Читать книгу Dantes Theologie: Beatrice - Stefan Seckinger - Страница 30
3.1.2 Lethe und Eunoe – die erlangte Vergebung
ОглавлениеIm 28. Gesang des Purgatoriums kommt Dante durch den Garten Eden gehend – in seiner Schönheit eindeutig dem dunklen, undurchdringlichen Sündenwald in Inf. I gegenübergestellt – an einen unvergleichlich klaren Bach, der ihm den Weg versperrt : Lethe224. Dort begegnet ihm auch die schöne, vor sich hin singende, jungfräuliche Frau (bella donna225) mit Namen Matelda,226 die ihm das Geheimnis von Schöpfung und Sündenfall wie folgt kundtut :
»Das höchste Gut, das nur mit sich zufrieden,
Erschuf den Menschen gut, und dies Asyl
Gab’s ihm zum Pfande für den ewigen Frieden.
Er weilte hier nicht lange, da er fiel ;
Sein Fall verwandelte in Angst und Beben
Ein züchtiges Lachen und ein süßes Spiel.«227
Die Erlangung der Urstandsgnade228, die unzerrüttete Ursprungsnähe von Gott und Mensch im irdischen Paradies, wird im Folgenden im Anblick Beatricens, in der Versenkung in ihre Augen, dichterisch-zentriert zur Darstellung gebracht. Mit den Worten des Hohen Liedes Veni sponsa de Libano229 leitet der Dichter das Wiedersehen mit seiner seligen Jugendliebe ein. Mit weißem Schleier (wie eine Braut geschmückt) erscheint Beatrice, sie trägt ein rotes Kleid unter einem grünen Mantel, die Symbolfarben von Glaube, Hoffnung und Liebe.230 Noch in der Verschleierung (der unverschleierte Anblick wird ihm erst nach seiner Beichte in Purg. XXXI, 133 ff. gewährt) erkennt Dante Beatrice (Purg. XXX, 34 ff. : E lo spirito mio […] d’antico amor senti la gran potenza […] conosco i segni dell’ antica fiamma), und dies ist der Augenblick, da ihn Vergil (dolcissiomo patre ; Purg. XXX, 50) verlässt (Purg. XXX, 46 ff. als Erfüllung des Freispruches in Purg. XXVII, 127 ff.), worauf Dante in Tränen ausbricht. Beatrice mahnt ihn, Tränen der Reue, nicht des Abschiedes zu weinen (Purg. XXX, 55–57 und 73–75). Dies ist die einzige Stelle in der DC, in der Dantes Name genannt wird (Purg. XXX, 55) – entgegen dichterischer Gepflogenheit231 nennt sich hier der Verfasser (durch den Mund Beatricens) selbst (womit deutlich wird, dass die Form Dienerin des Inhaltes ist, demnach die eigentliche Intention der DC nicht in der künstlerischen Darstellungskraft, sondern in ihrer existentialtheologischen Ausrichtung zu suchen ist).232
Die Begegnung mit Beatrice im irdischen Paradies, am Ende seines Läuterungsweges, mündet in Beichte und Lossprechung ein. Seine volle Schuld erkennt Dante erst im Angesicht der Gottesweisheit (Beatrice), da sie ihm von seinem befangenen, raumzeitlich bedingten Erkenntnisvermögen aus (Vergil) nicht in ihrer unmittelbaren und weitreichenden Schwere ins Bewusstsein gebracht werden kann. Die Liebe als Grund der Umkehr entlässt aus sich heraus die eigene Betroffenheit hinsichtlich des persönlichen Versagens und Scheiterns. Vor Beatrice wandeln sich die in Infernum und Purgatorium ausgesprochenen Mitleidsbekundungen gegenüber den Verlorenen und Büßenden in die eigene Reue in der Erkenntnis der eigenen Schuld. In Purg. XXX, 102 ff. nimmt Beatrice die in Inf. II vorgebrachte Anklage (welche durch Dante selbst in Inf. I als Bekenntnis der eigenen Schuldverstrickung aufgegriffen wird) wieder auf, indem sie ihm vor der Zeugenschaft der Heiligen und Engel (die den Eindruck eines neuzeitlichen Geschworenengerichts erwecken) ins Gewissen redet :
» […] durch das reiche Maß von Gottes Gnade […]
War dieser so in seinem jungen Leben
Geschaffen, daß ihm jede gute Gabe
Sich hätte wunderbar entfalten können.
Doch soviel böser wächst und soviel wilder
Das Ackerland mit schlechtem, rohem Samen
Je mehr es in sich trägt an guten Kräften.
Für kurze Zeit gab ihm mein Antlitz Stärke ;
Indem ich ihm die jungen Augen zeigte,
Führt’ ich ihn mit mir auf dem rechten Wege.
Sobald ich auf der Schwelle angekommen
Des zweiten Alters und das Leben tauschte,
Verließ mich dieser und ergab sich andern.
Als ich vom Fleisch zum Geist emporgestiegen,
In Schönheit und in Tugend noch gewachsen,
Ward ich ihm weniger genehm und teuer.
Er wandte seinen Schritt auf falsche Wege
Und folgte trügerischen Wunschgebilden,
Die kein Versprechen jemals ganz erfüllen. […]
So tief fiel er, daß alle andern Wege
Zu seinem Heile schon vergeblich waren,
Außer dem Anblick der verlornen Seelen.«233
Die durch Beatricens Anklage initiierte Gewissenserforschung Dantes knüpft an Purg. IX an, wo er am Eingangstor zum eigentlichen Läuterungsberg (mit seinen sieben Stufen der jeweiligen Sündenschuld) in seine Buße eingewiesen wird.234 Das Sakramentenverständnis der Kirche einholend (in der Reihenfolge Reue [contritio], Bekenntnis [confessio], Genugtuung [satisfactio] und Lossprechung [absolutio])235 rufen die Worte Beatricens in ihm zunächst Reue hervor, indem sie von seiner hohen Begnadung spricht ; das Vergeuden eines Talentes wiegt umso schwerer, je mehr Erwartungen an es geknüpft waren (gemäß Lk 14,15 ff. und v. a. Lk 19,11 ff.).236 Die einzige Möglichkeit seiner Umkehr sieht Beatrice in der drastischen Anschauung derjenigen, die in Ewigkeit scheiterten und des Ganges mit jenen, die vor ihrem Eintreten in die ewige Glückseligkeit selbst nach Läuterung streben, angetrieben von ihrer noch verbliebenen Restschuld (Purg. XXX, 136–141, vgl. analog hierzu die Aussagen in Inf. II). Der (An)Klage (accusatio) folgt in Purg. XXXI die Beichte (confessio). In Purg. XXXI, 22–30237 wiederholt Beatrice die Anklage – fragend nach den Gründen seines Verirrens – und Dante gibt eine schuldeingestehende Antwort, die gerade nicht eine Relativierung ihrer selbst durch Anführung mildernder Umstände intendiert und wieder auf die fehlende Orientierung an Beatrice anspielt.238 Gerade das Eingeständnis Dantes (dessen Bedeutung für die gesamte Beichte ist in Purg. XXXI, 37–42 angesprochen) nach der Anklage Beatricens, die ihm (schon allein ihr Name) Ehrfurcht und Respekt einflößt (Par. VII, 13–15), zeigt, dass nicht ihr vermeintliches Fernbleiben, ihre Unerreichbarkeit, Grund seiner Schuldbefangenheit ist, vielmehr er selbst seine Augen von der Erhöhten abwandte (dem entspricht Purg. XXXI, 46 ff.). Auch der tote Leib (carne sepolta) hätte ihm Führer sein müssen, ja viel mehr als der irdische239, derweil die Unbedingtheit des irdischen Erlebens (sozusagen der Einbruch des Transzendenten ins Immanente) nicht wieder durch Bedingtheiten des Lebens eingeholt werden kann, sondern Grunderlebnis für alles Weitere und insbesondere des Strebens nach der glückselig machenden Anschauung Gottes ist.240
Nach Reue241 und Bekenntnis (die satisfactio ist durch den Aufstieg zum irdischen Paradies gegeben) sieht Dante erstmals im Laufe seiner Jenseitsreise in die Augen der geliebten Gottesführerin, die ihm Vorausgleichnis der visio beatifica sind. Beatrice verweist somit Dante auf sein Gewissen, sie redet ihm nicht Schuld ein, sondern öffnet ihm vielmehr die Augen, bewegt ihn zur Selbsterkenntnis, indem sie ihn den Weg der Selbstwerdung einschlagen lässt, ihn auf den rechten Weg der Gottsuche bringt. Durch ihren Eintritt in die Ewigkeit verklärte sie sich zum Sehnsuchtsbildnis unbedingter, absoluter Liebe und steht so für die Rückgewinnung der Blickrichtung hin zum Unbedingten, nachdem Dante durch die Verabsolutierung irdischer Güter das ewige Gut selbst aus den Augen verlor. Sie ist die personifizierte Aufforderung zur Transzendentalisierung kontingenter (scheiternder) Lebenswirklichkeit.
Das Bad (das Trinken bzw. die Taufe242) im Lethefluss (Purg. XXXI, 91 ff.) durch Matelda versinnbildlicht Dantes Absolution ; er wird aufgenommen in den Reigen der Kardinaltugenden (Purg. XXXI, 104 in Anlehnung an Purg. XXIX, 130–132) und erblickt in Beatricens Augen (zunächst noch verschleiert) Jesus Christus (in der Greifengestalt ; Purg. XXXI, 115 ff. in Anlehnung an Purg. XXIX, 108–114). Die vier weltlichen Tugenden bereiten auf die drei theologischen (Purg. XXXI, 111) vor243, die sich ihm im (nun unverschleierten) Anblick Beatricens zeigen, da sie sich in die Anschauung Gottes versenkend ihrer zweiten Schönheit erfreut (la seconda bellezza ; Purg. XXXI, 138). H. Gmelin schreibt in seinem großen Dantekommentar hierzu : »Der Schluß des Gesanges bringt die abschließende Szene des Beichtaktes, das sichtbare Zeichen der Gnade für den Geläuterten, die Enthüllung Beatrices […] in dem sich das Augenmotiv der Minnedichtung mit dem Spiegelmotiv der transzendentalen Lichtsymbolik verbindet […]. Dieses Spiel der Blicke, in dem Beatrice die Mittlerin zwischen Dante und Christus darstellt, ist begleitet […] durch […] den Tanz der drei geistlichen Tugenden«.244 Beatrice, die Seligmachende, Allegorie des Gottschauens und der dahin führenden Gottesweisheit, ist hier als Mittlerin245 ausgezeichnet ; in ihr und durch sie erblickt Dante die Unbedingtheit der göttlichen Liebesfülle. In der Transzendierung irdischer Liebeserfahrung (im Gegenüber/Anblick des geliebten Du) gewinnt diese erst ihre Tiefe, da sie als Abbild der Liebe des Dreieinigen246 auch in ihm ihren Zielgrund weiß und dadurch vor Selbstvergottung geschützt ist. Selbstrelativierend ob ihrer Abkünftigkeit von Gott und ihrer Zukünftigkeit in Gott erfährt irdische Liebessehnsucht Mut zur Einholung der eigenen Bedingtheit und Anfälligkeit angesichts der Bedrohung aller kontingenten Wirklichkeit. Der Sackgasse der Verabsolutierung des Endlichen wird in der DC mit der Transzendierung irdischer Liebessehnsucht247 begegnet, die neue Wege gangbar macht, den Horizont und den Blick auf die Sterne eröffnet : Puro e dosposto a salire alle stelle.248