Читать книгу Spiel mit mir! - Stefan Zeh - Страница 9
7
ОглавлениеJeremy ging es heute ein wenig besser. Er hatte einigermaßen gut geschlafen und seine Schmerzen und die Erschöpfung waren dadurch ein wenig besser geworden. Er hatte heute einen längeren Spaziergang über die Felder gemacht, die sich direkt vor der Haustür des kleinen Ostrings, in dem er wohnte, erstreckten. Es war zwar nach wie vor sehr kalt und ungemütlich, aber er konnte es trotzdem genießen. Jeremy mochte die kalte Luft, die Abgeschiedenheit, die Natur. Er war außer ein paar Hundebesitzern, die mit ihrem Tier notgedrungen raus mussten, kaum jemandem begegnet. Das Schmidener Feld erstreckte sich auf der einen Seite bis nach Fellbach hinein und auf der anderen Seite bis nach Öffingen. Er konnte dort lange und sehr ausgiebig spazieren gehen, ohne die Felder verlassen zu müssen. Durch den Regen konnte er zwar nur die asphaltierten Wege nehmen - die anderen waren zu aufgeweicht - aber das störte ihn nicht.
Wieder daheim angekommen, war Jeremy seinem Nachbarn begegnet. Dieser bewohnte mit seiner Frau das Erdgeschoss und das seines Wissens nach schon Ewigkeiten. Jeremy hatte zu dem Ehepaar glücklicherweise ein sehr gutes Verhältnis, sie wussten auch, dass er eine chronische Erkrankung hatte, zwar nichts Genaueres, aber sie beließen es dabei. Ganz im Gegensatz zu seinem Nachbarn gegenüber, der ihn ständig misstrauisch beäugte und sich fragte, warum er nicht arbeiten ging. Er hatte das zwar nie direkt gesagt, aber seine Abneigung und was er von Jeremy hielt, schon häufiger zum Ausdruck gebracht. Er konnte sich nicht erinnern, dass der Griesgram ihm schon jemals „Hallo“ oder „Auf Wiedersehen“ gesagt hatte. Aber was soll's, dachte sich Jeremy, er ist zum Glück nicht mein Vermieter. Der Nachbar aus dem Erdgeschoss, der bereits in Rente war, aber trotzdem noch arbeiten ging, vermutlich weil er es gerne tat, hatte ihm von dem Mord im Sommerrain, unweit des kleinen Ostrings, erzählt. Jeremy war schockiert gewesen. Er konnte sich nicht erinnern, dass hier schon jemals etwas Furchtbares passiert war. Von Einbrüchen hatte er schon öfters etwas mitbekommen, auch bei den Nachbarn im Erdgeschoss selbst, aber ein Mord war ein völlig anderes Kaliber. Viele von den Einwohnern im Sommerrain waren bereits deutlich über sechzig, also eigentlich eine solide und eher ruhige Wohngegend. Nachts konnte man im Sommerrain ungestört spazieren gehen, ohne dass man angepöbelt wurde. Es waren auch keine zwielichtigen Gestalten unterwegs, die Leute überfielen oder zusammenschlugen. Hier passierte normalerweise nie etwas. Der Sommerrain galt diesbezüglich als sehr sicher. Doch nun war ausgerechnet hier ein Mord passiert.
Jeremy kannte das Opfer oder dessen Familie nicht. Der Nachbar hatte ihm zwar einen Namen genannt, aber der sagte ihm gar nichts. Der Nachbar wusste es, weil er an dem Tag, an dem es passiert war, die Polizeiabsperrung gesehen und sich erkundigt hatte. Während Jeremy die Stufen hochgelaufen war, hatte ihn sein Nachbar angesprochen und ihn gefragt, ob die Polizei auch bei ihm gewesen sei. Das war sie nicht. Vermutlich, weil er direkt morgens um acht Uhr den Termin bei seinem Arzt gehabt hatte und lange warten musste. Offenbar hatte die Polizei in der Zeit einige Nachbarn im Ort befragt und Flyer aufgehängt, in denen um Informationen der Anwohner gebeten wurde.
Wenn Jeremy seinen Nachbarn richtig verstanden hatte, war der Mord in der Nacht von Montag auf Dienstag passiert. Jeremy konnte sich gut an diese Nacht erinnern. Er hatte so dermaßen schlecht geschlafen, dass er kaum eine Stunde zusammen bekam. Immer wieder war er aufgestanden, hatte Einschlafmusik gehört, eine Meditation gemacht, ein Buch zur Hand genommen. Doch in dieser Nacht hatte nichts davon geholfen. Er schlief einfach nicht ein. Er wurde auch nicht wirklich müde, zumindest nicht, wenn er im Bett lag. Sobald er dann das Buch zur Hand nahm, fielen ihm fast die Augen zu, doch eingeschlafen war er trotzdem erst beim vierten Anlauf.
Als er sich kurz nach zehn Uhr bettfertig gemacht hatte, sah er kurz aus dem Fenster. Um diese Uhrzeit war im Sommerrain nichts mehr los. Draußen war es dunkel und die Straßenlaternen spendeten nur ein schwaches Licht auf den Spielplatz und die Straße. Ihm war eine dunkel gekleidete Gestalt aufgefallen, die sich mit schnellen Schritten von der Wohnsiedlung entfernt hatte.
Sie trug einen dunklen Pullover, soweit er das erkennen konnte und hatte die Hände in der Hosentasche. Im schwachen Schein der Straßenlaterne hatte er kurz ein Gesicht gesehen. Aus irgendeinem Grund hatte er den Eindruck gehabt, dieses Gesicht beziehungsweise die Person schon einmal gesehen zu haben. Er wusste aber beim besten Willen nicht wo, und ob das tatsächlich so war. Das Licht, das die Straßenlaterne spendete, war nur schwach und Jeremy konnte das Gesicht nur für einen ganz kurzen Augenblick sehen. Zumal er im vierten Stock wohnte. Trotzdem, er meinte die Gestalt schon mal irgendwo gesehen zu haben. Jeremy dachte nach. Hatte die Gestalt etwas mit der Tat zu tun? Sollte er die Polizei informieren? Oder war es absurd, einfach jemanden, der in der fraglichen Nacht unterwegs und vielleicht nur auf dem Heimweg war, zu verdächtigen? Jeremy wusste es nicht genau. Andererseits erschütterte ihn der Mord, so nah an seinem eigenen Wohnort, sehr. Und wenn es irgendetwas gab, das er dazu beitragen konnte, den Täter ausfindig zu machen, dann sollte er es auf jeden Fall tun. Jeremy bezweifelte jedoch, dass er viel hätte beitragen können. Er konnte Gesichter, auch wenn er sie schon öfters gesehen hatte, sehr schlecht beschreiben. Für ein Phantombild würde es jedenfalls nicht reichen. Und da er sich auch nicht sicher war, ob er die Person tatsächlich kannte, konnte er der Polizei im Moment tatsächlich nicht helfen. Er überlegte. Er hatte unten auf dem Flyer eine Telefonnummer und eine E-Mailadresse gesehen. Jeremy konnte sie abfotografieren und sich dort später melden. Vermutlich war die Polizei für jede Information dankbar.
Er öffnete die Wohnungstür und fluchte. Er hatte es fast vergessen, der Aufzug war immer noch außer Betrieb. Auch an einigermaßen erträglichen Tagen schlauchte ihn das Treppensteigen. Er musste später allerdings noch einkaufen. Von daher konnte er auf dem Rückweg kurz das Foto machen und danach seinen Anruf tätigen. Das war eine gute Idee, dachte Jeremy. Dann musste er jetzt nicht extra runter und wieder hochlaufen.