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Urlaub in Honeybridge

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John hieß jetzt Stephen Carry und war in den Vereinigten Staaten ein berühmter Countrysänger geworden. Er musste so alt wie ich sein, knapp vierzig. Sogar bis nach Irland und Schottland hatten es seine Songs gebracht. Fast jeder englischsprachige Liebhaber amerikanischer Folksongs kannte ihn und sein bezauberndes Gitarrenspiel. Und dann war er in das Filmgeschäft eingestiegen; nicht in die großen Hollywoodproduktionen, aber er spielte in solchen amerikanischen Soaps wie Baywatch mit.

Jedermann jenseits des Atlantiks kannte sein Gesicht. Ich erkannte ihn nicht, obwohl ich ihn in seiner Jugendzeit kennen gelernt hatte. Damals, 1970, war ich dem Kalifornier im spanischen Süden, in Torremolinos, begegnet. Wir beide waren damals zwanzig Jahre jung. Er arbeitete hinter der Theke der angesagten Hippie-Bar »Alamo« als Barkeeper und war vor der Army desertiert, wie mir seine Freundin Svea erzählt hatte. An jenem Abend hatte ich ihn mir genauer angesehen.

Er war groß, schlank und athletisch gebaut; er trug »Gibran-Masche«, das heißt, er trug sein Haar im Jesusstil. Da passten die Jesuslatschen, wie ich beiläufig feststellte, haargenau. Ein wallender Bart umrahmte sein längliches Gesicht, aus dem kluge und entschlossene blaue Augen funkelten. Irgendwie passten seine abge­wetzten Jeans und das Farmerhemd, worüber er eine jener beliebten Hippie-Westen trug, gut zusammen.

John war mir sofort sympathisch gewesen. Wir hatten von ihm erfahren, wie es an der amerikanischen Heimatfront aussah. Er war dem Einberufungsbefehl nicht gefolgt, war über Kanada geflüchtet und war von den US-Behörden über alle amerikanischen Konsulate und über alle Kontinente hinweg gesucht worden. Er war einer von Hunderttausenden auf einer langen Desertionsliste. Deshalb hatten ihm seine Freunde aus der Friedensbewegung einen falschen Pass besorgt. Er führte ein Leben im Untergrund. Keiner der rund um Torremolinos stationierten Ami-Soldaten, die sich gelegentlich im »Alamo« amüsierten, um über ihren trostlosen Alltag als ungeliebte Ausländer in Spanien hinwegzukommen, hatte seine wahre Identität gekannt.

Aber einer musste ihn ein Jahr später schließlich doch erkannt und verraten haben.

Was ihn Anfang der Siebziger Jahre zur Fahnenflucht bewegt hatte, hatte er uns sehr anschaulich geschildert. Fassungslos hatten er und seine Studienfreunde der Universität von Kent, Ohio, am 4. Mai 1970 auf die erschossene Kommilitonin geblickt. Aus ihrem Brustkorb in der Höhe des Herzens sickerte Blut. Da war nichts mehr zu machen; leblos lag das Mädchen, das eben noch mit ihnen zu einem Teach-in wegen Nixons Kambodscha-Überfalls gehen wollte, auf dem Pflaster. Die Nationalgarde hatte auf die Studenten ohne Vorwarnung geschossen. Das Kent-State-Massaker wurde für die amerikanische Jugend zum Fanal des Aufruhrs.

Auch Svea hatte ich im »Alamo« kennen gelernt. Die hübsche und kluge Dänin und er waren ein süßes Pärchen gewesen; sie hatten sich geliebt und waren füreinander da. Obgleich Svea mir beiläufig erklärt hatte, dass sie auch gut ohne ihn auskommen könne. Aber damals war sie erst siebzehn gewesen und hatte vielleicht noch an­dere Ideen im Kopf. Jedenfalls hatte sie die Verhaftung ihres Geliebten und sein Verschwinden von einem Tag auf den anderen so arg mitgenommen, dass sie in eine akute psychische Krise geraten war. Ein Jahr lang hatte sie einmal pro Woche die beschwerliche Busfahrt nach Malaga unternommen, um sich therapieren zu lassen.

Sie hatte John nicht besuchen können. Das amerikanische Konsulat hatte jegliche Auskunft über seinen Verbleib verweigert. Svea blieb in dieser brutalen Realität hilflos zurück. Sie wurde drogensüchtig, fuhr auf Heroin ab; es war eine Rutschbahn in den Tod.

Einige meiner Freunde von damals, auch Wolle und Quiny, und ich hatten uns einige Zeit später auf den Weg gemacht, um Svea auf den letzten Drücker zu retten. Sie war jedoch aus Torremolinos verschwunden. Ihre Spur hatte uns ins Hippieparadies Marokko, nach Tanger und nach Marrakesch geführt. Ich hatte damals John gesucht und ihn glücklicher Weise gefunden, bevor unsere strapaziöse Suchaktion in Sachen Svea gestartet war. John hatte die Spur zu ihr ebenso verloren wie meine Freunde und ich.

In jenen Tagen wollte ich mit ihm gemeinsam Svea aus ihrem tödlichen Sumpf befreien. Auf ihn hätte sie gewiss gehört. Für ihn hätte sie die Kraft aufgebracht, sich aus der Geiselhaft des Heroins zu lösen. Es war uns nicht gelungen. Wir hatten sie nur noch als Leiche den Behörden übergeben können. Es war eine todtraurige Sache. Die Dramatik jener Zeit wirkte lange nach. John kehrte zurück nach Torremolinos und auch seine Spur verwischte sich mit den Jahren. Ich hatte nie mehr etwas von ihm gehört.

John alias Stephen Carry wurde in diesen Märztagen, in denen sich das Schicksal Deutschlands wendete, von Stewardessen erst kurz vor dem Abflug von L.A. diskret an Bord geleitet. Er war nicht mehr so schlank wie einst, aber man sah seinem athletischen Körperbau an, dass er regelmäßig Sport trieb. Statt Gibran-Masche trug er nun sein Haar halblang und aus den Jesuslatschen waren feine braune Lederschuhe geworden. Der einst wallende Bart war total gestutzt und kurz getrimmt. Aus seinem länglichen Gesicht funkelten wie früher kluge und entschlossene blaue Augen. Aus den Hippieklamotten war ein modischer extravaganter Herren-Anzug geworden.

Ohne großes Aufsehen zu erregen, nahm er in einer Reihe der ersten Klasse Platz. Falls andere Passagiere ihn erkannten, so ließen sie es sich nicht anmerken. Unentschlossen, ob er es lesen sollte, schlug er erst das Exposé und dann die Drehbücher auf, die auf seinem Schoß lagen. Doch er war nicht bei der Sache. Das neue Filmangebot könnte zwar seinen Finanzstatus verdoppeln und er könnte sich eine noch größere und schickere Villa hoch über Malibu leisten. Aber wollte er das wirklich? Brauchte er nicht etwas ganz anderes? Zeit? Und endlich wieder eine neue Liebe?

Er legte die Skripte zur Seite.

Sobald er in Frankfurt gelandet wäre, würde er duschen, sich umziehen und es sich im Hotel in Ruhe auf einer Lounge Couch bequem machen. Erst dann würde er sich entscheiden. Carry war müde, und nach ein paar Minuten war er in seinem bequemen Erste-Klasse-Sitz eingeschlafen.

Als er aufwachte, stellte er fest, dass das Flugzeug noch nicht gestartet war. Die Stewardess bot ihm frischen Orangensaft an. Leider würde sich der Abflug noch etwas verzögern, erklärte sie. Man müsse noch Instrumente checken, aber sonst sei alles in Ordnung. Der Pilot versicherte über Lautsprecher, man könne bald starten.

Carry schaute auf seine Rolex – ein einfallsloses Geschenk seines Managers. Doch gerade in diesem Moment gab es eine weitere Durchsage. Dieser Flieger würde nirgendwohin fliegen. Der Flug war definitiv gestrichen. Alle wurden nervös. Nun galt es, die Passagiere auf den Flug am nächsten Tag umzubuchen. Das Übliche hin und her, jammern, bitten, fluchen. Carry blieb ruhig. Im Showgeschäft musste man sich unter Kontrolle haben.

Wer nicht warten wollte, konnte mit einer anderen Fluggesellschaft weiterfliegen, musste aber viel Zeit bei Zwischenlandungen einkalkulieren. Wenn Carry aber erst am nächsten Tag weiterflöge, würde er die entscheidende Sitzung mit dem Produzenten und dem Regisseur für die geplante neue Serie verpassen.

„Wir zahlen Ihnen eine Hotelübernachtung, wenn Sie heute keinen Flug nehmen möchten“, beteuerte die Flugbegleiterin am Counter.

Doch was würde es nutzen? Carry strich sich übers Haar und überlegte. Mason, sein Manager, würde ihm die ganze Flugzeugmisere ohnehin nicht glauben. Und ihm nie verzeihen, dass er seine einmalige Chance in Frankfurt nicht genutzt hatte.

Am Airport war die Hölle los, da alle versuchten, bei anderen Fluglinien unterzukommen. Letztendlich blieb Carry nur noch übrig, über Irland und den Donegal Airport zu fliegen, wollte er überhaupt eine Chance haben, rechtzeitig nach Frankfurt zu kommen. Ihm blieben gerade noch zehn Minuten, um Mason anzurufen, der ihn, um Zeit zu sparen, am Flughafen abholen sollte.

Sein Agent würde die Medien verständigen, damit diese ein paar Fotos von seiner Ankunft brachten, dazu eine kurze Story über den verspäteten Flug und ein paar Interviews über das neue Serienprojekt. Und dann würde Mason ihn schnurstracks zu dem Meeting fahren. Was immer auch geschah, er musste unbedingt dorthin. Alle zählten auf ihn.

Alle zählten auf ihn? Er war sich für einen Moment unsicher. Nun ja, er war für eine tragende Rolle vorgesehen, in der auch gesungen wurde, in der er Gitarre spielen sollte. Okay, dann würde er sich eben etwas verspäten, wahrscheinlich könnte er es knapp schaffen. Doch was nützte es, wenn er sich nun zu viele Gedanken machte. Deswegen würde das Flugzeug gewiss nicht schneller fliegen oder die Strecke abkürzen. Gab es Kürzeres als die Luftlinie? Also richtete sich Carry zum Schlafen ein, während der Flieger ostwärts durch die Nacht flog und schließlich in Irland landete.

Carry schaute auf seine teure Uhr. Er mochte sie wirklich nicht, musste sie aber anziehen, wenn ein Treffen mit seinem Manager bevorstand. Er wollte ja nicht undankbar sein und außerdem kannte er von seinen damaligen deutschen Hippiefreunden das Sprichwort: „Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul“. Das hatte er immer zu hören bekommen, wenn das brüderlich geteilte Marihuana nicht seinen Ansprüchen genügte.

Puh, das würde wirklich sehr knapp werden. Er würde sich beeilen müssen, um seinen Anschlussflug nach Deutschland zu bekommen.

So sehr er sich auch sputete und durch die langen Flure zum Gate hetzte, es war in der Tat zu knapp. Er konnte aus den großen Flächenfenstern der Halle nur noch zusehen, wie das Flugzeug nach Frankfurt ohne ihn abhob.

Mason, Freund und Feind zugleich, würde vergebens am Frankfurter Flughafen auf ihn warten, würde ihn ausrufen lassen, würde schließlich toben und versuchen, ihn anzurufen. Carry wollte ihm zuvorkommen und wählte die Nummer von Masons Mobiltelefon. Mason fuhr voll auf das Motorola-Teil ab; es war ihm nicht zu schwer. „Lieber schwer schleppen, als schwer erreichbar zu sein“, war seine Devise.

Carry hielt sein eigenes Mobiltelefon weit weg vom Ohr, um die lautstarke Wut seines Agenten nicht zu nah an sein Trommelfell zu lassen. Als sich Mason ausgetobt hatte, ihm die Puste ausgegangen war und seine maßlose Enttäuschung der Ernüchterung wich, klang er nur noch abgekämpft.

„Und jetzt? Was wirst du jetzt tun?“

Carry antwortete nicht sofort, sondern gab nur ein „Hm“ von sich. Schließlich sagte er: „Es ist ein Wink des Schicksals. Es zwingt mich zu einer Pause. Ich bin müde, sehr müde.“

„Du sagst Du seist müde?“ Masons Stimme war erneut unangenehm laut geworden. „Wenn jemand Grund hat, müde zu sein, dann ich!“, rief er in den Apparat. „Ich organisiere alles zu deinem Besten und dann das! Was denkst du, wie erschöpft ich bin!“

„Es liegt nicht an mir“, begann Carry, „der Flieger hatte Probleme.“

„Wälze die Schuld bitte nicht auf irgendeinen Flieger ab. Es gibt Anschlussflüge, es gibt Ersatzflieger. Du hättest einen Privatjet nehmen können. Wenn du hättest hier sein wollen, wärst du jetzt hier.“

„Können die Produzenten das Meeting nicht auf heute Abend oder morgen verschieben?“

„Selbstverständlich nicht. Marc Shmuger hat seine Zeit nicht zu verschenken. Er hat als bekannter Filmproduzent genug Schauspieler zur Auswahl. Mit seiner Connection zu Universal Pictures und der Europa Corporation braucht er nur mit den Fingern schnippen. Was, glaubst du wohl, sind das für Leute? Sie sind nur deswegen nach Frankfurt geflogen. Und ihre Flieger saßen nicht mit dem Arsch auf der Rollbahn fest.“ Mason redete sich erneut in Rage.

„Dann bleibe ich jetzt eine Woche hier. Wenn es zu spät ist für das Meeting, dann lassen wir es eben. Ich steige eine Weile aus.“

„Hey, das ist nicht der Zeitpunkt, um Scherze zu machen. Ich habe alles arrangiert …“

„Und ich habe alles versucht, nach Frankfurt zu kommen, aber die Fluggesellschaft hat mich im Stich gelassen. Bis bald, Mason, wir hören uns in einer Woche.“

„Das ist doch nicht dein Ernst! Wo willst du hin? Du kannst dich doch nicht einfach so verdünnisieren!“

„Ich bin ein erwachsener Mann. Wenn meine Fans mitbekämen, wie du mich gängeln willst, wäre meine und damit deine Karriere im Eimer. Ich kann eine Woche hier Urlaub machen oder einem Monat, wenn ich will. Wir sehen uns in Los Angeles.“ Carry schaltete sein Mobiltelefon aus. Dann ging er los und genehmigte sich noch einen Irish Coffee. Diese Art von Freiheit war neu für ihn. Er war dem wenig geliebten Treffen entkommen. Er konnte endlich einmal tun und lassen, was er wollte, ohne einen bevormundenden Manager konsultieren zu müssen. Er war tatsächlich frei.

Die Airline hatte ihm einen großen Gefallen erwiesen.

Aber wo sollte er hin? Vielleicht sollte er einen Reiseführer kaufen oder ein Reisebüro aufsuchen. Auf den Tischen ringsum lagen Prospekte mit Vorschlägen, was man in der Region alles machen konnte. In einem Schloss wurde ein mittelalterliches Bankett veranstaltet. So etwas fand er völlig verquer. Es wurde eine Tour angeboten zu einer spektakulären Klippe namens Moher, angeblich eines der Weltwunder. Man konnte Golfreisen buchen. Aber nichts davon sprach Carry an.

Eine der Broschüren jedoch warb mit einer „Woche im irischen März“ und lockte mit einem warmen, behaglichen Haus, meilenweiten Sandstränden, Klippen und wilden Vögeln. Carry wählte die Nummer, um sich zu erkundigen, ob noch ein Zimmer frei wäre. Eine warme Frauenstimme bestätigte ihm, dass sie tatsächlich noch ein Zimmer für ihn habe, und empfahl ihm, ein Mietauto zu nehmen und in Richtung Norden zu fahren. Sobald er in Honeybridge sei, solle er sich noch einmal melden, und sie würde ihn zum Haus lotsen.

„Womit muss ich rechnen?“, fragte Carry und vermied seinen Namen zu nennen. Vielleicht könnte er sogar inkognito buchen, was ihm am liebsten wäre.

„Mit freundlichen Menschen in einem freundlichen Haus“, hörte er die warmherzige Stimme lachend sagen.

„Ich meine die Bezahlung.“

„Bar oder mit Scheck, aber das können wir alles klären, wenn Sie hier angekommen sind. Mein Name ist Ferry. Und wie heißen Sie?“

„John“, antwortet Carry, ohne zu zögern.

„Gut, John, lassen Sie sich Zeit und geben Sie acht auf die irischen Autofahrer. Sie sind berüchtigt dafür, dass sie ohne Vorwarnung plötzlich ausscheren. Rechnen Sie immer mit dem Schlimmsten, dann kann nichts passieren.“

Die Anspannung in seinem Nacken ließ nach und er ließ die Schultern kreisen. Jetzt endlich war er ein ganz normaler Tourist, der einen dieser ganz normalen Urlaube machte. Keine Presseempfänge, keine lästigen Interviews, keine Fototermine, kein aufgesetztes Lächeln, kein Tross von Drehbuchschreibern, keine Skripte, die er auswendig lernen musste, kein Regisseur und keine nei­dischen Schauspielkollegen. Nur seine Gitarre begleitete ihn.

Es war ein kalter, klarer Märztag. Stephen Carry legte seinen kleinen Reisekoffer und das Musikinstrument auf den Rücksitz des Mietwagens und fuhr in Richtung Norden.

Er durfte nicht vergessen, dass er von nun an wieder John hieß.

Neue Zeiten - 1990 etc.

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