Читать книгу Dantes Theologie: Beatrice - Stefan Seckinger - Страница 28

Exkurs : Die prinzipielle Zuordnung von natürlicher und übernatürlicher Gotteserkenntnis in der Divina Commedia178

Оглавление

Nach Thomas von Aquin179 besteht eine prinzipielle Zuordnung von natürlicher und offenbarungsabhängiger Erkenntnis Gottes.180 Die in seiner theologischen Summe aufgeworfene und thematisierte Frage nach dem Seelenheil des Menschen geht von einer grundsätzlichen Relationalität von Natur und Übernatur aus ; des Menschen Hinordnung auf das Erreichen der Seligkeit in der Anschauung Gottes ist in seiner Natur (auch bleibend in seiner gefallenen) grundgelegt, durch sie allein aber nicht zu erreichen. Diese Verwiesenheit181 als Zu- und Anspruch gilt für den ganzen Menschen in seinem Denken und Fühlen, Wollen und Handeln. Die ihm eingegossenen theologischen Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe dienen zur Vervollkommnung der Seele im christlichen Sinn, wobei ›übernatürliche‹ wie ›natürliche‹ Tugenden (die vier Haupt- bzw. Kardinaltugenden182, die wie Erstere nicht loszulösen sind von der Allursächlichkeit Gottes183) gemäß dem Axiom »gratia non tollit, sed perficit naturam«184 aufeinander bezogen sind. Die Übernatur nimmt also die Gegebenheit der Natur in ihre Dienste, nicht zerstörend, sondern vielmehr darauf aufbauend, sie vollendend. Entsprechend verweisen auch philosophische und theologische Erkenntnissuche aufeinander, da es »keinen Grund für das Bestehen irgendeines Konkurrenzkampfes zwischen Glauben und Vernunft«185 gibt. Ferner gilt nach der Enzyklika fides et ratio : Die Wahrheit, »die uns Gott in Jesus Christus offenbart, steht nicht im Widerspruch zu den Wahrheiten, zu denen man durch das Philosophieren gelangt.«186 Von daher ist es notwendig, die Wechselwirkung von Philosophie und Theologie unter der Perspektive des genuin theologischen Beitrags philosophischer Wahrheitssuche zu beleuchten : »Die aus der göttlichen Offenbarung kommenden Beiträge zur Wahrheit abzulehnen, bedeutet nämlich, sich zum Schaden der Philosophie den Zugang zu einer tieferen Wahrheitserkenntnis zu versperren.«187 Dabei will Theologie die philosophische Erkenntnis nicht begrenzen bzw. vereinnahmen, vielmehr einen Beitrag zu ihrer Entgrenzung liefern, ein Angebot, welches sich als Antwortmöglichkeit philosophischer Fragestellungen aus der christlichen Offenbarung heraus versteht.

Der Einzelne sieht sich in diese prinzipielle Zuordnung von natürlicher und übernatürlicher Gotteserkenntnis hineingestellt. Für Karl Rahner sind deswegen existentialphilosophische Überlegungen Ausgangspunkt seiner Thematisierung der Offenheit für Transzendenz als Konstitutivum des Menschen. Das entsprechende Verhältnis von Natur und Übernatur skizziert er in seinem ›Grundkurs des Glaubens‹. Nach Rahner interpretieren sich Natur und Übernatur gegenseitig, Natur und Gnade lassen sich adäquat jeweils nur vom anderen her bestimmen.188 Die Erfahrung von Transzendenz wird von Rahner wie folgt definiert : »Das subjekthafte, unthematische und in jedwedem geistigen Erkenntnisakt mitgegebene, notwendige und unaufgebbare Mitbewußtsein des erkennenden Subjekts und seine Entschränktheit auf die unbegrenzte Weite aller möglichen Wirklichkeit nennen wir die transzendentale Erfahrung189 Der Mensch ist demnach grundsätzlich offen für die Erfahrung einer Offenbarung Gottes190, welche ihm seine eigene Existenz erst in rechter Weise deutet. Ausgehend von seiner sinnlich-begrenzten Erfahrungswelt gehört es zur apriorischen Struktur des Selbstbesitzes des Einzelnen, dass er in einem Vorgriff auf das Unbedingte seine raumzeitlich gesetzten Grenzen überschreitet. Auch wenn dies zunächst ein unthematisches Wissen von Gott ist, eine Ahnung und ein Verweis auf Gott als den Bezugspunkt aller transzendenten Erfahrung, so beschreitet Rahner im Grunde den Weg des Aquinaten in dem Bewusstsein der Verwiesenheit des Menschen auf einen ihn unendlich übersteigenden Sinnhorizont, von dem aber jegliche Orientierung und Sinnverortung abhängt. Im Vorgriff auf die Unendlichkeit Gottes ist diese selbst schon präsent als ein Geschenk von Ihm her »in dem Sinn der Seinsempfängnis, letztlich der Gnade.«191 Diese Vorahnung des Menschen auf die ihm von Gott her geschenkte Erfahrung der Seinsfülle charakterisiert auch seine Sehnsucht nach Erlösung. In der vorgrifflichen Erfassung des unbedingten Seins drückt sich die Hoffnung auf eigene Vollendung, auf die persönliche Hineinnahme in diese Unbedingtheit aus, die in der raumzeitlichen Bedingtheit des irdisch-endlichen Lebens nicht eingeholt werden kann. Daher nennt Rahner das in der transzendentalen Erfahrung zum Ausdruck gebrachte Wesensmoment des Menschen ein übernatürliches Existential192.

Auch Dante setzt für seine Divina Commedia diese gegenseitige Bedingtheit von Theologie und Philosophie, von Glaube und Vernunft, von Transzendenz und Immanenz voraus. So verleiht er etwa im 29. Gesang des Purgatorio den erworbenen (Natur) und eingegossenen Tugenden (Übernatur) einen bildhaften Ausdruck : Am rechten Rad des Triumphwagens der ecclesia (gezogen von Christus in der Darstellung eines Greifes als Bild seiner gottmenschlichen Natur) gehen in der Gestalt von drei Frauen die drei theologischen Tugenden, auf der anderen Seite sind es deren vier als Allegorien der vier Kardinaltugenden.193 Diese dichterische Verbildlichung der Tugendlehre des Aquinaten geht von einer kategorischen Zusammenschau der beiden Gruppen aus, unter eindeutigem Primat der Liebe : »[…] cum charitate simul infunduntur omnes virtutes morales.«194

Dem Tugendverständnis der Commedia geht demnach eine oben skizzierte Auffassung des Ineinanders von Offenbarung/Glaube und natürlicher Gotteserkenntnis/Vernunft voraus, was allerdings primär in der Frage nach dem individuellen Heilsweg des Einzelnen anschaulichen Niederschlag findet. Glaube und Wissen sind in ihrem Bedingungsverhältnis derart aufeinander verwiesen, dass der Offenbarungsglaube nach seinem reflexiven Verständnis drängt, ohne damit von der Vernunft allein ableitbar zu sein (was gerade dem Wesen der Offenbarung als unableitbar-übernatürlicher Selbstmitteilung des dreieinigen Gottes in der Bedingtheit raumzeitlicher Weltwirklichkeit widersprechen würde).

Für den Jenseitsweg Dantes bleibt festzuhalten, dass von der Gnade her Natur als auf diese hingeordnet gesehen werden muss (was entsprechend für das Verhältnis von Theologie und Philosophie auszusagen ist) vor dem Hintergrund der Mysterialität des erlösenden Offenbarungsgeschehens. Der eigentliche Zielpunkt des eschatologischen Erkenntnisweges besteht jedoch im soteriologischen Moment, in der persönlichen Vollendung, die als denkerisch uneinholbar das Gebet und nicht die Abhandlung erheischt : »Der letzte Sinn der Philosophie liegt in der Theologie, der letzte Sinn der Theologie aber in der Heiligkeit.«195

Hinsichtlich der Zuordnung Beatricens zur Theologie und Vergils zur Philosophie ist in diesem Zusammenhang auf das angekündigte Ende der Begleitung Vergils in Inf. I, 122–126 (da Vergil dem Kreis des limbus patrum zugehörig selbst der ewigen Anschauung Gottes verlustig ist) und v. a. auf Par. XIX, XX und XXIV196 hinzuweisen, wo Dante sein persönliches Glaubensbekenntnis ablegt197. Stets gibt die übernatürliche, offenbarungsabhängige und gnadengebundene Gotteserkenntnis den Maßstab für die natürliche, vernunftgeleitete ; die Glaubensannahme (und die damit verbundene Umkehrbereitschaft) wird dadurch keineswegs zum sacrificium intellectus, vielmehr wird das unvoreingenommene Erkenntnisstreben des Menschen selbst erhoben, sodass er zu sich selbst (gemäß dem Verständnis des desiderium naturale bzw. der potentia oboedientialis)198 kommt. Dante wiederum weist stets auf die Unableitbarkeit des Geheimnisses der personalen Rechtfertigungsgnade hin ; es geht ihm schließlich weniger um theoretische Spekulation als um die ermahnende und aufrüttelnde Darstellung des Einzelschicksals und seiner Bestimmung zur visio beatifica. Was demnach in der wissenschaftlichen Abhandlung theologischer Erkenntnissuche scheinbar klar und unzweideutig dingfest gemacht werden soll, ist in seiner konkret-individuellen Anwendung für den Dichter der mystischen Gottesbegegnung im Jenseits unausdrückbar, wodurch gerade seine Bitte im letzten Gesang der DC vor der Schau des ewigen Lichtes verständlich wird :

»O höchstes Licht, das über Menschensinne

So weit erhaben, leihe meinem Geiste

Ein wenig noch von dem, was du geschienen ;

Und mache meine Zunge also mächtig,

Daß sie ein Fünklein nur von deinem Glanze

Den künftigen Geschlechtern lassen möge.«199

Auf der Ebene der Untersuchung der Handlung der DC erscheint es dem Interpreten notwendig, sich dem Anspruch dieser Selbstbescheidung anheimzustellen ; das Verständnis der Dichtung als belebende Darstellung der theologischen Lehre lässt sich kaum angemessen thematisieren, indem man von dieser Konkretheit und Anschaulichkeit wiederum einfachhin abstrahiert und in die reine Systematik zurückfällt. Das personal-emotionale Theologieverständnis in der Gestalt Beatricens in Analogie zu einem personal-inspirativen Philosophieverständnis im Auftreten Vergils zeigt, dass es dem Dichter nicht um repräsentative Personen dieser Wissenschaften ging (wozu Thomas und Aristoteles sich weitaus besser eigneten), sondern um ihn ansprechende Erfahrungen seines Lebens, wobei auch und gerade das Schicksal der beiden ihn prägenden Persönlichkeiten sein Interesse einnimmt (bei Vergil ist dies die Frage nach der Verdammung der ungetauft Gerechten bzw. nach der Gnadenwahl Gottes, in Beatrice sieht er seine eigene Erlösung unmittelbar angesprochen). Dass diese personale Ebene nicht die theoretische Grundlegung der theologischen Aussage überflüssig werden lässt, ohne diese gar nicht verstanden werden kann, soll in den folgenden – die theologische Systematik integrierenden – Erläuterungen zu den drei Liedern der Divina Commedia deutlich werden.200

Dantes Theologie: Beatrice

Подняться наверх