Читать книгу Neue Zeiten - 1990 etc. - Stefan Koenig - Страница 5

Hochstapler stapeln oft zu hoch

Оглавление

Gert Postels Aufgabe besteht derzeit im Implantieren von Haaren. Er hat es mit seiner Hochstapelei bisher nicht allzu weit gebracht – nun gut, immerhin zum falschen Dermatologen. Er, der gelernte Postbote, ist vor einigen Wochen bei dem zu einem extravaganten Haarkünstler avancierten Friseurmeister, Herrn Richter, gelandet, dem er sich als Hautarzt vorgestellt hatte. Sein gefälschtes Zeugnis war dem eitlen Chef eines Institutes für Haar-Transplantation beim Einstellungsgespräch nicht aufgefallen. Postel ist nur hier, um für eine gewisse Zeit so viel Geld wie möglich abzukassieren.

Postels große Karriere als geschätzter Oberarzt für Klinische Psychiatrie in Sachsen steht ihm noch bevor. Er, der Postbote, wird psychiatrische Gutachten für Schwurgerichte schreiben – er wird in einigen Jahren selbst nicht begreifen, wie weit und hoch ihn seine Hochstapelei katapultiert hat.

Wie verabredet tritt Postel pünktlich am Montagmorgen seinen Dienst an und wird von Dr. Warga, dem zweiten Arzt des Haar-Institutes, in seine Tätigkeit eingeführt. Warga, ein ungefähr fünfzigjähriger Kettenraucher mit leichtem Tremor, ist kein Facharzt für Dermatologie, wie Postel es vortäuscht, sondern nur Allgemeinarzt. Er erhält deshalb auch nur die Hälfte des Honorars, das Postel einsackt. Das sind immer noch fast 9000 Mark bar auf die Kralle. Und darauf kam es Dr. Warga entscheidend an, denn er gab sich, wie Postel in Erfahrung bringen konnte, gegenüber seiner geschiedenen Frau, die ihn mit Unterhaltsklagen verfolgte, vermögens- und einkommenslos.

Schon beim ersten Patienten, einem Installateur-Meister mit großem Wagen und großen Händen, zeigt sich, dass sich Postels Trockenübungen am Wochenende unter Anleitung seiner neu angelachten Freundin gelohnt haben. Es gelingt ihm anstandslos im richtigen Winkel mit der Kanüle in die Kopfhaut des vierschrötigen Mannes zu stechen und die sich bildenden Hügel aus Anästhesieflüssigkeit gleichmäßig wegzudrücken, sodass bald die beiden Implanterinnen ihr Werk beginnen können.

Mit großem Geschick und in Windeseile – sie werden nach Akkord bezahlt – setzen sie Haar für Haar in die betäubte Kopfhaut. Postel zieht sich zurück, bleibt aber in Rufbereitschaft, um im Falle des Nachlassens der Betäubung nach zu spritzen.

Während Dr. Warga ihn im Aufenthaltsraum mit seinen zweijährigen Instituts-Erfahrungen vertraut macht, geschieht etwas Ungeheuerliches: In dieser Villa, in der es normalerweise so leise wie in einem Mönchskonvent zugeht, erhebt sich plötzlich ein schrecklicher Lärm. Jemand brüllt so entsetzlich, dass Dr. Warga und Postel zunächst annehmen, ihrem Installateur-Meister sei etwas zugestoßen, eine Implanterin habe versucht, ihm ein Kunsthaar ins Auge einzupflanzen oder etwas ähnliches.

Nach und nach lassen sich aus dem Lärm einzelne Satzbrocken aussondern und verstehen: „Schauen Sie her, wie ich aussehe … Sie Verbrecher! … Geben Sie mir die siebzig Mille zurück, und zwar sofort … Eher gehe ich hier nicht raus … Was? Sie wollen mir mit der Polizei drohen? … Die hol ich gleich selber … die nehmen Sie mit … dafür werde ich sorgen … Sie hätten mich gewarnt, Sie Rindvieh … nicht föhnen …“

Nach diesem letzten Ausruf sagt Dr. Waga ganz trocken: „Ach so, das ist ein Föhnfall.“

„Wie bitte?“, fragt Postel.

„Hat man das Ihnen nicht gesagt?“, erwidert Dr. Warga. „Sie dürfen die eingepflanzten Kunsthaare unter keinen Umständen föhnen, also mit hohen Temperaturen in Verbindung bringen. Das Kunsthaar kräuselt sich dann zu winzigen Korkenzieherlöckchen. Im Extremfall schmilzt es sogar zusammen. Wenn Sie so in wenigen Minuten siebzigtausend Mark vernichten und dann auch noch absolut verboten aussehen, dann kriegen Sie natürlich eine gehörige Wut.“

„Puhh, das verstehe ich!“, stöhnt Postel.

„Stellen Sie sich einen glatthaarigen, geschniegelten Manager vor, dessen früherer Glatzenbereich plötzlich nicht mehr von teuer erworbenem Kunsthaar, sondern von einer Art Afrogekröse besetzt ist“, fährt Warga fort. „Der kann sich auf keiner Vorstandssitzung mehr sehen lassen, ohne Heiterkeit zu erregen. Und wenn er sich alles abrasieren und die Kunsthaare entfernen lässt, dann blei­ben hässliche Narben. Dann greifen Sie, siebzigtausend Mark ärmer, wieder zum guten alten Toupet und fühlen sich wie ein Esel.“

„Was macht denn der Chef“ – es war inzwischen ruhig geworden – „mit solchen Föhnkunden?“, fragt Wargas neuer Kollege.

„Entweder bietet er ihnen eine Neuimplantation zum halben Preis an, der aber dann auf jeden Fall in bar zu entrichten ist, oder kostenlose Entfernung der Implantate plus ein Toupet als Zugabe. Geld zurück, das gibt’s beim Chef nicht. Da ist er eisern“, sagt Dr. Warga.

Kurze Zeit später kommt der Chef zu den beiden in den Aufenthaltsraum. Er ist etwas verschwitzt und außer Atem: „Dieser Groß, der Automatenaufsteller, ist ein harter Brocken. Brandstiftung in einer seiner Spielhallen. Er rennt, geldgierig wie er ist, noch mal in das bereits brennende Hinterzimmer, um die Kasse zu retten, holt sich ein paar schlimme Brandwunden und ist wütend darüber, dass unser Kunsthaar solche waghalsigen Abenteuer nicht übersteht. Habe ihn mit zwei Toupets abgefunden.“

Dann wird Gert Postel zum Nachspritzen zum Installateur-Meister gerufen.

Auch in der DDR ist Nachspritzen angesagt. Aber Bundeskanzler Kohl weigert sich weiterhin. Die Regierung des Runden Tisches unter dem PDS-Politiker Hans Modrow steht unter vielfältigem Druck. Sie will einerseits verhindern, dass bisherige SED-Genossen unter der Hand das Tafelsilber verhökern und andererseits, dass das Volk der DDR enteignet wird, indem man das Volkseigentum westdeutschen Kapitalanlegern zu Billigpreisen vor die Füße wirft. Die Regierung bekommt nicht mit, dass genau das bereits schon wenige Tage nach dem Fall der Mauer vonstattengeht.

Uwe Haasen, der Chef der Allianz-Lebensversicherungssparte, versucht einige Tage nach der Grenzöff­nung eine weitere »Grenzöffnung« ins Leben zu rufen; anders gesagt: er versucht einen Türöffner für die »Staatliche Versicherung der DDR« zu finden. Die mächtige Allianz will die monopolistische »Staatliche« schlucken. Er denkt an den Anwalt Wolfgang Vogel, der auch in Westdeutschland bekannt ist, weil er die Freikäufe von Häftlingen aus der DDR und im Kalten Krieg den Agentenhandel organisierte. Bis zum 9. November 1989 war er an der Freilassung von 150 Agenten aus 23 Ländern beteiligt. Zu den Freigelassenen zählte auch Günter Guillaume, der 1972 aufgeflogene DDR-Kundschafter bei Bundeskanzler Willy Brandt. Erich Honecker beurteilte den Spionage-Fall Guillaume als »größten Fehler des MfS«, des Ministeriums für Staatssicherheit.

Den Anwalt kennt und respektiert jede politische Seite. Doch für den Allianzmanager Uwe Haasen fällt Vogel derzeit als Unterhändler aus, da er inzwischen aufgrund von böswilligen Falschbeschuldigungen verhaftet wurde. Die Zeit drängt, man muss den Stier bei den Hörnern packen, jetzt ist die Gelegenheit günstig, man kann nicht auf Vogels Freilassung warten. Also muss Haasen selber tätig werden.

Zunächst trifft er nur die Stellvertreter des Generaldirektors, doch im Januar gelingt es ihm, seinen Allianzchef Wolfgang Schieren mit dem Chef der »Staatlichen«, Günter Hein, zusammenzubringen. Man verhandelt in den folgenden Wochen ziemlich verdeckt und einigt sich schließlich darauf, dass die Allianz exklusiver Partner der »Staatlichen« wird. Andere Interessenten aus der BRD, der Schweiz und Großbritannien werden von Hein und seinem Stellvertreter Ullrich hingehalten oder ignoriert.

Ende Januar bekommt das DDR-Finanzministerium Besuch vom stellvertretenden Generaldirektor Ullrich. Er legt die Karten auf den Tisch und unterbreitet den Vorschlag, die Allianz als Partner zu beteiligen. Das Ministerium stimmt zu.

Die Allianz-Vorstände sind positiv überrascht, weil alles so gut läuft. Ihr Chefunterhändler Haasen äußert die Vermutung, dies sei dem zunehmenden Verfall der »Staatlichen« geschuldet, denn immer mehr Betriebe zahlen einfach ihre Beiträge nicht mehr. Die DDR-Versicherung muss ihren Kunden und Mitarbeitern jedoch eine Perspektive bieten. Auch der Generaldirektor und sein Stellvertreter brauchen demnächst Jobs.

Im Februar gibt der Vorstand der Allianz-Holding grünes Licht für das Joint Venture, das eher einer Übernahme gleichkommt. Schieren betont auf der Vorstandssitzung, es sei unabdingbar, dass die Allianz der einzige westliche Partner der »Staatlichen« werden müsse. Ein Konkurrenzkonsortium aus fünf westdeutschen Versicherern ist bereits ausgestochen worden.

Der Ministerrat der DDR schafft am 8. März die gesetzliche Grundlage für den Deal – die Arbeit der staatlichen Versicherung wird auf marktwirtschaftliche Prinzipien umgestellt. Zum 1. Mai wird sie in eine Aktiengesellschaft umgewandelt werden, an der eine ausländische Firma bis zu 49 Prozent halten darf. Schon längst ist klar, dass das die Allianz aus München sein wird.

Im Unterschied zu ihren Gästen wissen es die Manager des Münchner Konzerns schon sehr genau, als sie das Hundertjährige ihres Multis feiern. Und so genießen sie die extravagante Großfeier im Prinzregententheater umso entspannter.

Privat entspannten Emma und ich uns im Kreis unserer zehn Nachbarn. Jede Woche fand bei uns eine kleine Saunafeier statt. Nicht immer war es unbedingt entspannend, hauptsächlich nicht, wenn die einen oder anderen fürs Abendessen sorgen wollten, ihr Versprechen aber vergessen hatten. Aber immer war es spannend. Jedenfalls war es etwas sehr Privates und nicht nur Job, Job, Job. Wer das Essen versemmelt hatte, musste eine große Pizza-Runde samt Lambrusco vom Bornheimer »Dick und Doof«, unserem ersten italienischen Lieferservice, spendieren.

Die Saunarunde fand nun jeweils Freitagabends statt. Wir alle legten zusammen und engagierten eine professionelle Masseurin. Steffi baute im Saunaraum ihre Spezialliege auf und knetete immer drei von uns für jeweils eine halbe Stunde durch, dann saunierte sie selbst, ruhte eine dreiviertel Stunde aus, um dann die nächsten eineinhalb Stunden ihr Durchwalk-Programm fortzusetzen.

Natürlich waren die Ereignisse in der DDR die Themen des Tages, wobei wir – wie alle Westdeutschen – nicht wirklich wissen konnten, was hinter dem Rücken von uns Bürgern alles verhandelt und veranstaltet wurde. Die heiße Luft der Sauna wurde durch die heiße Luft unserer wilden Spekulationen zusätzlich aufgeheizt. Wenn uns diese Diskussionen zu heiß wurden, musste ein Schiedsrichter eingreifen. Gunnar, mein Prokurist aus der Frankfurter GTU, war der Bestgeeignete. Er schlug dann vor, eine Runde Witze zu erzählen.

Als erster legte seine Frau Moni los: „Warum kann Helmut Kohl nicht in den Himmel kommen?“

Tobias und seine Frau Anne, beide eifrige CDU-Sympathisanten, schauten erst etwas konsterniert, dann spekulierten sie wild drauflos. Auch von den anderen folgten einige mehr oder weniger kreative Spekulationen in Richtung Saumagen, Oggersheim und Flick-Spenden-Skandal, bevor Moni die Frage auflöste: „Natürlich weil er nicht durchs Ozonloch passt.“

Dann rasselte Stefan, unser inzwischen gealterter Jungschauspieler, mit entsprechend theatralischer Gestik eine Latte ungelöster Fragen herunter: „Warum gibt’s im Flugzeug-Klo kein Fenster? Wer soll denn da reingucken?“ Er reckte seinen Hals so, als wolle er irgendwo reinschauen. Wir mussten lachen.

„Wenn ein Forscher sich ein Sandwich macht, ist das wissenschaftlich belegt?“ Stefan strich mit einem imaginären Messer etwas auf seine Hand.

„Da hätte ich auch eine Frage“, sagte Gitti, unsere Arznei-Expertin vom Paul-Ehrlich-Institut, die absolut Spitze im Kuchenbacken war: „Heißen Teigwaren Teigwaren, weil sie mal Teig waren?“

Wir hätten uns geschüttelt vor Lachen, wenn uns nicht die Schweißperlen um die Ohren geflogen wären.

Ich war kein Witze-Erzähler, aber einen hatte ich erst kürzlich gehört: „Wenn ich Buchstabensuppe wieder auskotze, ist das dann gebrochenes Deutsch?“

Stefan machte auf seiner Ruheliege eine Mimik, als müsse er sich übergeben.

„Ich hab auch einen auf Lager“, meinte Gunni: „Wenn mich die Polizei anhält und sagt »Papiere!« und ich sag »Schere!«, hab ich dann gewonnen?“

Stefan war wieder dran und warf unbedarft einen Witz in die Runde: „Wenn ein Zuckerkranker vom Blitz getroffen wird, entsteht dann Karamell?“ Unser Lachen gefror ein wenig zu einem höflichen Lächeln. Und das nicht, weil Tobias, unser Nachbarschaftsarzt, Diabetologe war. Eher dachten wir im Stillen an Arndt, unseren ehemaligen Nachbarn, der sich als brandneu etablierter und begehrter EDV-Experte von seiner ebenso brandneuen Firma hatte verschleißen lassen. Er war zuckerkrank gewesen und war bereits vor einem halben Jahr­zehnt, 1986, im Alter von nur 37 Jahren einem Herzinfarkt erlegen.

Aber keiner sagte jetzt ein Wort.

Neue Zeiten - 1990 etc.

Подняться наверх