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Wahlsieger & Kunsthaar & Barschel

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Werden die Wahlsieger ihr Wort halten oder wird Gott ihnen gnädig sein müssen? Aus der Wahl geht überraschend die CDU-Ost als großer Sieger hervor. Sie allein konnte ohne ihre Partner der »Allianz für Deutschland« über 40 Prozent der Stimmen gewinnen. Die Bürgerrechtsparteien und die SPD-Ost werden vernichtend geschlagen. Die PDS erringt mit 16 Prozent mehr Stimmen als alle Parteien der Bürgerrechtsbewegung zusammen und nur fünf Prozent weniger als die SPD. Otto Schily von den Grünen hält stumm eine Banane in die Kameras, als er gefragt wird, warum die DDR-Bürger sich so entschieden hätten. Der konservative Westberliner Ex-Bürgermeister Eberhard Diepgen dagegen jubelt laut: „Das bedeutet das Ende der DDR.“

Die DDR endgültig abzuschaffen und zuvor die Einheit auszuhandeln, fällt nun dem CDU-Spitzenkandidaten und Wahlsieger Lothar de Maizière zu. Noch vor Kurzem, bei seinem ersten Besuch in Bonn im Januar, stand er vor der Parteizentrale und wartete vergeblich darauf, dass man ihn einließ. Erst Fritz Holzwarth, ehemals Bürochef von Heiner Geißler und jetzt Abteilungsleiter für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der CDU, wird auf ihn aufmerksam und bittet ihn herein. Er wird letztlich der Mentor von de Maizière, schreibt dessen Reden, stimmt die Strategie ab, sortiert jene Berater aus, die der konservativen Parteipolitik zuwiderlaufen. Holzwarth selber spricht über seine Rolle im Wahlkampfteam von Lothar de Maizière nicht öffentlich. Der westdeutsche CDU-Einfluss soll verborgen bleiben.

Inzwischen laufen die heimlichen Deals zwischen Ex-SEDler Edgar Most von der DDR-Staatsbank und dem finanzkapitalistischen Headquarter, der Deutschen Bank. Auch zwischen dem Allianz-Konzern und der Staatlichen Versicherung der DDR wie auch zwischen zig anderen westdeutschen Großunternehmen und den noch »Volkseigenen« Betrieben werden stillschweigend Deals abgeschlossen.

Solche Deals sollte eine Treuhandanstalt eigentlich verhindern, doch die nimmt erst einen Tag nach der Wahl ihre Arbeit auf. Drei Tage zuvor hat sie überhaupt erst ihr Statut erhalten. Chef der Treuhand wird Peter Moreth von den Liberal-Demokraten der DDR. Er ist als stellvertretender Ministerpräsident an den Runden Tisch abgeordnet und kennt von daher Gebhardt und seine „Volkseigentümler“. Ihre sozial gerechte und ökono­misch berechtigte Idee ist akzeptiert. Jetzt geht es um die Umsetzung.

Moreth soll nun die Treuhand aus dem Boden stampfen. Die Fachleute dazu holt er aus den Ministerien für Industrie und Wirtschaft sowie aus der Plankommission. Noch braucht die Treuhand wenig Platz und kommt in ein paar Räumen im Außenhandelsministerium unter. Von der Öffentlichkeit wird die neue Behörde, die das Volkseigentum dem Volk erhalten soll, kaum beachtet.

Im Kunsthaar-Institut schaut der Staatsanwalt Dr. Ortmann drohenden Blickes zum entlarvten Hochstapler auf. Postel schüttelt ihm die Hand und sagt zum Abschied ganz fürsorglich: „Bitte denken Sie daran: das implantierte Kunsthaar nie föhnen, sonst ist es futsch und die sauer ersparten 60 Mille gleich mit. Also, alles Gute, Dr. Ortmann!“

Unter dem Vorwand, indisponiert zu sein, bittet Postel seinen Kollegen Dr. Warga, an seiner Stelle die Behandlung von Dr. Ortmann zu übernehmen. Dann verlässt er mit seinen Habseligkeiten das Institut, gibt Mandy, die ihm beim Ausgang über den Weg läuft, noch einen Kuss – den ersten und letzten. Postel begibt sich schnurstracks zum Bahnhof, um den Zug nach Münster zu besteigen, in der freudigen Erwartung, sich wieder ohne Ablenkung ganz seinem geliebten Theologiestudium widmen zu können.

Dem Kunsthaar-Chef schreibt er am nächsten Tag einen Dreizeiler, in welchem er ihm mitteilt, dass es für ihn nach der vorgeschlagenen Gehaltskürzung angesichts seiner Qualifikation keine Basis für eine weitere Zusammenarbeit gebe. Sein Verhalten enttäusche ihn. Finan­zielle Ansprüche, so schließt er den Brief, hätte er keine mehr. Das war im Übrigen die reine Wahrheit, denn er hatte gerade erst sein wöchentliches Salär ausgezahlt bekommen.

Von Dr. Ortmann hat er nie wieder etwas gehört. Umgekehrt sollte es nur wenige Jahre dauern, bis der Staatsanwalt in den Zeitungen liest, dass Gert Postel zwischenzeitlich vom Dermatologen über ein Theologiestudium bis zum Chef einer großen Nerven-Klinik im Beitrittsgebiet Ost sowie zum Psychiatrischen Generalgutachter der sächsischen Gerichte aufgestiegen ist. Aber eilen wir den Ereignissen nicht voraus.

Zur gleichen Zeit, Mitte März 1990, macht sich der Lübecker Oberstaatsanwalt Heinrich Wille noch einmal Gedanken zum Fall des bekannten CDU-Politikers und ehemaligen Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, Uwe Barschel. Er soll sich angeblich selbst getötet haben. Wille hat keine Befugnis, in diesem merkwürdigen Todesfall zu ermitteln. Aber instinktiv trägt er alles zusammen, was er zu fassen kriegt – als ahne er, dass ihm in zwei Jahren die Ermittlungen offiziell übertragen werden.

Bei Barschel wurden Aufzeichnungen gefunden, die auf ein Treffen mit einem gewissen »Roloff« hindeuten. Doch Wille denkt darüber nach, was bestimmte Zeitungen in Erwägung ziehen: Hat Barschel die Aufzeichnungen nur als falsche Spur gelegt? Um seinen Selbstmord als Mord aussehen zu lassen? Oder hatte er diese Notizen nur entworfen, um sich eine Legende für seine unmittelbar bevorstehende Vernehmung vor dem Untersuchungsausschuss des Landtages zu stricken? Doch Wille erscheint es wenig plausibel, dass der Schreiber eine solche Phantasiegeschichte mit einer Reihe von persönlichen Details ausgeschmückt hätte.

Also, denkt Wille, bleibt noch die Möglichkeit, dass jener »Roloff« vielleicht wirklich existiert. Könnte es nicht doch der in kleineren Fällen bisher mehrfach aufgeflogene Hochstapler Gert Postel sein, der sich vor längerer Zeit vor der Presse selbst bezichtigt hatte, jener Roloff zu sein? Aber inzwischen hat Wille herausgefunden, dass Postel seine Hochstaplerkarriere als vermeintlicher Amtsarzt Dr. Dr. Clemens Bartholdy in Flensburg begann und dass er zum Bekanntenkreis Reiner Pfeiffers gehört, der den politischen Absturz Barschels ins Rollen gebracht hatte. Inzwischen schien Postel jedoch wieder in der Versenkung verschwunden zu sein.

Als Oberstaatsanwalt Wille am Abend beim Heringsessen mit seiner Frau die Sache erörtert, berichtet er ihr von einem Anruf eines hochrangigen Redakteurs einer sehr großen deutschen Tageszeitung. Der Redakteur wusste, dass sich Wille gewissermaßen privat mit dem Fall Barschel beschäftigte.

„Was halten Sie von Postels Selbstbezichtigung?“, hatte er Heinrich Wille gefragt. Unter Hinweis darauf, dass Postel dies in förmlichen Vernehmungen gegenüber den Schweizer Kollegen nicht erwähnt habe, gab Wille dem Redakteur dafür die Erklärung: „Bei den Strafverfolgungsbehörden gibt es kein Geld.“

„Und wie siehst du das heute?“, fragt Willes Frau.

„Vor dem Hintergrund all dieser Überlegungen erscheint es als glaubwürdig, die Identität des »Roloff« und ein Treffen mit diesem angeblichen Unbekannten als Legende zu qualifizieren.“

„Du traust der Sache nicht?“

„Ich glaube nicht, dass es einen »Roloff« gibt“, antwortet Heinrich Wille und kratzt die Kartoffelreste auf seinem Teller zusammen. Er liebt eine zünftige Heringsmahlzeit, und er liebt seine Frau.

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