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ОглавлениеKriminalhauptkommissar Markus Kern saß an diesem Morgen bereits sehr früh im Büro. Er hatte noch allerlei Schreibkram zu erledigen und da er heute Abend ausnahmsweise nicht erst um 9 Uhr das Büro verlassen, sondern noch Zeit mit seiner Frau verbringen wollte, war er extra früh aus dem Haus gegangen und hatte sich vorhin nur einen Kaffee und ein Donut zum Frühstück gegönnt. Vielmehr brauchte es nicht, damit er einigermaßen fit den Vormittag überstand. Später würde er dann zum Mittagessen in die Kantine gehen. Er hatte soeben seinen PC eingeschaltet, als das Telefon klingelte. „Kern?“, meldete er sich. „Guten Morgen, Chef“, erklang die Stimme am anderen Ende, welche seiner Kollegin, Kriminaloberkommissarin Kathrin Klein, gehörte. „Guten Morgen. Ihr Anruf zu so früher Zeit kann nichts Gutes bedeuten!“, meinte Markus Kern, halb ernst, halb belustigt. „Ich fürchte nein“, entgegnete Kathrin. Wir haben eine Leiche.“ Und das um die Zeit, murmelte Kern kaum hörbar. „Wo?“ „Im Sommerrain in Bad Cannstatt“, antwortete Kathrin. „In Ordnung“, sagte er etwas resigniert, da er wusste, dass dies heute ein langer Tag werden würde. „Bin in fünfzehn Minuten da.“
Als sich Markus Kern kurze Zeit später der Polizeiabsperrung näherte, an der sich zu dieser Zeit schon einige Schaulustige tummelten, wurde er von seiner Kollegin Kathrin Klein begrüßt. „Guten Morgen!“, sagte sie fröhlich. „Guten Morgen. Sie habe ich hier nicht erwartet, sind Sie nicht seit gestern im Urlaub?“, fragte Kern verwundert. „Doch, allerdings hat man mich gebeten, für ein paar Kollegen einzuspringen, da sich gerade heute Morgen einige krank gemeldet haben und ich wollte Sie diesem Anblick nicht allein überlassen.“ „Sehr freundlich“, grinste Kern, der bereits auf den ersten Blick feststellte, dass dies kein gewöhnlicher Raubüberfall war. Direkt hinter der Polizeiabsperrung lag die Leiche eines Mannes, ca. vierzig - fünfzig Jahre alt mit leicht ergrautem Haar. Er lag zur Seite gekippt, was darauf schließen ließ, dass er erst auf die Knie gesackt war. Sein Mantel, komplett mit Blut befleckt, die Augen im Schock geöffnet, offenbar traf ihn der Tod völlig unvermittelt. Eine braune Aktentasche lag neben ihm, ebenfalls blutbeschmiert. Das Auffällige war aber nicht ein toter Spaziergänger, wie ihn Markus Kern in seiner Laufbahn schon etliche Male gesehen hatte, sondern die Botschaft, die auf der hinter der Leiche liegenden Hauswand hinterlassen wurde:
Spiel mit mir!
Die Worte waren groß und in roter Farbe geschrieben. „Ist das Blut?“, fragte Kern sichtlich beunruhigt. „Nein“, entgegnete seine jüngere Kollegin. „Die Spurensicherung hat uns bereits bestätigt, dass es sich vermutlich um ganz normale rote Farbe handelt.“ Kathrin Klein war erst siebenundzwanzig und seit zwei Jahren beim Morddezernat. Sie war ehrgeizig und zielstrebig. Kern war sich sicher, dass sie eine steile Karriere machen würde. Kathrin hatte blonde, lange Haare und die dazu passenden blauen Augen, was sie sehr attraktiv machte. Er selbst war ein alter Hase und mit seinen knapp fünfzig bereits seit fast zwanzig Jahren dabei.
Herr Gust von der Spurensicherung und sein Kollege waren damit beschäftigt, Fotos vom Opfer und von der Hauswand zu machen. Der Rechtsmediziner Dr. Günther Freck war noch über die Leiche gebeugt und erhob sich, als Kern näher kam. „Guten Morgen. Was wissen wir bisher?“, fragte Kern den Rechtsmediziner. „Morgen. Ein Schuss aus nächster Nähe. Der Mann starb durch den Schuss in den Rücken innerhalb weniger Sekunden. Todeszeitpunkt zwischen 22 und 23 Uhr.“
„Er trug Personalausweis, Schlüssel, Handy und einige geschäftliche Unterlagen in der Aktentasche bei sich“, fuhr seine Kollegin Kathrin Klein fort. „Einen Raubmord können wir ausschließen. Es wurden weder Geld noch sonstige Wertgegenstände entwendet."
Laut Ausweis ist sein Name Robert Thäler, fünfundvierzig Jahre alt, und nach dem Ehering an seinem Finger zu schließen, verheiratet. Er wohnt nur zwei Blocks von hier entfernt, im Sommerrain, Rosmarinweg. Seiner Visitenkarte nach war er als Immobilienmakler tätig und gerade auf dem Weg nach Hause, als er von dem Täter oder der Täterin überrascht wurde.“ Kern nickte. „Haben Sie bereits jemanden zu seiner Familie geschickt?“ „Ja, haben wir,“ entgegnete Kathrin. „Zwei Beamte sind bereits auf dem Weg.“ Kern beneidete die Beamten nicht um diese Aufgabe. Der Familie mitzuteilen, dass die Kinder, sofern er welche hatte, ohne Vater aufwachsen würden, ging auch ihm jedes Mal an die Substanz. „Irgendeine Vermutung, was es mit der netten Botschaft auf sich hat?“ Er nickte mit dem Kopf in Richtung Wand. „Keine Ahnung“, meinte Kathrin ratlos. „Wenn es für den Täter ein Spiel ist, Menschen umzubringen, dann ist er völlig krank. Andere Hinweise stehen noch aus.“ „Wir sollten abwarten, was die Kollegen zu berichten haben. Vielleicht weiß die Familie mehr, vorausgesetzt, sie ist derzeit überhaupt in der Lage, irgendetwas zu Protokoll zu geben.“ „Was ich bezweifle“, meinte Kathrin seufzend.
„Der Mann hat ihn gefunden?“, fragte Kern und deutete auf einen älteren Herrn, der, mit seinem braunen Dackel an der Leine, neben einem Polizisten stand und aufgeregt erzählte. Offenbar war das seit langer Zeit ein Highlight in seinem Leben. „Ja“, sagte Kathrin. „Der Notruf ging um 05.30 Uhr ein. Der ältere Herr berichtete, er sei gerade mit seinem Hund unterwegs gewesen, als er die Leiche in der Gasse entdeckte. Geschockt verständigte er sofort den Notruf, die Kollegen waren dann kurze Zeit später vor Ort.“ „Gut, danke. Ich spreche mit ihm. Fahren Sie bitte derweil ins Präsidium und bringen Sie mehr über das Opfer in Erfahrung. Mittlerweile müssten auch die Kollegen zurück sein. Schicken Sie bitte auch Beamten zu den Nachbarn. Bei einem Pistolenschuss müsste jemand etwas gehört oder gesehen haben.“ „Alles klar.“ Kathrin lief zu ihrem Fahrzeug zurück.
Kern ging zu dem Herrn, dessen Dackel sich mittlerweile auf den Boden gesetzt hatte und gespannt wartete, dass sein Herrchen mit ihm den Spaziergang fortsetzte. „Guten Morgen“, begrüßte Kern den älteren Mann freundlich. „Ich bin Kriminalhauptkommissar Markus Kern. Und Sie sind?“ „Oh, hallo“, grüßte ihn der ältere Herr mit Glatze und Brille, ganz offenbar erfreut, dass er nun wieder die volle Aufmerksamkeit erhielt. „Mein Name ist Herbert Falkner.“ „Herr Falkner, können Sie mir schildern, was passiert ist?“, begann Kern. „Ja natürlich“, sagte der ältere Herr aufgeregt. „Ich war heute Morgen, wie jeden Tag, mit Bello, meinem Hund“, er zeigte auf den Dackel, „spazieren. Normalerweise gehen wir immer die Parallelstraße hoch, aber plötzlich fing Bello an wie verrückt zu bellen und zerrte an der Leine. Ich war überrascht, weil ich nicht wusste, was er plötzlich hat. Das macht er normalerweise nie. Und dann zog er mich an der Leine in die Seitenstraße und das Erste, was mir auffiel, war die rote Schrift an der Wand. Im ersten Moment dachte ich, hier hätten sich ein paar Jugendliche einen Streich erlaubt, aber dann sah ich die Leiche und ach, großer Gott. Ein furchtbarer Anblick!“ Herr Falkner hob schockiert die Hand vors Gesicht. „Einfach nur schrecklich. Ich hatte zum Glück mein Handy dabei und konnte direkt den Notruf wählen.“ Kern hörte ihm aufmerksam zu. „Können Sie sich noch erinnern, um welche Uhrzeit das gewesen ist?“ „Ja, selbstverständlich“, erklärte Herr Falkner, als sei das eine völlig überflüssige Frage. „Das war um 05.30 Uhr. Ich stehe jeden Tag zur selben Zeit auf, drehe mit Bello die Runde und bin um 05.45 Uhr wieder zuhause zum Frühstück.“ „Verstehe.“ Kern machte sich Notizen auf seinem Block. „Ist Ihnen, als Sie Ihre Runde gedreht haben, irgendetwas aufgefallen? Haben Sie irgendjemand in der Nähe des Tatortes gesehen oder haben Sie sonst irgendetwas bemerkt?“ „Das hat mich Ihr Kollege vorhin auch schon gefragt. Leider nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich bin meistens der Erste, der um die frühe Zeit unterwegs ist. Viele gehen zwar schon zur Arbeit, nehmen aber nur selten den Weg durch diese Gasse.“ „In Ordnung“, meinte Kern. „Sie kannten das Opfer nicht?“ „Ich bin hier sehr oft unterwegs. Ich kenne die meisten Leute. So auch ihn, aber nur vom Sehen her. Ich weiß nicht, wie er heißt, nur das er ein paar Blocks von hier wohnt und Familie hat. Die Armen. Sie tun mir sehr leid!“ „Gut, vielen Dank für Ihre Infos. Bitte halten Sie sich notfalls bereit, falls wir noch weitere Fragen haben sollten oder Ihnen noch etwas Wichtiges einfällt. Ihre Daten haben wir.“ „Ich helfe, wo ich nur kann!“, sagte Herr Falkner freudig. Kern verabschiedete sich höflich. Er würde nun zurück ins Präsidium fahren und sich mit Kathrin besprechen. Vielleicht hatte sie bereits neue Ergebnisse.
Eine Stunde später saßen Kathrin und er zusammen mit zwei weiteren Kollegen in dem kleinen Besprechungsraum im Präsidium. „Kathrin, haben Sie etwas herausgefunden?“, fragte Kern. „Nicht wirklich“, meinte sie zögernd. „Wie, nicht wirklich? Ein Schuss muss doch die gesamte Nachbarschaft aufgeweckt haben. Oder hat der Täter einen Schalldämpfer benutzt?“ „Nein, das können wir mit Sicherheit ausschließen,“ entgegnete Kathrin. „Die Nachbarn haben von einem lauten Schuss berichtet. Allerdings hat in der Dunkelheit keiner etwas gesehen. Offenbar hielten es die meisten für ein paar durchgeknallte Teenies, die einen Chinaböller angezündet haben und dann abgehauen sind. Als nichts weiter geschah, sind die Nachbarn wieder ins Bett.“ „Nichts außer einer Leiche, die grade auf offener Straße abgeknallt wurde, meinen Sie“, entgegnete Kern sichtlich genervt. „Der Täter hat, nachdem er Robert Thäler erschossen hat, diese mysteriöse Botschaft an der Wand hinterlassen. Wenn die Nachbarn aufgeschreckt waren und ans Fenster gingen, um nachzusehen, hätten sie das doch sehen müssen. Es war nicht vollkommen dunkel. Die Beleuchtung der gegenüberliegenden Straße muss noch ein wenig Licht in die Gasse geworfen haben. Also zumindest genug, um so etwas zu bemerken.“ Kern war etwas lauter geworden. Er richtete sich an seine beiden Kollegen. Herr Jürgen Matern, klein und stämmig und Herr Oliver Ziegler, groß und schmal, wirkten beide leicht verlegen. „Ich habe mit der Nachbarin, die schräg gegenüber wohnt und direkten Blick in die Gasse hat, gesprochen“, schaltete sich Jürgen Matern ein. „Sie ist, als sie den Knall gehört hat, aufgestanden, hat sich kurz angezogen und ist dann zum Fenster. Unglücklicherweise liegt ihr Schlafzimmer auf der gegenüberliegenden Seite, sodass sie erst quer durch die Wohnung musste. Sie meinte, sie habe nachgeschaut, aber nichts gesehen. Das Problem ist, besagte Nachbarin ist vierundachtzig Jahre alt, nicht mehr besonders gut zu Fuß und sieht auch nicht mehr besonders gut. Es kann sein, dass einige Minuten vergangen sind, bis sie aus dem Fenster gesehen hat.“ „Na großartig“, meinte Kern. „Ein Schuss weckt die gesamte Nachbarschaft und keiner sieht was oder hält es für notwendig, zumindest mal bei der Polizei anzurufen.“ Kern, der bisher an der Tafel gestanden hatte, setzte sich.
„Auf der anderen Seite bestand ein ähnliches Problem“, kam von Oliver Ziegler. „Dort wohnt ein Student, der zum Zeitpunkt des Schusses am PC saß. Allerdings auch auf der verkehrten Seite. Er ging hinüber ins andere Zimmer und konnte dort ebenfalls nichts erkennen.“ „Der Täter muss das alles genau geplant haben“, meinte Kathrin und erhob sich. „Er oder sie muss genau gewusst haben, dass man vom Fenster aus kaum etwas erkennen und er dann in aller Ruhe verschwinden kann.“ „Er ist aber nicht verschwunden!“ erwiderte Kern. „Der Täter hat ganz offensichtlich keinerlei Angst gehabt, von jemandem entdeckt zu werden. Anstatt wegzulaufen, holt er sein Wasserfarbenset raus und fängt an, eine Botschaft an die Hauswand zu pinseln! Wenn in diesem Moment einer der Nachbarn das Haus verlassen hätte, hätten sie den Täter direkt gesehen. Und was dann? Hätte der Täter sie ebenfalls erschossen?“ Die Blicke seiner Kollegen waren nachdenklich. „Irgendetwas stimmt da nicht!“, sagte Kern mit Nachdruck. „Entweder scheute der Täter keinerlei Risiko oder“ - „oder er pinselte die Nachricht bereits vorher hin“, vollendete Kathrin den Satz für ihn. Jetzt waren alle Augen auf sie gerichtet. „Nehmen wir an, der Täter hat alles genau geplant. Er wusste genau, wo er sein Opfer töten würde. Genau an welcher Stelle. Kurz vorher schreibt er die Nachricht dorthin, was in der Dunkelheit sicherlich niemandem auffällt, er ist dabei völlig ungestört. Dem Opfer fällt es vermutlich auch nicht auf. Und dann schießt er seinem Opfer in den Rücken. Wohl wissend, dass der Schuss sämtliche Nachbarn aufgeweckt haben muss, flüchtet der Täter wieder durch die dunkle Gasse, noch ehe jemand aus dem Fenster sieht.“ Es war jetzt nur noch das Ticken der Uhr im Besprechungsraum zu hören und ein Kopierer außerhalb. Kern hatte konzentriert zugehört und rieb sich die Schläfen.
„Ausgesprochen verwegen. Aber möglich“, nickte er. „Dann wäre die Frage, falls sich das wirklich so abgespielt hat, wann hat der Täter die Nachricht angebracht.“ „Ich vermute, kurz vorher“, sagte Kathrin. „Er muss gewusst haben, dass das Opfer heute länger arbeitet. Er muss sein Opfer lange Zeit beobachtet haben.“ „Wahrscheinlich. Herr Ziegler, was hat die Befragung der Familie Thäler ergeben?“, wandte sich Kern an seinen Kollegen.
„Die Familie ist aus allen Wolken gefallen. Niemand hatte auch nur im Entferntesten mit so etwas gerechnet. Die Frau wirkte völlig apathisch. Vermutlich stand sie unter Schock.“ Kathrin nickte mitfühlend.
„Sie hat es noch geschafft, ihre Kinder auf's Zimmer zu schicken. Aber vielmehr kam nicht. Auf unsere Frage, ob ihr Mann irgendwelche Feinde habe, kam, sie kenne niemanden, der ihrem Mann so etwas Schreckliches antun könne.“ „Wir müssen sie zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal befragen.“ bestimmte Kern. „Auch wegen der Bedeutung der Nachricht an der Wand. Die Nachricht vom Tod ihres Mannes wird ihr erst mal völlig den Boden unter den Füßen weggezogen haben. Was haben die Nachbarn angegeben, wann der Schuss fiel?“ Ziegler räusperte sich. „Die ältere Dame meinte, als sie auf ihren Wecker geschaut hat, war es 22.45 Uhr.“ Matern schaute zu Ziegler. „Etwa gleiche Angabe“, bestätigte er. „Ok. Das passt zu den Angaben von Herrn Gust von der Spurensicherung. Dann schauen wir, wann Herr Thäler seinen Arbeitsplatz verlassen hat. Ziegler, können Sie sich darum kümmern?“ „Alles klar“, Ziegler nickte. „Haben wir sonst noch irgendetwas?“, fragte Kern in die Runde. „Gerichtsmediziner?“ „Die Ergebnisse stehen noch aus“, erklärte Matern. „In Ordnung, informieren Sie mich, sobald Sie mehr wissen. Ein Mord. Keine Zeugen. Keine Verdächtigen. Und eine unklare Botschaft. Wir müssen die gesamte Lebensgeschichte von Herrn Thäler durchforsten. Von Kindheit an bis heute. Und wir müssen weitere Befragungen durchführen. Vielleicht hat doch jemand den Täter gesehen. Aber das machen wir heute nachmittag!“, sagte Kern schmunzelnd und erhob sich. „Und was tun wir jetzt?“, fragte seine Kollegin. „Was Sie tun, weiß ich nicht. Ich gehe jetzt in die Kantine, mich stärken, Sie dürfen mich gerne begleiten.“ Kathrin lachte. „Da sag ich nicht nein.“