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1990 Catch-as-catch-can

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Stefan Koenig

Neue Zeiten

1990 etc.

Zeitreise-Roman

Band 7

Aus dem Deutschen

ins Deutsche übersetzt

von Jürgen Bodelle

Geht‘s mal nach links

Dann bieg ich nicht ab

Ich fahr geradeaus

Und mach keinen Stopp

Geht‘s mal nach rechts

Ich fahr dran vorbei

Ich schau hinterher

Doch bleibe dabei

Und manchmal glaub ich

Ich geh wie auf Schienen

Ich folge dem Weg

Doch will da gar nicht hin

Ich weiß jetzt

Auf dem Weg, auf dem ich lauf

Bin ich an so vielen vorbeigerauscht

Auf dem Weg liegt

Was ich such

Ich schaue jetzt hin

Ich lass es endlich zu

Gibt‘s mal ‘nen Halt dann steig ich nicht aus

Ich bleib einfach drin

Und sitz es aus

Es kann kommen was will

Ich bleib auf der Bahn

Ich suche das Ziel

Und komme nicht an

(Song » Auf dem Weg«

von Mark Forster)

Stefan Koenig

Neue Zeiten

1990 etc.

Für

Alexa P.

Anja P.

Sonja D.

Karin W.

Herbert B.

Hans-Joachim K.

Mit freundlicher Unterstützung der

Hessischen Kulturstiftung

Wiesbaden

Pegasus Bücher

Wie lange lebt der Mensch, letzten Endes?

Lebt er tausend Tage oder einen einzigen?

Eine Woche oder mehrere Jahrhunderte?

Für wie lange Zeit stirbt der Mensch?

Was bedeutet »Für immer«?

(Pablo Neruda)

Vorwort

kein Vorwort

kein Wort

nirgendwo

oder doch

vielleicht

nur ein Wort

ein einziges Wort

auf einem Autofriedhof

ein Wort aus einem

alten Radio

ein einziges Wort

wenn ich es nur

tatsächlich gehört habe

wenn

das Wörtchen wenn

ein Wort nur

ein Wort

»hope«

(Dieses Gedicht widme ich

meiner guten Bekannten Carina Corona)

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass er ein Betrüger ist“, sagte ich zu meiner Frau. Emma schaute mich mit großen Augen an, sprachlos. Ich verzog mein Gesicht in der Hoffnung, dass nun auch meine Augen die notwendige Erstaunensgröße hätten, wie ihre bernsteinfarbenen Augen.

Sie nahm einen Schluck aus dem Kaffee-Pott. „Jeder, der vom großen Geld träumt, kann auf krumme Gedanken kommen“, sagte sie. „Das liegt im Wesen der Sache. Ist doch völlig normal.“

„Du glaubst doch nicht, dass ein junger Mann in meinem Alter allein durch ein paar manipulierte Aktienkäufe ruckzuck zum Millionär wird! Er wird mit seinen Immobiliengeschäften und mit seinen Bank- und Börsenverbindungen ein echtes Fundament gelegt haben. Vielleicht sollten wir doch sein Angebot annehmen.“

„Ein junger Mann in deinem Alter?“ Emma lachte laut und etwas derb und sah mich gespielt mitleidig an. „Du wirst im September immerhin schon vierzig. Von wegen jung! Der Harksen ist inzwischen ein alter Hase an der Börse. Er hat gewiss schon eine Menge Tricks im Sandkasten des Kapitalismus mitgekriegt und …“

Ich unterbrach meine Liebste: „ … und genau das wird ihn eher zum ausgebufften Insider als zu einem Betrüger machen.“

Emma wiegte zweifelnd den Kopf. „Er mag zwar ein goldenes Händchen im Börsenzocken haben, ob er aber auch im trickreichen Immobiliengeschäft solide ist, kann doch niemand von uns überprüfen. Und überhaupt trau ich keinem der modischen Krawattenträger, die in Sachen Immobilien und Börse derzeit Kasse machen. Das sind schmierige Typen und sie machen schmierige Dinge in schmierigem Umfeld. Und dass Harksen deinen Freund Meise immer wieder als Türöffner bemüht, macht mich ehrlich gesagt mehr als stutzig.“

Jürgen Harksen hatte uns ein Hamburger Immobilienangebot unterbreitet. Ein Hochglanzprospekt hatte gestern im Briefkasten gelegen. Mein alter 68er-WG-Kumpel Meise, ein Comic-Künstler, hatte noch eine kleine Comic-Zeichnung dem Prospekt des Börsen-Newcomers beigelegt und drei Zeilen dazu geschrieben: „Ich soll euch von Jürgen grüßen und euch wissen lassen, dass ihr natürlich Vorzugskonditionen erhaltet. Kommt ihr demnächst mal nach Hamburg? Könnt bei mir übernachten. Übrigens liegt eine Einladung von Panik-Udo anbei. Auftritt erst im September in Halle.“

„Was hat Meise da eigentlich gezeichnet?“, fragte Emma. Da rief im Kinderzimmer Luca sein etwas kreischend klingendes „Maaammaa!“ Emma stand auf, ging um mich herum und sah mir kurz über die Schulter. „Ach, ein Porträt von Lindenberg mit Schlapphut, mit Mikro und Gitarre.“

„Und ein persönliches Geschenk von Udo. Zwei Tickets zum Lindenberg-Open-Air am 7. September in Halle, oder altdeutsch gesagt: Einlasskarten für ein Freilichtbühnen-Konzert“, rief ich Emma hinterher. Unsere Sprache nahm immer mehr Amerikanisch an. Mir fiel es auf, anderen scheinbar nicht. Es juckte keinen. Vielleicht weil alles so viel modischer als früher klang. Mir war es egal. Es gab Wichtigeres im Leben.

Hörbi, mein Freund aus alten Schul- und WG-Zeiten und jetziger Pädagogischer Leiter unserer Bildungseinrichtung, war da anderer Meinung. „Da schleicht sich mit der Amerikanisierung der Sprache ebenso wie bei den Hollywoodfilmen eine Menge transatlantischer Vasallen­denke mit ein“, hatte er einmal gesagt, und er meinte, dass damit unbewusst eine gehörige Portion Loyalität, ein Gefühl wenig hinterfragter Verbundenheit, transportiert würde. Ich hatte ihm versprochen, das wir das ein andermal ausführlich diskutieren könnten. Bis heute war ich drumherum gekommen.

Die Freikarten vom Panikmeister interessierten mich mehr als jedes Vasallentheater. Denn seit ich unternehmerisch tätig war, hatte meine Teilnahme an Konzerten deutlich gelitten. Es war einfach keine Zeit geblieben für Musik und Kultur. Die Kultur hieß jetzt Arbeit und die Arbeit hieß Umweltschutz und Umweltschutz hieß Zukunft für unsere Kinder. Erst vier Jahre war Tschernobyl her. So ein Atomdesaster durfte nie mehr vorkommen, sonst wäre es aus und vorbei mit jeglichen Konzerten.

Vor drei Monaten hatte Udo Lindenberg seine DDR-Tournee in Suhl und Leipzig gestartet. Meise war als einer seiner besten Freund mitgereist. Er hatte mir telefonisch von den Konzerten vorgeschwärmt. Es war eine sehr erfolgreiche Tournee gewesen, man hatte Lindenbergs Panikorchester bejubelt, und er musste den »Sonderzug nach Pankow« mehrmals abfahren lassen. Bühnenzauber.

Emma und ich waren gegenüber dem Börsen- und Profitzauberer Jürgen Harksen bisher standhaft geblieben, hatten seinen zahlreichen Investmentangeboten tapfer widerstanden. Zwischendurch hatte zu allem Überfluss auch noch die inzwischen berüchtigte Nigeria-Connection versucht, deutsche Mittelständler mit fiesen Tricks um ihr Geld zu erleichtern. Einer dieser angeblichen nigerianischen Prinzen hatte es tatsächlich auch bis zu meinem Telefonanschluss geschafft. Doch ich hatte den Prinzen in Lagos zurückgerufen und schnell herausgefunden, dass es um Vorschussbetrug ging.

Der falsche Prinz hatte eine Provision in Millionenhöhe versprochen, wenn man seine Dollars aus Nigeria in Europa auf einem offiziellem Firmen-Konto zwischenlagere. Aber um die millionenschwere Provision zu erhalten, sollte der deutsche Michel vorab an viele zwischengeschaltete Komplizen scheibchenweise immer mehr Zahlungen leisten, um sodann am nächsten Straßenräuberposten noch einmal Zollgebühren zu blechen.

Danach ging das Zahlungs-Roulette erbarmungslos weiter mit angeblich notwendigem Bestechungsgeld für die Abstempelung der staatlichen Ausfuhr- beziehungsweise Transfer-Genehmigung, und für vieles andere, auch für Notarhonorar. „Nur zu Ihrer Sicherheit!“, hatte der angebliche Prinz bei den Betrogenen betont, wie später aus den Zeitungsberichten zu erfahren war. Dann hatte er noch von unabdingbaren Versicherungsgebühren gesprochen.

Natürlich hatte er die Zahlungskette nicht von vornherein offengelegt, sondern die gutgläubigen Betrugsopfer erst das eine zahlen lassen, bevor er mit der nächsten Zahlungshürde aufwartete. Die nigerianische Kreativität finanzieller Abschöpfmöglichkeiten schien so grenzenlos zu sein wie Reinhard Meys grenzenloser Himmel, hoch über den Wolken. Letzten Endes jedoch wurde – trotz aller hoffnungsvoll geleisteter Vorschussgelder – kein einziger Provisionsdollar gezahlt.

Ein relativ gut zu durchschauendes Spiel. Dennoch waren eine Menge Mittelständler auf diese Masche hereingefallen, wie dem SPIEGEL zu entnehmen war. Nur weil sie alle vom schnellen Mammut träumen, ging mir durch den Sinn. Doch auch ich hatte für einen kleinen Moment der Legende dieses betrügerischen Spiels mein Ohr geliehen, was offenbar bedeutete, dass ich insgeheim ebenfalls an die Existenz des „schnellen Geldes“ zu glauben bereit war. Die kapitalistischen Verlockungen hatten mich erfasst – aber nicht überrollt. Ich hatte rechtzeitig, auch dank Emmas kritischem Blick, die Bremse gezogen.

Emma kam zurück, auf ihrem Arm der fünfjährige Luca; hinter ihnen tapste die zwei Jahre ältere Karola in die Küche.

„Man kann sein Geld nur durch ehrliche Arbeit verdienen“, sagte Emma.

„Du wiederholst die Worte meines Vaters“, antwortete ich.

„Sind sie deshalb etwa nicht richtig?“

„Opa ist tot“, sagte Karola traurig.

„Ja, es geht ihm jetzt aber gut“, tröstete sie Emma. Mein Vater war nach einem Herzversagen vor einem halben Jahr verstorben. Es klingelte und klopfte an der Wohnungstür. Es war Sonntagvormittag. Das konnte nur Lollo sein.

Ich ging hin, öffnete und kam mit meiner Mutter zurück. Lollo bot sich an, mit den Kids zum Spielplatz zu gehen. Die Bezeichnung Kids kam gerade in Mode und so flötete es aus mir heraus: „Die Kids könnten mit Lollo in den Park gehen.“ Emma nickte zustimmend, und wir zogen Karola und Luca an.

Meine Frau sah mich erwartungsvoll an. Dann wiederholte sie: „Es ist doch eine richtige Sicht: Nur mit ehrlicher Arbeit kann man sein Geld verdienen.“

„Doch, doch, das meinte ich ja.“ Jetzt bloß keine Missverständnisse, dachte ich. Kein Ehestreit vor meiner Mutter. Wir hatten genügend Belastungen am Hals. Emma hatte sich in die Geschäftsführung der Frankfurter GTU, unserer Umweltbildungs- und Beratungseinrichtung, gestürzt. Sie machte mir in letzter Zeit einen ziemlich nervösen Eindruck. Einen Betrieb von außen zu sehen und zu kommentieren war leichter, als im Betrieb handeln und Entscheidungen treffen zu müssen. Sie musste sich mit den Mitarbeitern abstimmen, Vertrauen aufbauen, Ratschläge entgegennehmen und ohne Besserwisserei Ratschläge erteilen. Das war zweifellos eine andere Hausnummer.

Und ich hatte zwei Unternehmen zugleich aufzubauen – in Berlin, West wie Ost, und im thüringischem Bad Langensalza. Dazu die Kids und jede Menge Hausarbeit trotz Haushaltshilfe. Wegen Harksen streiten, war das Letzte, was wir heute brauchten. Wir hatten jetzt Urlaub nötig, aber die Umstände ließen es nicht zu. Es hieß durchackern was das Zeug hielt.

Auch ich brauchte keine unnötigen nervlichen Belastungen, mein Magen hatte in letzter Zeit rebelliert und mit Sodbrennen und gelegentlichen Magenkrämpfen aufgemuckt. In Immobilien spekulieren, nein, das kam nicht in Frage – auch wenn Harksen wie in früheren Zeiten mit über 300 Prozent Rendite winkte.

Meiner Mutter winkte unser Dank und unsere Anerkennung. Und es winkte ihr ein wenig Ablenkung von ihrer Trauer. Die drei gingen zum Spielplatz. Emma und ich unterhielten uns über Harksen und tranken unseren Kaffee zu Ende. Wir wussten viel zu wenig über ihn, aber genug, um misstrauisch zu sein. Vier Jahre später erfuhr ich von ihm, was er gerade zu jener Zeit erlebte, in dem wir über ihn sprachen.

Anders als die nigerianische Mafia, griff Jürgen Harksen auf eine subtilere Geschäftsmethode zurück. Aus kleinen Verhältnissen stammend, hatte er instinktiv begriffen, dass sich der westdeutsche Mittelständler, an den er sich traute, mit bunten und teuren Blendgranaten täuschen ließ. So hatte Harksen 1988 einen Porsche geleast. Der Chef der Leasingfirma, Herr Klaus, wurde zu einem seiner guten, treugläubigen Kunden. Als er Harksen den ersten Leasing-Porsche persönlich vorbeibrachte, sagte er: „Herr Harksen, von Ihnen nehme ich keine Anzahlung. Bei Ihrer Bonität wäre das eine Beleidigung.“

Harksen nickte wohlwollend und wissend, während er in sich hineinschmunzelte. Er dachte daran, dass seine Bonität lediglich auf den Anlagegeldern solcher Leute wie dem Leasing-Chef fußte. Geld, das also eigentlich nicht ihm, Harksen, gehörte. Als Herr Klaus beim Abschied einen Blick nach draußen auf die Straße warf, fragte er den Anlageprofi beiläufig: „Sehen Sie den da?“ Er wies mit dem Finger auf einen 735i BMW, blaumetallic. „Den fahre ich zurzeit selbst. Schickes Auto, nicht wahr?“

Harksen nickte.

„Wissen Sie was? Der wär‘ doch sicher was für Ihre Gattin.“

Da konnte Harksen ihm nicht widersprechen. Den BMW sollte er ebenfalls ohne Anzahlung bekommen. Ein triftiger Grund für Harksen, seine Leasingraten pünktlich zu zahlen. Einige Monate später tauschte er den BMW gegen einen Porsche 911 ein. Eines Tages rief ihn der Leasing-Chef wieder an: „Ich habe einen heißen Tipp für Sie. Ich kann Ihnen aus einem Konkurs nochmal günstig vier Luxusschlitten vermachen. Ich schnür Ihnen einfach ein Paket.“

Er riet Harksen, pro forma eine Autovermietung aufzumachen und die Autos dann an sich selbst zu vermieten. So konnte Harksen zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, denn die Anschaffungs- oder Leasingkosten waren als Geschäftsausgaben absetzbar. Und die Miete, die er an sich selbst zahlen würde, wäre ebenfalls abzugsfähig. Das leuchtete Harksen sofort ein, und so ließ er sich von dem Leasingchef einen Schlitten nach dem anderen aufschwatzen. Bald schon hatte er mehr als fünfzehn Autos und musste eine Halle zum Unterstellen anmieten.

Mietverträge abschließen, das war für die letzten Tage auch mein Auftrag gewesen. Im Ostteil von Berlin hatten Jan und ich für unsere fünf geplanten Bildungsinstitute einige Großanmietungen getätigt. Es war dringend geworden. Immer mehr Wessis strömten gen Osten und besetzten Terrain. Zwar friedlich, aber mit Geld. Wir durften nicht zu spät kommen, unser Umweltbildungsunternehmen hatte immerhin schon die feste Zusage des Arbeitsamtes erhalten, Schulungsmaßnahmen für DDR-Beamte aus dem Natur-, Umwelt- und Immissionsschutz durchzuführen. Wir sollten im Oktober starten.

Bisher hatten wir einen teuren Miet-Standort im Technologie- und Innovations-Center im Westberliner Wedding. Ich fuhr nach Berlin, um mit Jan und unserer Geschäftsführerin Katrin weitere ins Auge gefasste Institutsstandorte zu besichtigen und Mietverträge abzuschließen. Als ich nach einer Woche zurück nach Frankfurt kam, hatten wir einen zusätzlichen Standort im Westteil Berlins, in Kreuzberg, sowie drei weitere Standorte im Ostteil preisgünstig gemietet: Adlershof, Weißensee und Marzahn-Hellersdorf. Jan und seine Frau Katrin waren überfreundlich und sehr bemüht gewesen, ihr Engagement zu betonen. Noch schöpfte ich keinen Verdacht.

In Berlin hatte ich mitbekommen, wie der Wahlkampf tobte. Die neu gegründete DDR-SPD schien das Rennen zu machen. Ihr uneinholbarer Vorsprung gegenüber dem Wahlbündnis der Konservativen war „dank BILD“, wie eine Genossin aus dem SPD-Parteivorstand meinte, ein klein wenig zusammengeschrumpft. CDU-Kanzler Kohl hatte auf die Schnelle einen Bund aus der bis vor Kurzem noch SED-treuen Blockpartei CDU-Ost, dem nach rechts gerutschten »Demokratischen Aufbruch« und dem CSU-Kind DSU, der Deutschen Sozialen Union, gezimmert. Aber die Erfolgs-Chance dieser Sturzgeburt hatte sich – trotz Springers monatelanger BILD-Interventionen – nur unwesentlich verbessert.

In diesen letzten drei Wochen vor der DDR-Wahl, die auf den 18. März datiert ist, begreift der westdeutsche Kanzler, dass er sein ganzes Gewicht selbst einbringen muss, um die Wählerstimmung im Osten zum Kippen zu bringen. Er geht auf Tour, auch wenn dies dem geltenden DDR-Wahlrecht und dem ausdrücklichen Verlangen der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung widerspricht.

In Karl-Marx-Stadt tritt er vor 200.000 Menschen auf und gibt kund, dass seine Regierung der DDR keine müde Mark zu geben bereit ist, solange sie von Sozialisten regiert wird. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er der Modrow-Regierung und ihrem mitregierenden „Runden Tisch“ immer wieder Geld in Aussicht gestellt. Es erinnerte mich an eine Möhre, die an einer langen Rute vor den Augen eines Esels geschwenkt wird, um ihn zum Laufen in die gewünschte Richtung zu bringen. In den nächsten Tagen wiederholt Kohl seine Drohung vor Hunderttausenden DDR-Bürgern in verschiedenen ostdeutschen Städten.

Die Wissenschaftler Artzt und Gebhardt wollen verhindern, dass die DDR-Wirtschaft zerstört und das über vier Jahrzehnte erarbeitete Wirtschaftsgut zu Billigstpreisen verscherbelt wird. Sie wollen, dass das Volkseigentum gerecht verteilt wird und müssen ihre Idee gegen die brachiale und finanzstarke CDU-Wahlkampfmaschine verteidigen. Anteilsscheine sollen die Teilhabe-Chancen der DDR-Bürger in einer zukünftigen Marktwirtschaft sichern.

Die beiden Bürgerrechtler haben, schon lange bevor die Titanic mit dem Schriftzug »DDR« auf den Eisberg zufuhr, vor dem Eisberg und dem zu erwartenden Aufprall gewarnt. Damals, Ende 1988, spielten noch die Arbeiterschalmaien und es wurde im Palast der Republik getanzt, während die zwei Wissenschaftler sich heimlich als Laubenpieper in Gebhardts Gartenhütte in Potsdam trafen, um zumindest gedanklich Vorkehrungen für den Fall der Fälle zu treffen. Jetzt wollen sie für das »Neue Forum«, dem sie zwar nicht angehören, für das sie aber werben, Wähler gewinnen. Sie erläutern auf Wahlveranstaltungen, dass man ohne Eigenkapital dem zu erwartenden Kapitalansturm aus dem Westen hoffnungslos unterlegen sei. Außerdem gehöre nun mal das in der DDR erwirtschaftete Kapital der DDR-Bevölkerung, wem sonst?

Manchmal werden die beiden Bürgerrechtler von den eigenen Landsleuten erstaunt gefragt: „Was, ich soll was bekommen? Wie viel denn? Ist das denn überhaupt so viel wert?“

Artzt antwortet dann: „Eigentum verpflichtet, das ist der Grundsatz der sozialen Marktwirtschaft. Wir wollen diesen Grundsatz mit Leben erfüllen, indem wir unser Volkseigentum auch an uns rechtsverbindlich überschreiben lassen.“

Und sein Kollege Gebhardt ergänzt, wenn ihn eine Wählerin kritisch fragt, was sie denn mit einem Anteilsschein anfangen könne: „Na liebe Frau, die Wohnung, in der sie jetzt wohnen, die werden Sie nicht mehr mit 26 Mark Miete bezahlen können. Wäre es dann nicht prima, wenn Ihre vier Familienmitglieder ihr Kapital zusammenlegen und diese Wohnung mit den von uns geforderten Kapitalanteilsscheinen erwerben? Dann wären Sie zumindest die eine Sorge los, dass Sie Ihre Wohnung nicht mehr bezahlen können.“

„Ach, das meinen Sie!“, sagt die Wählerin. „Davon habe ich noch nie etwas gehört. Wieso kommt das nicht in der Zeitung oder im Fernsehen?“

„Weil die Zeitungen und das Fernsehen nicht uns Bürgerrechtlern gehören, weil wir von denen noch keine Anteilsscheine haben“, lacht dann Gebhardt.

Und Artzt erläutert: „Wir sind neu am Start und haben weder die Organisation noch das Geld noch irgendeine große Zeitung wie die anderen.“

Allerdings bekommt die Idee der beiden Bürgerrechtler und ihrer Verbündeten zumindest Schützenhilfe vom DDR-Fernsehen. In einer Talkshow wird der Vorschlag von Artzt und Gebhardt ausführlich diskutiert. In der Sendung wird die Idee eines Anteilsscheins oder einer Volksaktie auch von einem erfolgreichen bundesdeutschen Vermögensberater mit Adelstitel, Albrecht Graf Matuschka, unterstützt. Der Graf gründete Ende der Sechziger Jahre die Matuschka-Gruppe in München und legte das Kapital vieler reicher Deutschen an. 1990 gilt er noch immer als Star der Anlagebranche.

Matuschka plädiert in der Talkshow vehement für eine Volksaktie, die jeder DDR-Bürger bekommen soll.

„Warum?“, fragt die Moderatorin.

„Ganz einfach“, antwortet Matuschka, „weil es sein gutes Recht ist. Weil jeder hier dafür Jahrzehnte gearbeitet hat!“

Jetzt legt er auch die Finger in eine westdeutsche Wunde: Man könnte die Wasser- und Energiewirtschaft in Ostdeutschland so effizient und günstig machen, wie sie anfangs auch in Westdeutschland organisiert war, aber nun durch die langjährige Privatisierung zerstört und von Konzernen und deren Preisgestaltung abhängig ist. Man dürfe nicht die Fehler der Bundesrepublik wiederholen. Kommunale Stromanbieter und kommunale Wasser­wirtschaft sollten erhalten und vor der Privatisierung bewahrt werden.

Die Volksaktie wird plötzlich Thema im DDR-Wahlkampf. Die DDR-SPD und die PDS plädieren mit einem Mal ebenso wie das Neue Forum für Beteiligungsmodelle, die dem Matuschka- und dem Artzt/Gebhardt-Konzept ähneln. Doch um deren Funktionieren zu gewährleisten, müsste die DDR erst einmal unabhängig bleiben und eine zweite Chance erhalten. Dann jedoch müsste die deutsche Einheit einen Moment warten. Aber die Mehrheit der DDR-Bürger scheint nicht mehr die Energie aufzubringen, weiter unabhängig vom Westen zu bleiben.

Das gebeutelte Land schleppt sich zur Wahl nach dem Vorbild der Bundesrepublik. Die Wahlbeeinflussung aus dem Westen wird von vielen, aber nicht von allen, als störend empfunden. Noch immer sagen die meinungsmachenden und meinungsforschenden Institute einen Sieg der ostdeutschen Sozialdemokraten voraus. Doch wer Kanzler Kohl bei seinen Auftritten erlebt, kann diesen Prognosen jetzt keinen Glauben mehr schenken. Man fühlt sich in falscher Sicherheit gewogen.

Mit jedem Tag, der die Unsicherheit in Ostdeutschland offenbart, gewinnen die externen Kräfte an Meinungsführerschaft hinzu. Der Einfluss der Westparteien, der Westkonzerne und Westberater wächst – sie alle versuchen, vollendete Fakten zu schaffen. Die Wahl am 18. März sollte eigentlich ein Triumpf der DDR-Demokratiebewegung werden – nun steuert die Titanic auf einen Eisblock zu.

Jürgen Harksen interessierte das alles wenig, er hatte genug Wahlfreiheit in seiner eisfreien norddeutschen Enklave rund um Hamburg und in ganz Dänemark. Er musste sich um seinen neuen Autopark kümmern. Seine Haushälterin bat ihn eines Tages um einen Job für ihren Mann, der seine Stelle verloren hatte. Er wurde Harksens Autowart, der erste Angestellte der Firma VIP-Car-Rental.

Als Harksen fünfzehn Autos hatte, sah er keinen Grund, den Stall nicht noch mehr zu erweitern, zumal sein flüssiger Geldstrom unentwegt anschwoll und über die Ufer zu treten drohte. Das Geld musste angelegt werden. In Prestigeobjekten, in Oldtimer, in Sportkarossen. Gottseidank hielten sich die Auszahlungswünsche seiner Kunden im Vergleich zu den Anlage-Einzahlungen in Grenzen.

Anfang der Neunziger Jahre brach in Deutschland eine allgemeine Vermögenseuphorie aus. Die Reichen aller Bundesländer jubilierten unter dem Eindruck der nahenden Wiedervereinigung. Ab jetzt konnte es nur noch bergauf gehen. Die Wirtschaftskrisen der Vergangenheiten gerieten in Vergessenheit. Man durfte sich wieder ungeniert reich fühlen und gleichwohl bereichern. Das wirkte sich auch auf den Automarkt in den höherpreisigen Segmenten aus.

Zwischen 1989 und 1990 kam es auf dem Edelautomarkt zu einer Wertexplosion. Der Ferrari F40, Listenpreis 400.000 DM, war zu Spitzenzeiten nicht unter zwei Millionen zu haben, denn er galt als Rarität und wurde nicht mehr gebaut. Harksen schaffte sich das teuerste Auto an, das er ergattern konnte, einen Ferrari California Spider, der als Sammlerstück einen Wert von acht bis zwölf Millionen Mark hatte.

Ein Arzt aus Glücksburg an der Flensburger Förde, dem Harksen von Hören und Sagen bekannt war, hatte kein Glück, sondern ausgesprochenes Pech. Er war leidenschaftlicher Ferrari-Sammler und wollte seine Autos zu Phantasiepreisen verkaufen, fand aber partout keine Interessenten. In düsterer Vorahnung, sich womöglich verspekuliert zu haben, kam ihm Harksen mit seinem 1300-Prozent-Versprechen gerade recht. So glaubte er, seine Ferrari-Fehlspekulation wieder gutmachen zu können.

Da er bereits zu klamm war, um sich per Bareinlage oder Scheck Zutritt zum erlesenen Kreis der Begünstigten zu erkaufen, bot ihm Harksen großzügig einen Deal an. Statt einer Bareinlage würde Harksen dem Arzt seine Autos zu den geforderten – illusorischen – Verkaufssummen als Einlagen der Firma Nordanalyse gutschreiben. Mit den entsprechenden – illusorischen – Schuldverschreibungen war der Ferrari-Fan nun Teilhaber an einem sagenhaften – illusorischen – Reichtum.

Plötzlich hatte Harksen also einen Stapel Autopapiere in der Hand. Die Autos kosteten ihn außer dem Unterhalt, ein paar anteilnehmenden Worten und etwas Papier nichts. Und der Arzt hatte eine warme Phantasie mehr, auf die er sein ängstliches Haupt betten konnte.

Damit seine Fans ihrer Bewunderung Raum geben konnten, richtete Harksen einen Jour fixe ein. Jeden Samstag gab es Hackbrötchen in seinem Auto-Zoo. Harksens Fitnessclub-Betreiber und dessen Sohn waren zwei seiner Stammgäste. Eines Tages schlug er ihnen vor, sich fürs Wochenende zwei seiner Nobelkarossen auszuleihen und ihre Frauen mal richtig zu verwöhnen. Die seien schon verwöhnt genug, wehrten sie mit glänzenden Augen sein Angebot scheinheilig ab. Der Sohn bekam als Leihgabe einen Ferrari, der Vater einen dicken Mercedes. Am Montag brachten sie die Autos wohlbehalten mit der frohen Botschaft zurück: „Das Eis ist gebrochen. Du bist bei uns zum Essen eingeladen.“

Die Einladung nahm er gerne an, aber nie wahr. Dafür freute sich Harksen über die hunderttausend Mäuse, die Vater Clubbesitzer in der Woche darauf bei ihm ablieferte. Davon kaufte er voller Übermut gleich einen Ferrari Testarossa. Als der Clubbesitzer den zu Gesicht bekam, klopfte er Harksen anerkennend auf die Schulter: „Tolles Auto.“

„Hab ich von deinem Geld gekauft.“

Da lachte der Clubbesitzer, weil er glaubte, Harksen hätte einen besonders guten Scherz gemacht. Aber der Kapitalanlage-Zauberer wusste um die Macht der Illusionen. Und er wusste, dass man eben nicht besser als mit der Wahrheit lügen konnte.

Neue Zeiten - 1990 etc.

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