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Die DDR-zieht`s ins Blaue

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„Das wäre einmalig, Herr de Maizière!“, ruft Holzwarth aus. Noch am Vorabend des Wahltages hatten sich weder der Ost-CDUler Lothar de Maiziere noch sein Bonner CDU-Manager Holzwarth vorstellen können, dass der christdemokratische Spitzenkandidat tatsächlich Ministerpräsident der DDR werden könnte. Doch das ist nach dem deutlichen Wahlergebnis keine Frage mehr. An dem Anwalt führt kein Weg vorbei, auch wenn der Bundeskanzler ihn noch immer nicht ganz ernst zu nehmen scheint.

De Maizière mag Kohl ebenfalls nicht. Als der bescheidene, fast asketische Ostdeutsche Helmut Kohl zum ersten Mal trifft, beobachtete er verwundert, wie der Bundeskanzler zwölf Stück Kuchen verschlingt.

Mit Hilfe von Holzwarth und anderen Bonner CDU-Strategen schmiedet de Maizière Pläne für die Währungsunion und die Einheit. Da sich die Koalitionsverhandlungen als äußerst kompliziert erweisen, führt die Regierung des PDS-Politikers Modrow die Amtsgeschäfte weiter und kontrolliert damit auch die Treuhand.

Anfang April arbeiten 72 Mitarbeiter in der Zentrale gegenüber der Russischen Botschaft Unter den Linden. Die 15 Außenstellen sind nur spärlich besetzt. Betrieb für Betrieb sollen die Mitarbeiter der neuen Behörde die sozialistischen Wirtschaftseinheiten in Gesellschaften mit beschränkter Haftung, also in GmbH-Unternehmen, umwandeln. Die erste Bestandsaufnahme ergibt 7.894 Volkseigene Betriebe, die auf einen Schlag in Kapitalgesellschaften umgewandelt werden sollen.

Für Detlef Scheunert brechen neue Zeiten an. Alle seine Kollegen, die bis dahin ihren Posten nicht verlassen haben, verfassen mit ihm gemeinsam einen Bericht, der dem zukünftigen neuen Herren einen Überblick über die chaotischen Zustände in vielen volkseigenen Kombinaten geben soll. Die Vorlage trägt Scheunerts exakte Handschrift. Seine Tugenden: Preußisch-sozialistische Korrektheit. Pflichtbewusstsein. Bürgerliche Ordnung in einer Zeit der Unordnung.

Der Wahlsieger hat fast vier Wochen gebraucht, um die Partner seiner Regierungskoalition auf ein Programm festzulegen. Er hat eine große Koalition mit der SPD, der »Allianz« und liberalen Parteien gebildet. Als erstes werden die vielen Ministerien, die für die DDR-Industrie zuständig waren, zu einem einzigen Wirtschaftsministerium zusammengeschmolzen. Aus der zentralistisch-sozialistischen Plan-Struktur wird ein superzentralistisch-kapitalistisches Einheitsministerium. Wie im Westen, so nennt man es auch hier jetzt einfach »Wirtschaftsministerium«. Chef des neuen Ministeriums wird Gerhard Pohl, CDU-Mitglied, Volkskammermitglied schon unter der SED, ehemals in einem Feintuchwerk in der Lausitz als Ingenieur und stellvertretender Leiter tätig.

Scheunert rechnet täglich mit seinem Rauswurf, schließlich ist er Offizier der Nationalen Volksarmee und noch immer ein systemrelevanter Spitzenkader. Doch er kann bleiben. Es ist die Gnade der späten Geburt, malt er sich aus. Und so wird ihm ein Referentenposten beim Wirtschaftsminister für die neu gewählte Volkskammer angeboten. Er freut sich auf die neue Aufgabe, auf die neuen Zeiten, die demokratischer als je zuvor werden sollen. Ihn stört nicht, dass man ihn in seinem Freundeskreis »Wendehals« nennt. Mit solchen Freunden kann er bald schon nichts mehr anfangen.

Eben hat er noch für die »Roten« gearbeitet, jetzt hat er umgespult und arbeitet anstandslos für die »Schwarzen«. „Wie geht so etwas?“, fragen sich alle, die ihm jahrelang nahe standen. Detlef Scheunert kann darüber hinweghören, er denkt an seine Karriere und stürzt sich in die Arbeit. Schließlich muss er seine kleine Familie ernähren.

Scheunert sieht sich das neue Theater in der Volkskammer an. Mit Interesse beobachtet er die in Verwaltungs- und politischen Führungsaufgaben völlig unerfahrenen neuen Abgeordneten. Sie sollen jetzt – wenn es nach den westlichen Beratern geht – möglichst schnell über die deutsche Einheit und die Abschaffung der DDR entscheiden.

Insoweit wundert es ihn nicht, dass überall in der Volkskammer Westdeutsche präsent sind. Selbst die Volkskammer-Präsidentin Sabine Bergmann-Pohl hat Instrukteure aus dem Westen, die nebenan in einem eigenen Büro sitzen, wo ihre Telefonleitungen nach Bonn heiß laufen.

Eigentlich sind wir nur Statisten oder Marionetten, denkt Scheunert. Die Westparteien – CDU, SPD, FDP, die Grünen – sie alle haben Einflüsterer in den Osten geschickt. Doch nicht nur politische Einflussagenten lernt Scheunert kennen, auch Konzernlobbyisten kreuzen seinen Weg. Er erkennt die Wessis „nach fünf Sekunden“ an der Kleidung, an den teuren Anzügen und an den feinen Leder-Slippern aus Italien – und an ihrem schnippisch-arroganten Benehmen. Sie sitzen in der Lobby der Volkskammer, wandeln auf ihren Fluren, teure Aktentaschen und Laptops in der Hand, und reden auf die neuen Abgeordneten ein. Manche Ostdeutsche fallen durch bunte Krawatten zu grauen Anzügen aus 55 Prozent Polyester auf, »Made in Yugoslavia«.

Detlef Scheunert kommt ins Staunen, weil die Abgeordneten der DSU, des ostdeutschen CSU-Ablegers, plötzlich brandneue Dienstwagen von Audi fahren. Der Autokonzern aus dem bayrischen Ingolstadt war großzügig. Ganz ohne Hintergedanken?, fragt er sich. Aber Scheunert ist nicht naiv. Er weiß, dass die neuen Wirtschaftsbosse nichts dem Zufall überlassen werden. Die Ge­schäftsanbahnungen seit Ende 1989 sollen problemlos weiterlaufen.

Die neu gewählte Volkskammer sollte eigentlich zum ersten Mal völlig unabhängig von äußerlichen Einflüssen sein. Nun ist sie zwar nicht mehr dem Einfluss der alten Herren von der SED, dafür aber dem der dyna­mischen Lobbyisten und rührigen Einflüsterern aus dem gelobten Land ausgesetzt. Ein unheiliges Unterfangen.

Der DDR-Energiesektor ist vom bisherigen Staat monopolistisch organisiert. Fünfzehn Energiekombinate, gelenkt von einer zentralen Führung, produzieren Strom für das ganze Land. Für die westdeutschen Eroberer ist das ein paradiesischer Zustand. Wenn sie die Kombinatsführung unter Kontrolle bringen, haben sie das gesamte Energiegeschäft des Landes im Griff.

Der Strommarkt in Westdeutschland wird von einem Oligopol beherrscht. Nur acht Konzerne haben hier das Sagen. Sie haben alles abgesprochen und unter sich aufgeteilt. Wettbewerb gibt es so gut wie nicht. Das sogenannte Kartellamt befindet sich in Sachen westdeutscher Energiepolitik seit Jahrzehnten im Winterschlaf. Die Lobbyisten der Energiekonzerne reden den DDR-Abgeordneten ein, dass im Energiesektor alles rasch geregelt werden müsse, sonst drohten den Ostdeutschen Stromausfälle und ein kalter Winter.

Hätten die Abgeordneten die Sprüche des Jürgen Harksen gekannt, hätten sie sich nicht zur unnötigen Eile drängen lassen. Denn eine von Harksens elementaren Devisen hieß: Nicht alle, aber manche Kunden muss man zeitlich unter Entscheidungsdruck setzen – dann kann der Betrugsversuch nicht vorzeitig auffliegen. Kritische Nachfragen und „Überschlafen“ einer Entscheidung sind in manchen Situationen Gift im Getriebe von Giftmischern.

Nicht auf ganzer Linie sind sich die westdeutschen Stromer einig. Die drei größten Konzerne, die VEBA-Tochter PreussenElektra, RWE und die Bayernwerk AG, haben sich zu einem Konsortium zusammengeschlossen. Sie wollen nicht mit den fünf Kleineren teilen. Sie wollen den DDR-Energiesektor komplett für sich. Sie setzen die Volkskammer und die neue Maizière-Regierung gehörig unter Druck. Wenn sie nicht den Zuschlag erhalten, sei die Energieversorgung der DDR in großer Gefahr.

Scheunert hatte gedacht, dass in einer neuen DDR die Wirtschaftspolitik von freiem Wettbewerb, von Glasnost und Perestroika geprägt sei. Transparenz hatte man auf den Demos gefordert. Dass man sich den Interessen der Konzerne unterordnet, war nicht der Wählerauftrag gewesen. „Wir sind das Volk! Alles für das Volk!“ – so hatten die Parolen gelautet. Und nun muss er mit ansehen, wie die Lobby der Volkskammer von Konzernvertretern belagert wird, wie man den Abgeordneten „Flöhe ins Ohr“ setzt.

Auch Matthias Artzt von der Forschungsgruppe hatte auf eine wirklich freie Marktwirtschaft gehofft. Auf eine soziale Marktwirtschaft, an der die DDR-Bürger mit ihren Anteilsscheinen beteiligt sein würden. Doch nun muss er von Gerd Gebhardt, der inzwischen als Berater für verschiedene Parlamentarier arbeitet, erfahren, wie die bundesdeutschen Stromkonzerne Fakten geschaffen haben.

Gebhardt hat vor einigen Tagen mit einer Volkskammer-Delegation das Energiezentrum in der Berliner Karl-Liebknecht-Straße besucht. Die Führung durch die Schaltzentrale übernimmt der neue Staatssekretär Uwe Pautz, der sich im DDR-Braunkohlegeschäft auskennt. Er hat sich im »Demokratischen Aufbruch« engagiert, doch sein politisches Ziel ist jetzt nicht unbedingt eine wettbewerbsorientierte Energiepolitik, sondern die schnelle Einheit, komme, was da wolle.

Der frisch gebackene Staatssekretär schmeichelt den drei westdeutschen Energieriesen und führt der Volkskammer-Delegation vor, wie effizient es doch sei, wenn die großen Drei die Stromverteilung übernehmen. Alter­nativen lässt er völlig außen vor. Die Westkonzerne würden der DDR „einen Riesengefallen“ erweisen. Gebhardt fragt daraufhin: „Und warum hat man den Konzernen die Netze gleich mit versprochen?“

„Weil auch das am effizientesten ist“, antwortet der Staatssekretär. Man habe damit endlich den fürchterlichen Zentralismus beseitigt.

Dann zeigt Pautz, um den Fortschritt zu illustrieren, der Delegation die Schaltzentrale des Zentrums. Die Schaltkästen sind schon abgebaut. Die Versorgung kann nur noch durch den Westen und die drei Stromriesen, die dort das Netz kontrollieren, sichergestellt werden. Die DDR und ihre Volkswirtschaft ist jetzt bereits vollständig abhängig von diesen drei großen Stromern aus der BRD. Zentralismus in Reinkultur. Klar doch, dass die drei nun das DDR-Netz kontrollieren wollen, um peu à peu auch den Osten Europas zu erobern.

Der Goldrausch, der die deutschen Konzerne seit einem halben Jahr, seit November 1989, erfasst hat, wird allmählich Thema, und viele Bürger in Ost wie West werden stutzig. In einem Interview Anfang April wird der Chef des westdeutschen Kartellamts, Wolfgang Kartte, gefragt, ob er sich den Übergang zur Marktwirtschaft in der DDR so chaotisch vorgestellt habe. Ja, sagt der, das sei notwendig. Das habe er bei Ludwig Erhard nachgelesen. „Man muss Wild-West und Wild-Ost laufen lassen. Wir sollten das in Kauf nehmen.“

Der ungezügelte Kapitalismus bereitet seinen Einzug vor.

Ich las das Interview im Spiegel und wunderte mich über die ökonomischen Unkenntnisse dieses Chefs einer durchaus sehr wichtigen Behörde. So gab Kartte zum Beispiel von sich: „Wir sollten nicht überall zu fummeln und alles zu regeln versuchen. Marktwirtschaft kann sich nur bil­den, wenn sie von unten her wächst.“ Er übersah geflissentlich, dass seit Jahren die Marktwirtschaft und die freie Entfaltung des Wettbewerbs »von oben her« – von den wirtschaftlich »oben angesiedelten« Großkonzernen – ausgehebelt und zu ihrem oligopolen Eigennutz umgestaltet wurden.

Dann führte er weiter aus: „Wir beobachten mit Argusaugen, was sich drüben tut, und wir verfolgen auch, welche Auswirkungen das auf den Wettbewerb in der Bundesrepublik hat. Nach unserem geltenden Kartellrecht ist die DDR für uns noch Ausland. Wir können also drüben mit unserem Gesetz nicht einmarschieren.“

Ach, kann der Westen nicht?, dachte ich, als ich das las. Die Bundesregierung tut genau das. Nicht nur die Konzernlobbyisten und die Partei-Instrukteure aus dem Westen sind in die DDR eingefallen, auch die Bonner Beamten kommen lange bevor die Wiedervereinigung ausgehandelt ist.

Und ich musste laut auflachen, als ich las, was Helmut Kohl bei der 125-Jahr-Feier des Chemieriesen BASF am 17. April gesagt hatte: „Wie in der Bundesrepublik kann auch in der DDR die soziale Marktwirtschaft aus dem Nichts funktionieren.“

Neue Zeiten - 1990 etc.

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