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Schnäppchenjäger & Einflüsterer

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Am Abend des vierten Messetages, es ist der 14. März, ist der Bundeskanzler in Leipzig. Es ist sein sechster und letzter Auftritt in diesem Wahlkampftheater. Die westdeutschen Demoskopen prognostizieren noch immer eine Wahlniederlage des konservativen Wahlbündnisses namens »Allianz für Deutschland«. Allerdings wittert die internationale Presse bereits einen massiven Stimmungsumschwung zugunsten dieser konservativen Allianz, was man vor allem auf die bisherigen Auftritte Kohls zurückführt.

Genau dort, auf dem Karl-Marx-Platz, wo erst zwei Tage zuvor die letzte Montagsdemo stattgefunden hat, spricht Kohl. Er will demonstrieren, dass dieser Platz der seine ist. Sein politischer Freund, der erzkonservative Heinrich Lummer aus Westberlin, ein eingefleischter Kalter Krieger, spricht kreidesanft über die Einheit Deutschlands. Die rechtsradikalen Republikaner verteilen Flugblätter, Skinheads verbrennen Wahlbroschüren der SPD und des Neuen Forums, die Mitteldeutschen Nationaldemokraten bestehen größtenteils aus Westdeutschen NPDlern und skandieren »Deutschland den Deutschen!«

Deutschland den Deutschen! Na klar! Wem auch sonst? Ich erkenne im Fernsehen nur deutsche Politiker, die sich in Leipzig tummeln. Politiker, die Deutschland hüben wie drüben seit Jahrzehnten regieren. Aber dann stolpere ich über meine eigenen Gedanken. Waren diese Deutschen nicht teilweise sehr abhängig von ausländischen Freunden, Ratgebern, Finanziers, Bündnispartnern? Haben die Deutschen sich in der Vergangenheit unabhängig und souverän verhalten? Oder verhalten können?

Da musste ich über die völlig anders gemeinte Parole der Neonazis schmunzeln: »Ausländer raus!« Denn eines meinten diese rückwärtsgewandten Nationalisten ganz sicher nicht: Raus mit der NATO, raus mit dem Warschauer Pakt!

Doch genau das ist derzeit in der breiten Masse der West- wie Ostdeutschen eine heiß diskutierte Alternative zum bisherigen Kalten Krieg. Bürgerrechtler, die dafür und für eine behutsame Annäherung an Westdeutschland oder für die Eigenständigkeit der DDR als demokratischer Staat plädieren, werden neuerdings ausgepfiffen. 20.000 Schaulustige waren am Montag zur traditionellen Demo gekommen. Heute, zwei Tage später, wollen fast 250.000 Menschen Helmut Kohl hören. Da es keine Zoll- oder Gewerbekontrollen mehr zu geben scheint, sind westdeutsche Bier- und Bratwurststände überall in der Stadt. Leipzigs Straßen sind am Abend völlig zugemüllt. Ein westdeutsches Bier kostet fünf Mark Ost. Ein gutes DDR-Bier kostet immer noch 80 DDR-Pfennige. Dennoch ist der Westbier-Umsatz gigantisch.

Als Kohl für seine Rede zum Balkon der Oper emporsteigt, sieht man ihm den Ärger aus den letzten Tagen an. Er hat die Endgültigkeit der Oder-Neiße-Linie, die Grenze zu Polen, bei einem Auftritt mit dem US-Präsi­denten George H.W. Bush in Frage gestellt. In Ost wie West ist man immer noch gleichermaßen entsetzt. Kohl gefährdet mit dieser revanchistischen Position den Erfolg seiner wahlpolitischen Aufholjagd. Er versucht zu besänftigen – ein zukünftiger gesamtdeutscher Souverän möge darüber entscheiden.

Ebenso verhängnisvoll trifft Kohl der Fall Schnur. Der Spitzenkandidat der konservativen Allianz, Wolfgang Schnur, ist am Tag vor Kohls Rede als Spitzel der Stasi entlarvt worden. Er hatte bereits Modrows Runden Tisch wegen Korruptionsvorwürfen verlassen müssen, wurde aber dennoch von der West- wie Ost-CDU als möglicher DDR-Ministerpräsident gehandelt. Jetzt ist Schnur hinfällig. Kohl spielt diesen politischen Super-GAU vor seinem Leipziger Auftritt auf einer Pressekonferenz herunter. Er hat die Gabe, diesen Skandal in einer Art Zauberzylinder einfach verschwinden zu lassen.

Die Menschen vor der Oper scheinen nicht sonderlich daran interessiert, wer der neue Spitzenkandidat der sowieso etwas undurchsichtigen »Allianz für Deutschland« wird. Sie wollen nur Kohl feiern. Auch Detlef Scheunert ist nach Messeschluss in die Innenstadt gefahren, um zu hören, was der westdeutsche Kanzler zu sagen hat. Sein Minister hatte ihm mit auf den Weg gegeben: „Jetzt kannste mal sehen, wie die im Westen das Ding umdrehen.“

Als der Strom bei Kohls Rede ein paar Mal ausfällt, witzelt der West-Kanzler, das sei wahrscheinlich die Stasi. Die Menschen lachen. Und ganz zum Schluss sagt Kohl etwas Verblüffendes: „Ich kann Ihnen kein Versprechen abgeben, wie es manche tun zum Thema Währungsumstellung, weil wir mitten in Verhandlungen sind. Und weil ich es nicht mag, dass Versprechungen abgegeben wer­den vor der Wahl, die nach der Wahl nicht eingehalten werden.“

Noch vor ein paar Tagen hat er auf einer Wahlveranstaltung in Cottbus versprochen, die Sparguthaben würden bei der Währungsunion selbstverständlich im Verhältnis 1 zu 1 umgestellt werden. Und nun das. Doch die Menschen scheinen dieses Hin und Her gar nicht zu registrieren. Ihrer ausgelassenen Stimmung tut die Kehrtwende keinen Abbruch. Schließlich sagt Kohl: „Herr Modrow wollte über 15 Milliarden, und mir wurde vorgeworfen, ich würde die Menschen aufgeben hier in der DDR, das genaue Gegenteil ist der Fall. Ich war nicht bereit, gutes Geld in ein schlechtes System zu investieren.“

Frenetischer Jubel brandet auf, »Helmut«-Sprechchöre erheben sich. Lauter werden die Menschen an diesem Abend nicht mehr sein. Der bundesdeutsche Kanzler hat soeben verkündet, dass er die DDR die nächsten Monate ausbluten lassen wird.

Detlef Scheunert glaubt, dass es bei den Sportpalast-Veranstaltungen in der Nazi-Zeit ähnlich gewesen sein muss. Die Menschen sind wie berauscht, sie skandieren wieder »Helmut! Helmut!« Immer wieder spricht der Kanzler sie als »liebe Landsleute« an. Landsleute, wer hätte die Ostdeutschen sonst so genannt, fragt sich Scheunert und hört Kohl sagen: „Ich bin sicher, dass wir in wenigen Jahren unter der Voraussetzung einer vernünftigen Politik hier in Leipzig, in Sachsen und überall in der DDR erleben werden, dass auch hier ein Wirtschaftswunder möglich sein wird.“

Und dann sagt er noch: „Es stehen Tausende von Unternehmungen in der Bundesrepublik bereit, weltweit operierende Konzerne und kleine Handwerksbetriebe, hierher zu kommen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen.“

Tatsächlich sind die Konzerne schon lange da. Nicht nur die Deutsche Bank hat ihren Deal mit der Kreditbank von Edgar Most detailliert vorbereitet. Auch Siemens hat ein Büro »Verbindungsstelle DDR« in Berlin, das Dossiers über interessante Ostbetriebe führt. Der größte deutsche Elektronikhersteller konnte so bis zur Leipziger Messer bereits Verträge mit 26 ostdeutschen Unternehmen abschließen. Das Unternehmen aus München ist scharf darauf, die Lizenz zum Telefonieren zu bekommen. Die Siemens-Strategen wissen, dass die ganze Infrastruktur, die Kraftwerke, die Kommunikationsnetze in der DDR modernisiert werden müssen. Das ist das Kerngeschäft des bundesdeutschen Multis, der schon jetzt jährlich über 60 Milliarden umsetzt.

Später wird die neue DDR-Regierung an Siemens ebenso wenig wie an den vielen anderen westdeutschen Großkonzernen vorbeikommen. Thyssen hat bereits mehrere Kooperationsverträge abgeschlossen, darunter mit dem lukrativsten Volkseigenen Betrieb der DDR, dem »Außenhandelsbetrieb Metallurgie-Handel«, der das Stahlgeschäft der DDR im Ausland abwickelt. Das Ostunternehmen verfügt über erhebliche liquide Mittel und weist einen Umsatz von 34 Milliarden Ostmark aus.

Bereits seit Dezember 1989 sind die größten bundesdeutschen Energiekonzerne in der DDR aktiv. Um auf Nummer sicher zu gehen, haben sie die Betriebsleiter vieler VEB an Weihnachten zu privaten Feiern eingeladen. So will man sie an die zukünftig bestimmenden Partner binden. Die Preussag AG mietet Busse, mit denen sie Emissäre in den Osten schickt. Sie besuchen ein Kraftwerk nach dem anderen und versuchen, die Kraftwerksleiter auf ihre Seite zu bringen. Es startet eine einzigartige kapitalistische Missionierung.

Derweil fahren Aufkäufer der bundesdeutschen Handelsketten durch die DDR und kaufen Großimmobilien auf. Die Realkauf-Kette lässt sich über den Generaldirektor des Kombinats »Waren des täglichen Bedarfs« die Rechte an sieben großen Immobilien in Leipzig über­schreiben. Raab Karcher, die Tochter des Energiekonzerns VEBA, sichert sich ein Exklusivrecht in den größeren Städten Mecklenburg-Vorpommerns, sodass nur Raab hier Baumärkte errichten darf.

Die westlichen Heilsbringer nutzen das Machtvakuum schamlos aus, bevor die Wahlsieger die Situation beeinflussen können. Und bevor die Treuhandanstalt überhaupt etabliert ist.

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