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Postel fliegt auf

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In der Zwischenzeit war Gert Postels Arbeit als selbsterfundener Dermatologe insgesamt recht angenehm und kurzweilig verlaufen. Dreimal pro Woche spritzen brachte ihm monatlich 16.000 DM. Er arbeitete eine Zeit lang auch in Thessaloniki mit Patienten, die ihren gesamten griechischen Familienanhang mitbrachten. Da »Mutti«, die Frau des Haarinstitut-Besitzers, das ölige Essen der Griechen nicht mochte und zu Hause blieb, durfte Mandy im Hotelzimmer des Chefs übernachten. Abends, nach getaner Arbeit, veranstaltete er jedes Mal mit der ganzen Belegschaft eine große Sause in gemütlichen Restaurants. Überhaupt war er hier und in Abwesenheit von »Mutti« immer sehr aufgeschlossen. Vielleicht tat Mandy dazu ihr übriges. Wahrscheinlich war es auch die phantastische Tatsache, dass hier die Einkünfte der Landessitte entsprechend als vollständig steuerfrei galten.

Zurück in Deutschland, ließ sich einmal ein berühmter Unterhaltungskünstler in einem Hamburger First-Class-Hotel unter großer Geheimhaltung Haare implantieren. Nur wenige Haare – und auch nur an einer bestimmten Stelle seines Kopfes. Der berufsmäßige Spaßvogel blieb während der ganzen Behandlung sehr ernst.

Medizinisch hatte sich Postel im Institut bisher nichts zuschulden kommen lassen. Er führte sogar eine spritzige Innovation ein, die die Implantation schmerzfreier und das Nachspritzen überflüssig machte. Er verdoppelte einfach das zu spritzende Anästhetikum.

Doch heute – es ist der Tag vor der entscheidenden Wahl in der DDR – läutete sein abruptes letztes Stündlein in diesem außerordentlich lukrativen Implantations-Institut. Und das kam so: Einmal hatte der Chef im Zuge der beängstigenden Expansion seines Unternehmens einen Unternehmensberater engagiert, der nach einer Analyse der Personalkosten vorschlug, Postels Honorar dem des Dr. Warga anzugleichen. Das bedeutete de facto, dass Postel in Zukunft nur noch 9.000 Mark im Monat verdienen sollte. Nun war auch das immerhin noch eine schöne Summe Geldes, und er hätte sich damit durchaus auch abfinden können.

Doch da war noch ein anderer Aspekt dieses Vorschlags, nämlich die darin enthaltene Abwertung von Postels Persönlichkeit. Das konnte der Hochstapler nicht verkraften. Es ist tatsächlich so, dass es mit dem Selbstbewusstsein dieser Art Persönlichkeiten nicht zum Besten bestellt ist. Ihr hochgemutes, scheinbar selbstsicheres, manchmal auch herrisches Auftreten ist nicht Ausdruck eines ebensolchen Charakters. Vielmehr ist ihr wahres Ich zuweilen kleinlaut, ängstlich und vollkommen unfähig, Aggressionen anderer länger auszuhalten. In solchem Fall blieb Postel nur die Pose des beleidigten Rückzugs. Alles andere konnte er sich nicht leisten. Zurückschlagen konnte er nur, wenn er das sichere Gefühl hatte, über genügend und über stärkere Bundesgenossen zu verfügen.

Schon wenn er eine Situation nicht genau einschätzen konnte, zog Postel sich lieber zurück. Sein oberstes Prinzip war es, unter allen Umständen irgendwelche demütigende Situationen zu vermeiden. Einen Tag, nachdem er von den Gehaltskürzungsplänen erfahren hatte, geschah etwas, das ihn endgültig davon überzeugte, es sei klüger die Institutstätigkeit so schnell wie möglich zu beenden.

Am frühen Vormittag wurde er gerufen, um einen Patienten lokal zu betäuben, von dem er durch einen kurzen Blick in die Patientenakte wusste, dass es sich um einen Juristen aus dem norddeutschen Raum handelte. Im Institut war es üblich, dass die Implanterinnen, bevor sie dem Arzt Bescheid sagen, den Patienten bereits auf dem Stuhl fixiert, die Kopfhaut mit Alkohol desinfiziert und das Spritzbesteck samt den Ampullen bereitgelegt haben.

Gert Postel, angetan mit Haube, Mundschutz und Arztkitte, betrat also in Begleitung von Mandy und ihrer Kollegin den Behandlungsraum. Er sah einen Glatzkopf von hinten im Behandlungsstuhl, stellte sich halb seitlich vor ihn, ergriff seine auf der Armlehne liegende Hand, schüttelte sie und sagte: „Ich bin Dr. Postel; ich werde jetzt bei Ihnen eine lokale Betäubung durchführen. Sind Sie allergisch gegen irgendetwas?“

Der Patient erwiderte überraschend: „Kann ich mit Ihnen einen Moment unter vier Augen sprechen?“

Postel hatte ein ungutes Gefühl, weil ihm die Stimme irgendwie bekannt vorkam und weil der Patient ihn, den vermeintlichen Arzt, unter Weglassung des Doktortitels angesprochen hatte. Gleichwohl antwortete Postel souverän: „Unsere Mitarbeiterinnen unterliegen alle der ärztlichen Schweigepflicht, aber ich kann sie bitten, einen Moment den Raum zu verlassen.“ Ein Blick von Postel reichte und die beiden Damen verschwanden.

Sobald sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte, sagte der Patient: „Ich habe starke allergische Reak­tionen gegen Wiederholungstäter, oder tue ich Ihnen etwa Unrecht, Herr Postel? Haben Sie vielleicht ehrlich das Abitur gemacht und Medizin studiert und promoviert und, und, und …?“

Postel fiel es wie Schuppen von den Augen. Er hatte sich von der Berufsbezeichnung »Jurist« täuschen lassen. »Jurist« klang so neutral, so nach Syndikus-Anwalt. Aber natürlich – auch wenn man bei der Strafjustiz in Norddeutschland tätig war, konnte man ja diese Berufsbezeichnung angeben. Vor Postel auf dem Behandlungs­stuhl lag niemand anderes als Dr. Ortmann, der sich einst um die Ahndung seiner frühen Hochstapeleien gekümmert hatte. Erkannt hatte Postel ihn unter anderem deshalb nicht, weil er bislang ein Toupet getragen hatte.

Eigentlich sollte Richtern und Staatsanwälten aus Gründen der Wahrheit das Tragen von Toupets untersagt werden, dachte Postel. Ein Berufsstand, der so stark der Wahrheitsfindung verpflichtet ist, sollte mit einer wandelnden Unwahrheit, einer ständigen Täuschung, wie sie ein Toupet nun einmal darstellt, nichts zu tun haben. Dieser Gedanke half ihm in der konkreten Situation allerdings nicht weiter.

Postel überlegte hin und her, wer von ihnen beiden in der misslicheren Lage sei – der Staatsanwalt, fixiert auf dem Behandlungsstuhl und schon um 60.000 Mark erleichtert, auf der Suche nach einem dynamisch-jüngeren Aussehen und nun vielleicht gezwungen, die näheren Umstände von Postels Enttarnung in öffentlicher Hauptverhandlung zu bekunden. Oder er, Postel, als neu entdeckter falscher Arzt.

Da ihm in diesem Moment sowieso alles gleichgültig war, sagte er ganz ruhig: „Nach dieser Art von Allergien habe ich nicht gefragt. Mich interessiert nur, ob Sie das von uns verwendete Anästhetikum vertragen. Ich spritze im Übrigen hervorragend und vergleichsweise schmerzfrei. Wenn Sie jedoch eine Betäubungsspritze durch unseren Herrn Dr. Warga wünschen, lässt sich das ohne weiteres arrangieren. Er stünde in fünf Minuten zur Verfügung.“

Dr. Ortmann sah aus seiner fixierten Liegeposition leicht gequält zu Postel auf.

Postel wich seinem Blick nicht aus. „Sie können natürlich einen Skandal machen“, sagte er, „mich anzeigen und dann vor Gericht gegen mich aussagen. Ich würde in einem Prozess sowieso schweigen und könnte Ihnen daher ein Erscheinen als Zeuge nicht ersparen. Ob Ihr Auftritt sich vor Ihrer Heimatpresse, vor Ihrer Dienststelle wirklich geheim halten ließe, kann ich selbstverständlich nicht garantieren. Immerhin haben meine Prozesse stets einige Aufmerksamkeit gefunden.“

Da Dr. Ortmann noch immer nichts erwiderte, holte Postel nach einer kurzen Pause zum letzten Schlag aus: „Wie ich hier aus Ihren Unterlagen ersehe, haben sie heute Morgen 60.000 Deutsche Mark eingezahlt. Die Dame im Sekretariat hat schon geflucht, weil »der Jurist aus Norddeutschland« in kleinen Scheinen, in 10ern, 20ern, 50ern und 100ern gezahlt hat und sie fast eine halbe Stunde mit Nachzählen beschäftigt war. Stammt das direkt aus dem Sparstrumpf? Oder hat Ihnen das ein Bekannter geliehen oder zahlt Ihre Bank Darlehen dieser Größenordnung in so winziger Stückelung aus? Ich will da nichts unterstellen. Ich frage ja nur.“

„Na, Postel, treiben Sie es nicht zu bunt. Sie sind schneller im Gefängnis, als Sie glauben“, sagte der Staatsanwalt mit quäkender, um Entschlossenheit bemühter Stimme.

„Dr. Ortmann, darf ich Ihnen einen Vorschlag zur Güte machen? Ich kündige meinen Job hier noch heute und Sie lassen sich von Dr. Warga spritzen. Wir beide haben uns hier nie gesehen. Was halten Sie davon?“

Nach außen hin belehrend und großzügig, aber eigentlich mit spürbarer Erleichterung in der Stimme antwortete der Staatsanwalt: „Uns Strafjuristen kommt es schließlich aufs Ergebnis an. Wenn ich Sie wirklich zur Beendigung dieser strafbaren Tätigkeit bewegen kann, dann lässt sich Ihr Vorschlag schon hören. Spritzt denn Dr. Warga gut und hat er wenigstens Medizin studiert?“

„Er ist ein echter und erfahrener Arzt. Als Kettenraucher zittert er natürlich manchmal beim Ansetzen der Spritze, und das kann vorübergehend ein bisschen weh tun. Aber darüber sind wir uns ja wohl einig: Wer Gerechtigkeit will, muss dafür auch Opfer bringen.“

„Also gut, Postel“, sagte Dr. Ortmann. „Holen Sie mir den Warga. Wenn ich heute Abend dieses Etablissement verlasse, will ich Sie hier nicht mehr sehen. Und im Übrigen: Glauben Sie ja nicht, dass Sie mich mit dieser blöden Kunsthaargeschichte irgendwie erpressen können. Da ich Sie nun wirklich rein außerdienstlich hier angetroffen habe, bin ich nicht verpflichtet, Sie anzuzeigen, und werde es auch nicht tun. Wenn Sie aber Ihr Wort nicht halten, dann gnade Ihnen Gott!“

Neue Zeiten - 1990 etc.

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