. Als sie die Bibliothek verließen, kamen sie in einen langen Korridor mit hohen Wänden und vielen Türen an beiden Seiten. Zwischen den Türen und darüber hingen überall Bilder, zum Teil in schwülstigen goldenen Rahmen, zum Teil ungerahmt. Viele der Bilder waren offensichtlich Gemälde aus vergangenen Jahrhunderten und vereinzelt sehr groß – einige allerdings waren winzig. Andere Bilder hatten kein erkennbares Motiv, sondern bestanden aus wildem Gekrakel oder einfachen Farbflächen.
»Interessierst du dich auch für Kunst, Lilly?«, wollte der merkwürdige Mann wissen.
»Bisher habe ich mich eigentlich nur für mein Überleben interessiert«, antwortete sie mit ungläubigen Augen.
»Das ist bestimmt auch ein schönes Hobby!« Nigglepot hatte gar nicht richtig zugehört. »Hier, ein Rembrandt, da … ein Chagall, Mondrian, Magritte, Picasso, Michelangelo, Dürer … und dort … ein da Vinci – schwierig zu bekommen. Der malt zu wenig und erfindet zu viel, vergeudet sein ganzes Talent für unnützes Zeug. Eine Schande, sage ich dir!«
Er war kaum zu bremsen und zeigte von einem Bild zum nächsten, erzählte von verarmten Künstlern, die sich Ohren abschnitten und verrückten Künstlern, die zerfließende Uhren malten.
»Du sagtest, du interessierst dich für das Überleben … und, warst du da bisher einigermaßen erfolgreich?«
Lilly folgte ihm nur stumm und sie erreichten die Empfangshalle des Anwesens, das den Namen Seldom House trug, wie sie aus dem nicht enden wollenden Vortrag von Nestor Nigglepot erfuhr. Zu beiden Seiten gingen geschwungene Treppen hinauf in die erste Etage, eine prachtvolle Eingangstür mit vielen kleinen Scheiben eröffnete einen Blick auf einen geschmackvoll gestalteten Vorplatz, der in einen schier endlosen Garten überging.
Auch hier in der Halle waren viele Türen und Gemälde. Aber der absolute Hingucker stand genau in der Mitte. Unter einer großen Gewölbekuppel prangte auf einem Sockel eine steinerne Statue. Ein stehender weiblicher Engel, dessen Arme und Kopf offensichtlich abgebrochen, aber dessen Flügel imposant ausgebreitet waren, füllte den Raum mit seiner Erscheinung.
»Dein Engel ist kaputt, Nestor Nigglepot!«
»Das ist die Siegesgöttin Nike. Ich sah sie während eines Griechenland-Urlaubs und habe mich sofort in sie verliebt. Wir passen gut zusammen, oder?« Nestor suchte nach Bestätigung in Lillys Augen, fand aber keine. »Im Louvre steht nur eine Kopie von ihr … braucht aber keiner zu wissen.«
Sie erreichten den Weißen Salon. Ein erstaunlich sachlicher Raum, eher wie ein Büro, in dem tatsächlich fast alles weiß war. Ein verhältnismäßig großer Tisch stand in der Mitte, darum vier Stühle und schlichte Lampen – alles war auf das Nötigste reduziert. Auffallend war nur das riesige pechschwarze Bild gegenüber der Eingangstür. Die Türen zum Garten waren fast raumhoch, alle geöffnet und gaben den Blick und die Luft frei, in den herrlichen Garten. An zwei Plätzen waren Teetassen gedeckt, eine Teekanne, Zucker, Sahne, Zitronenscheiben, eine Schale mit Bradbury’s Honig-Nuss-Keksen und ein Teller mit Sandwiches standen bereit.
»Nimm Platz, meine Liebe«, sagte Nestor Nigglepot überhöflich. »Du wirst sicher Hunger und Durst haben.«
Lilly setzte sich vor eine der Teetassen und Nestor goss ihr dampfenden, rotgoldenen Tee ein.
»Das ist hier ganz sicher nicht Hongkong, oder?«, wollte Lilly wissen.
»Ganz sicher nicht«, war die amüsierte Antwort. »Zucker, Sahne oder Zitrone für den Tee?«
»Weder noch. Nur Tee, bitte …«
Nestor nahm sich gelassen einen seiner geliebten Kekse und beobachtete, wie viel Spannung sich in dem ratlosen chinesischen Mädchen aufgebaut hatte. Alle diese Fragen, in diesem kleinen Kopf, unter den pechschwarzen Haaren bettelten um Antworten. Und er könnte sie geben – jederzeit, aber noch genoss er diesen Augenblick. Was konnte es Schöneres geben, als einen weiteren Menschen davon zu überzeugen, dass er, Nestor Nigglepot, der erstaunlichste, einzigartigste und unbeschreiblichste Mensch aller Zeiten war.
»Nun?« Er ließ Lilly ein wenig Zeit, um sich für die erste Frage an ihn zu sammeln.
»Du bist bestimmt ein Verbrecher, Nestor Nigglepot!«
Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. »Wie darf ich, denn das bitte verstehen?«
»Was ist daran schon groß zu verstehen? Du hast mir in deiner Maschine ganz sicher eins über den Kopf gebraten. Und jetzt träume ich bestimmt, ich würde mich bei einer Tasse Tee nett mit dir unterhalten. Ich möchte aber lieber wieder wach werden!«
»Was … wie jetzt? Du bist wach. Ganz sicher!«
So etwas hatte Nestor noch nicht erlebt. Viele Menschen bestaunten ihn ungläubig, aber keiner hatte bisher behauptet, er würde Nestor Nigglepots Gegenwart nur träumen. Was aber, je nach Art des Traums, durchaus angemessen wäre.
»Fühl an dem Tee! Er ist heiß. Trink einen Schluck! Hast du schon mal etwas Heißes im Traum gefühlt oder getrunken?«
Lilly nippte an ihrer Tasse und es stimmte, da war heißer Tee drin. So etwas hatte sie in der Tat noch nie geträumt. Sie überlegte, dann schaute sie sich um und ihr Blick blieb an dem Garten hängen. »Wir sind noch nicht mal mehr in China, oder?«
»Nein. Wir befinden uns in England, genauer gesagt in Cornwall. Ich bevorzuge milderes Klima, als das in China.«
»Das bedeutet, als wir in deine Maschine gestiegen sind, haben wir eine Reise um die halbe Welt gemacht … innerhalb von wenigen Sekunden?« Lilly konnte es nicht glauben. »Aber das ist doch völlig unmöglich. Nicht mal ein Zeppelin oder ein Flugzeug kann so schnell, geschweige denn, so weit reisen!«
»Nun, genau genommen waren wir gar nicht so besonders schnell. Immerhin haben wir ungefähr hundert Jahre dafür gebraucht. Das hätten wir sogar zu Fuß geschafft.« Nestor triumphierte.
Aber für Lilly klang diese Antwort nur noch unglaubwürdiger. »Ich weiß nicht, wie alt du bist, Nestor Nigglepot, aber ich war zehn Jahre alt, als ich in deine Maschine gestiegen bin, und wenn ich mich so ansehe, kommt es mir nicht vor, als wäre ich jetzt hundert Jahre älter. Du lügst!«
»Mitnichten, Lilly Foo! Die Maschine, mit der wir gereist sind, ist eine Zeitmaschine.« Ein wohliger Schauer fuhr ihm über den Rücken. Wenn es etwas gab, mit dem man ultimativ angeben konnte, dann ganz sicher mit seiner Zeitmaschine. »Weißt du was eine Zeitmaschine ist, meine Liebe?«
»Eine Uhr?«
»Pah, eine Uhr! Ich glaub’s ja nicht!« Ein missachtender Blick traf die Chinesin. »Eine Uhr ist nur wie ein Kreuz auf einer Landkarte. Mit einer Zeitmaschine machst du die Landkarte selbst! Du kannst Wege, Straßen und Orte jetzt, hier und auf der Stelle aufsuchen, ohne erst zu dem Kreuz zu gehen. Das Kreuz kommt zu dir … eine Uhr zeigt dir nur, wieviel Zeit du bereits verloren hast. Verstehst du das?«
»Schwierig.« Lilly grübelte nach. »Woher hast du denn diese Zeitmaschine? Gebaut haben, wirst du sie ja nicht.«
»Also bitte! Zweifelst du etwa an meiner Intelligenz?«
»Natürlich!« Lilly grinste Nestor breit an. »Wer, außer mir, hat denn hier noch keine Ahnung von theoretischer Physik und Astronomie?«
»Altkluge Trulla!«, sagte Nestor, wollte es aber eigentlich denken.
»Eingebildeter Fatzke!«, dachte Lilly, wollte es aber eigentlich sagen.
»Also gut …«, druckste Nestor rum. »Die Zeitmaschine stammt aus meiner Heimat.«
»In Cornwall kann man Zeitmaschinen kaufen?« Lilly war ganz sicher, dass er schon wieder log.
»Ich komme nicht aus Cornwall, ich lebe nur hier.« Nestor setzte sich gerade hin, verschränkte seine Unterarme auf dem Tisch und sah Lilly scharf an. »Kannst du schweigen, Lilly?«
»Wenn du die Wahrheit sagen kannst, kann ich schweigen, Nestor Nigglepot!«
»Auch wenn du mir nicht glaubst, aber ich habe dich bisher nicht ein einziges Mal belogen.« Zum ersten Mal klang Nestor wie ein normaler Mensch, beinahe ein bisschen unsicher.
»Wünschen die Herrschaften noch etwas?« Der Butler hatte den Raum mit ausgesprochener Zurückhaltung betreten.
»Danke, Rául, alles bestens.« Nigglepot zwinkerte dem älteren Herrn zu.
»Mister Rául! Dieser Mann hier«, sie zeigte auf Nestor und fuhr fort, »hat mich aus Hongkong mitgebracht und erzählt mir nicht die Wahrheit! Sie tauchen hier plötzlich aus dem Nichts auf und er zwinkert ihnen zu … hier stimmt etwas ganz und gar nicht! Um ganz ehrlich zu sein: ich habe Angst und will wieder zurück.«
Rául blickte zu Lilly, dann zu Nestor Nigglepot und wieder zurück zu Lilly. Als er antworten wollte, platze Nestor dazwischen.
»Wohin willst du denn wieder zurück? Nach Hongkong? In dein Kinderheim?«
Lilly Foo war richtig erschrocken, denn er hatte ihr tatsächlich zugehört.
»Was erwartet dich in China im Jahre 1921? Glück, etwa? Frieden, Erfolg oder Gesundheit und ein langes Leben?«
Das Mädchen wurde unsicher, sie dachte nach und sagte: »Woher soll ich das wissen? Ich habe ja keine Zeitmaschine.«
»Aber ich und die Zukunft in deiner Heimat und deiner Lebensepoche könnte für Heimkinder kaum schlechter aussehen.«
»Glauben sie ihm, junge Dame!«, mischte sich Rául plötzlich ein.
»Warum sollte ich dir glauben, Nestor Nigglepot?«
»Weil wir beide etwas gemeinsam haben. Du bist allein und ich bin es auch. Du magst Abenteuer und ich auch!«
»Woher willst du wissen, dass ich Abenteuer mag?«
»Ganz einfach: du wolltest mit mir mitkommen, aus freien Stücken. Das nenne ich abenteuerlustig!«
»Und wieso glaubst du, dass ich allein bin?«
»Hättest du jemand, zu dem du wirklich gehörst, wärest du ganz sicher in Hongkong und im Jahr 1921 geblieben.«
Er hatte recht und Lilly antwortete: »Ich hätte nicht gedacht, dass du doch so clever bist, Nestor Nigglepot!« Sie nahm ein Sandwich, biss hinein, kaute in aller Ruhe und schluckte dann. »Aber, ich glaube dir trotzdem nicht, dass das eine Zeitmaschine ist. Ein Flugapparat? Vielleicht. Aber eine Zeitmaschine? Nie im Leben!«
»Soll ich es dir beweisen, meine Liebe?« Nestor nahm diese Herausforderungen sehr gerne an.