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John landet in Irland

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John konnte seinen Sitzplatz in der Runde der anderen Gäste frei wählen. Mrs. Ferry, die Gasthauschefin, hatte zum Essen geläutet. Die Gäste, die schon einige Tage hier verbracht hatten, schienen sich bereits heimisch zu fühlen. Honeyhouse sah von außen wie von innen genauso aus wie auf den Fotos in der Broschüre. John klappte seinen Kragen hoch, um sein Gesicht zumindest teilweise zu verdecken. Er war daran gewöhnt, dass die Leute stutzten, wenn sie ihn sahen, und dann riefen: „Oh, mein Gott, Sie sind doch Stephen Carry!“ Aber in Honeyhouse erkannte ihn niemand. Vielleicht hatte der unermüdliche Mason doch recht, wenn er befürchtete, dass Stephen Carry Gefahr lief, als Marke an Bekanntheit zu verlieren.

John stellte sich als Geschäftsmann aus Los Angeles vor, der sich diese eine Woche Urlaub redlich verdient habe. Und bald hatte er das Gefühl, dass er es sich sparen konnte, seinen Kragen hochzuklappen. Falls ihn hier tatsächlich jemand erkennen sollte, würde es bestimmt unerwähnt bleiben. Doch viel wahrscheinlicher war, dass die anderen keine Ahnung hatten, wer er eigentlich war.

Das Essen schmeckte ausgezeichnet, die Gäste unterhielten sich ungezwungen und Stephen fühlte sich insoweit wohl. Aber andererseits fühlte er sich matt und lustlos. Vielleicht war es der Jetlag. Oder lag es vielleicht daran, dass er es gewohnt war, seiner Umwelt permanent etwas vorzumachen und eine Art Filmrolle zu spielen? Doch das war hier gar nicht nötig. So war er einerseits erleichtert darüber, andererseits fehlte ihm etwas. Was war eigentlich seine wahre Rolle im wahren Leben?

An diesem Abend ging er als Erster zu Bett, mit der Entschuldigung, dass nicht er die internationalen Zeitzonen erfunden habe. Alle lachten und wünschten ihm eine gute Nacht.

Und tatsächlich schlief John sehr gut in seinem bequemen Bett, nur leider hinderte ihn der Jetlag am Durchschlafen. Da seine innere Uhr immer noch auf die Zeit in Kalifornien eingestellt war, wachte er mitten in der Nacht um drei Uhr auf und fühlte sich putzmunter und unternehmungslustig. Er machte sich eine Tasse Tee und blickte hinaus auf die Wellen, die unten an das Ufer schlugen.

Auf einmal kam es über ihn, ohne dass er damit gerechnet hatte: Svea, er musste an seinen Abschied von Svea denken. Damals, in Torremolinos, hatten wir im Hippiehotel Isabel übernachtet. Am Abend waren John und ich an einen einsamen Strandabschnitt gegangen und hatten der untergehenden Sonne zugeschaut. Es wurde eine lange Nacht, vielleicht die längste in unserem Leben. John und ich saßen im Sand, und vor unseren geistigen Augen verschlang das dunkle Meer unsere geliebte Svea.

John überkam die Erinnerung hier und jetzt völlig unerwartet. Und es schien ihm, als sei alles plötzlich wieder Gegenwart.

John und ich saßen am Strand, hörten auf die plätschernden Wellen. Wir sprachen nicht über die tote Svea, wir sprachen mit ihr. Wir leisteten ihr Gesellschaft auf dieser ersten Etappe ihrer Reise ins Jenseits, der schwierigsten, weil die Trennung von der Erde so schmerzhaft und demütigend für sie gewesen war. Sie ließ uns in dieser Nacht wissen, wie gerne sie an die Liebe der Lebenden geglaubt hätte. An die Liebe jener, die in Gedanken immer bei ihr waren und deren Liebe sie getröstet hätte, wenn sie es nur hätte zulassen können. Sie sprach mit uns, vielleicht sprachen auch nur unsere Herzen im Gedenken an Svea mit uns über die Liebe, die man im Herzen eines anderen Menschen gesät hat. Liebe säen, immer wieder aufs Neue, weil das der Sinn des Lebens ist.

Von nun an musste John aus Erinnerungen unserer Zuneigung und Liebe unsere Gegenwart weben, John aus seinem heißen, unmöglich zu stillendem Begehren, aus vergilbten Gefängnisbriefen, die seine große Liebe niemals erreichen konnten. Ihm war ein unwiederbringlicher Verlust entstanden, eine jahrelange Liebessehnsucht im Sumpf tumben Rausches untergegangen.

„Mein Land hat ihren Tod verschuldet“, hatte er damals kurz nach Sveas Tod gesagt. „Von dort kommen die Drogen. Von dort kommt die Enttäuschung der Jugend, von dort kommt die vermeintliche Lösung jenes kriegerischen Daseins, das alte amerikanische Männer in aller Welt anzetteln. Die Lösung sind aber nicht Drogen.“

Ich hatte ihn reden lassen und ihm schweigend zugehört. Seine Sprechpausen waren von den sanften Wellenschlägen der Brandung gefüllt worden.

„Meine Regierung hat ihren Tod auf dem Gewissen, denn meine Jahre im Gefängnis – verbracht nur dafür, weil ich nicht bereit war, andere zu töten – haben Svea getötet. Wäre ich für sie dagewesen …“ Er hatte schluchzend abgebrochen.

Dann sprach er nur noch zum Meer, nur noch an sie gerichtet und schien mich völlig vergessen zu haben: „Hätte ich gewusst, dass du es nur so kurz auf dieser Welt aushalten würdest, dann hätte ich jede Fluchtchance genutzt. Ich hätte dich geheiratet und einen Palast gebaut, geschmückt mit Schätzen vom Grund des Meeres, mit Perlen, Korallen, mit Perlmutt, hätte dir jeden Wunsch von den Lippen abgelesen, dich ununterbrochen geliebt, fast eine Ewigkeit. Du hättest kein Rauschgift benötigt und hättest tausend Jahre gelebt.“

Er sprach zu ihr von den Liebkosungen, die er ihr vorbehalten hatte, den vielen Geschenken, mit denen er sie überrascht hätte, wie er sie rundum glücklich gemacht hätte. Kurz, er hatte alle Torheiten gesagt, die er ihr nie gesagt haben würde, wenn sie ihn wirklich hätte hören können.

In dieser Nacht, so glaubte ich damals, hatte er die Fähigkeit sorglos zu lieben für immer verloren. Ich war mir damals sicher, er würde nie mehr lachen oder einer liebevollen Illusion nachjagen können; nie wieder.

Aber als John jetzt den Wellenschlag des nordatlantischen Ozeans hörte, wurde ihm zugleich die Ferne der vergangenen Ereignisse bewusst. Er hatte wieder Fuß gefasst. Schon lange wieder. Er hatte irgendwann wieder lachen können, denn wie lange dauert »Nie wieder«? Aber verliebt hatte er sich nicht mehr, obwohl ihm viele Groupies und auch einige seiner Schauspielkolleginnen offen Avancen machten. Er hatte sie bisher beiseitegeschoben. Vielleicht sollte er sich doch wieder im echten Leben und nicht nur in den Fernseh-Soaps verlieben.

Den Rest der Nacht schlief er eher unruhig, und als er zum Breakfast hinunterging, fühlte er sich unausgeschlafen. Mehrere Gäste saßen bereits am Tisch und kommentierten mitfühlend seinen Jetlag. Eine nette ältere Dame namens Peggy, die Krankenschwester war, gab ihm gute Ratschläge. Er versprach zwar, sich daran zu halten, ließ sich aber doch dazu überreden, als alternatives Gegenmittel ein ausgiebiges irisches Frühstück zu probieren. Mrs. Ferry stellte eine Kanne mit Kaffee vor ihn hin und forderte ihn auf, sich selbst zu bedienen.

Nach dem Frühstück saß er noch bei einer letzten Tasse, als eine junge Frau namens Mara bereits den Tisch abräumte und Mrs. Ferry geschäftig mit Landkarten, Ferngläsern und Lunchpaketen für ihre Gäste hantierte. Als die letzten von ihnen gegangen waren, sah er, wie die Chefin erleichtert ihre Schultern sinken ließ. Dabei wurde ihm klar, wie viel Anspannung unter der ruhigen Oberfläche brodelte.

Sie drehte sich um und bemerkte prompt, dass er sie in diesem Augenblick beobachtete. „Wir haben erst vor wenigen Wochen geöffnet“, meinte sie entschuldigend. „Es waren davor drei harte Monate der Renovierung. Aber hat es sich nicht gelohnt?“

Mara sah zu ihrer Chefin hinüber und rief aus: „Und ob es sich gelohnt hat, Fiona! Alle unsere Gäste sind bisher mehr als glücklich. Ich hoffe auch Sie, Mister …“

„John“, sagte er und nickte zustimmend. „Ich habe mich noch nie auf Anhieb so wohl und zu Hause gefühlt“, pflichtete er den zwei Frauen bei. „Abgesehen davon, ist es mein erster Urlaub seit Jahren und ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie mir eine so spontane Buchung ermöglicht haben.“

John schien es, als mustere Mara ihn heimlich, so wie er gerade ihre Chefin gemustert hatte.

„Nun, John, was möchten Sie denn heute unternehmen?“, fragte Fiona. „Möchten Sie vielleicht noch eine Tasse Kaffee? Dann erzähle ich Ihnen, was hier so alles zu besichtigen ist.“

Sie unterhielten sich angeregt bei einer weiteren Kanne Kaffee, und dermaßen gestärkt trat John hinaus in den sonnigen, aber kalten Märztag und machte sich auf den Weg. Fiona Ferrys Rat folgend, marschierte er landeinwärts über eine einsame Straße, wo ihm große Schafe mit schwarzen Gesichtern und gedrehten Hörnern ent­gegenkamen. Oder waren das wilde Ziegen? In seiner Kindheit und Jugend hatte er wenig Zeit gehabt, die Natur zu studieren. Er hatte diesbezüglich noch einige Wissenslücken zu schließen.

Als er an einem kleinen Pub vorbeikam, trat er aus dem hellen kalten Sonnenschein in einen dunklen Raum, wo hinter einem kleinen Gitterrost ein Torffeuer brannte und ein halbes Dutzend Männer von ihren Biergläsern aufschaute und den Fremden interessiert musterte.

John grüßte freundlich. Er sei Amerikaner, fügte er unnötigerweise hinzu, und wohne in Honeyhouse. Mrs. Ferry habe ihm dieses Pub besonders empfohlen.

„Fiona Ferry. Die ist schwer in Ordnung.“ Der dicke Wirt schien sich über das Lob zu freuen und polierte seine Gläser noch eifriger als zuvor. „Sie hat fast ihr ganzes Leben in Amerika verbracht. Kennen Sie sie von drüben?“, fragte der alte Mann.

„Nein. Ich habe erst gestern am Flughafen in Donegal ihre Anzeige gesehen, und nun bin ich hier!“

War das wirklich erst gestern gewesen? Er fühlte sich bereits vollkommen losgelöst von seinem früheren stressigen Leben.

Ein schlanker großer Mann mit einer Pudelmütze auf dem Kopf betrachtete John forschend. Er hatte ein vom Feuer, vom Whisky oder vom Bier gerötetes Gesicht und große neugierige Augen.

„Kennen wir uns?“, fragte er John. „Sie kommen mir bekannt vor, als wären Sie nicht das erste Mal hier in Honeybridge.“

„Da müssen Sie sich täuschen oder ich habe vielleicht einen Doppelgänger hier“, antwortete John mit einem verspielten Lächeln um die Lippen. Immerhin war er nicht nur Sänger sondern auch Schauspieler.

„Na, Sie müssen ja wissen, ob Sie unser Fleckchen Erde schon einmal betreten haben“, schloss der Mann seine Nachfragerei ab und rückte sich die Pudelmütze zurecht.

„Sie haben wirklich ein schönes Fleckchen Erde hier. Am liebsten würde ich mit Ihnen tauschen.“

Johns Kompliment zerstreute die letzten Zweifel. Er hatte es mittlerweile zur Meisterschaft darin gebracht, von sich abzulenken, indem er Lob, Anerkennung oder vom Thema abweichende Fragen an seine Mitmenschen zurückgab.

„Fiona Ferry war mal mit einem Yankee verheiratet, müssen Sie wissen. Er ist bei einem schlimmen Verkehrsunfall ums Leben gekommen, der arme Mann“, fügte der rotgesichtige Mann hinzu.

„Das ist ja schrecklich“, meinte John.

„Sie war auch sehr geknickt. Aber eine wie sie lässt sich nicht so leicht unterkriegen. Sie ist hier in ihre alte Heimat zurückgekommen und hat von ihrem letzten Erspartem das heruntergekommene Anwesen gekauft, das Sie jetzt als Urlaubsparadies bewohnen.“

„Es steckt gewiss eine Menge Arbeit drin“, sagte John.

„Sie hat es gemeinsam mit ihrer Nichte Mara monatelang renoviert. Sie können sich nicht vorstellen, wie die beiden angepackt und ausgesehen haben. Kein Maurer, kein Schreiner und kein Malermeister hätte es anders gemacht.“

„Jetzt ist es ein überaus komfortables Hotel“, sagte John.

„Wenn Sie wieder drüben sind, werden Sie dann für Irland und dieses kleine Hotel die Werbetrommel rühren?“, fragte der Wirt.

„Natürlich werde ich das.“ Insgeheim fragte sich John jedoch, ob irgendjemand, den er aus seinem Showbiz-Leben kannte, freiwillig in diese Wildnis kommen würde. Aber er ließ sich nichts anmerken.

Dann ließen sie ihn allein mit seiner Hühnersuppe und seinem Guiness. Er fühlte sich wohl in ihrer Gesellschaft und hörte mit einem Ohr zu, wie sie über einen alten Sonderling namens Colin Johnson sprachen, der seinen klapprigen Lieferwagen knallgelb lackiert hatte, damit er ihn ohne Probleme überall wiederfinden würde. Colin war halb blind, fuhr aber immer noch durch die Gegend, obwohl er selbst mit Brille kaum noch etwas sah. Allerdings war er bisher stets unfallfrei gefahren.

Wie John dem Gespräch entnehmen konnte, hatte Colin nie geheiratet, führte aber ein regeres Gesellschaftsleben als sie alle miteinander und war überall ein gern gesehener Gast. Anscheinend war er auch ein großer Filmliebhaber, der mit seinem grellgelben Lieferwagen jede Woche dreißig Meilen in die nächste größere Stadt zurücklegte, um sich immer gleich zwei Filme hintereinander anzuschauen.

Wahrscheinlich will er so viel sehen wie er kann, so lange er überhaupt noch sehen kann, dachte John. Immer wieder bekam er Gesprächsfetzen mit, und er konnte sich das friedliche, anspruchslose Leben gut vorstellen, das dieser Colin Johnson führte, zufrieden mit dem, was das Schicksal für ihn vorgesehen hatte.

Neue Zeiten - 1990 etc.

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