Читать книгу Dantes Theologie: Beatrice - Stefan Seckinger - Страница 24
2.2 Die Lebenswende als Sinnkrise kontingenter Selbstverwirklichungskonzepte
ОглавлениеDante lädt den unvoreingenommenen Leser seiner Zeit ein, ihm auf seiner Jenseitsreise zu folgen, er soll an seine Stelle treten, sich im Werk wiederfinden. Es ist die ganze Menschheit, der Mensch als solcher, der sich verirrt hat (die Wege Gottes verlassend), Orientierung und Halt in der Dunkelheit seines Lebens sucht und dabei sich eingestehen muss, auf andere angewiesen zu sein, die ihm fürsprechend und begleitend zur Seite stehen. Die Verwirrung ist Ausdruck der existentiellen Erfahrung der Sinnkrise, das Stehen im Walde. Das persönliche Geschick Dantes (aus der Situation der Verbannung schreibt er seine DC147) lässt sich als Krise der Lebensmitte bezeichnen, als ernüchterndes Eingeständnis, dass das Bisherige nicht mehr trägt und (dadurch bedingt) eine notwendige Zukunftsperspektive auszubleiben droht. Diese Situation der Ausweglosigkeit ist nun allerdings Initiator der Emporläuterung der Seele bis zur Schau Gottes, d. h. durch die Krise hindurchgehend steht ihm die ewige, absolute Liebeserfüllung in Aussicht, nach der er zeitlebens trachtete. Beatrice nennt diesen Umweg über das Höllen- und Fegefeuererleben das allein greifende Mittel zum Heil, da der Dichter schon zu tief gesunken sei.148 Die Bewältigung der Krise gelingt durch die Transzendierung des gegebenen Konfliktes, das Problem wird in den Bereich des Überweltlichen transponiert, die Eschatologie als ewiger, letztgültiger Bezugspunkt irdischen (kontingenten) Handelns – der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit des Schöpfers und dem Zielpunkt alles Seienden entsprechend – zum tröstenden Ausgleichsort irdischen Scheiterns.
In der persönlichen Krisenerfahrung stellt sich die Frage, was eigentlich im Leben trägt, die Frage nach dem ›Warum‹ und ›Wozu‹ des Lebens mit all seinen Problemen. In dieser Situation der Lebensmitte, d. h. gerade in der Zeit der (eigentlich) vollen Entfaltung und Verwirklichung entworfener Lebenspläne und Zielvorstellungen, sieht Dante sich von den Menschen verkannt und von seiner Heimat verraten, er ist mit all seinem politischen Engagement und seiner Unparteilichkeit149 gescheitert. Von daher gesehen ist seine niedergeschriebene Jenseitsreise – neben ihrer gesellschaftskritischen, mahnenden Intention – auch eigene Problembewältigung. Dante schildert die Hölle (die er mit der Hilfe Vergils durchstehen muss), seinen Weg der Sühne, als ein kontinuierliches Emporsteigen in der Zuversicht auf eine Neubegegnung mit Beatrice (seinem persönlichen Inbegriff der eigenen Glückseligkeit) und schließlich auf das Paradies (als die endgültige Erlösung in der Anschauung Gottes). Obgleich damit das Erlebnis himmlischer Erfülltheit nur unter der Bedingung vorheriger Höllenerfahrung möglich ist, bleibt dennoch der Maßstab von allem die zum Paradies berufene Bestimmtheit des Daseins. Das Verlorengehen und Wiederfinden der geliebten Augen Beatricens, die ihm Tor zur Ewigkeit sind, entspricht der Läuterung seines Liebesstrebens als einer Neuausrichtung zur unbedingten Liebesfülle, die Gott ist. Insofern lässt sich sagen, dass Dante seine Gefühlswelt nicht sub specie aeternitatis schreibt, um damit eine dreifache (entsprechend der drei Jenseitsreiche) Weiterführung irdischer Lebensschicksale in der Geronnenheit endzeitlicher Vorstellungen zu geben, vielmehr, um die Möglichkeit und Durchführung der Überwindung individueller Höllen (als Hoffnungs- und Ausweglosigkeit) aufzuzeigen. Das schmerzhafte Erlebnis des Hinscheidens seiner Jugendliebe wird so für ihn zur Erfahrung ihrer erhöhten Daseinsweise, und Beatrice wiederum vermittelt Dantes Anschauung Gottes als den Zielgrund der Schöpfung, d. h. auch seines eigenen Lebens.