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ОглавлениеJulia Reißen fühlte sich beobachtet. Sie wusste nicht mehr, wann es losgegangen war. Seit einigen Wochen hatte sie immer wieder das Gefühl, jemand verfolge sie. Sie hatte sich mehrmals umgedreht, sich eingeredet, da sei niemand, doch sie wurde das mulmige Gefühl nicht los. Erst kürzlich war sie beim Einkauf in der SchwabenGalerie in Vaihingen aus dem Kaufland herausgekommen, als sie eine Gestalt auf der gegenüberliegenden Seite hatte stehen sehen, die sie beobachtete. Als sie den Blick nicht abwandte, wollte Julia schon rüber gehen und die Person ansprechen, aber in diesem Moment war sie verschwunden. Ein andermal war Julia auf dem Weg zum Bahnhof gewesen, als sie am Bahnsteig spürte, dass sie jemand ansah. Sie drehte den Kopf in alle Richtungen, doch konnte niemanden sehen, der ihren Blick erwiderte. In diesem Moment nahm sie eine Gestalt am anderen Ende des Bahnsteigs wahr. Die Person war nicht besonders groß, trug ein schwarzes Kapuzensweatshirt und hatte die Kapuze aufgesetzt. Sie stierte genau in Julias Richtung. Beziehungsweise nicht nur in ihre Richtung. Sie stierte genau Julia an. Als die Gestalt realisierte, dass Julia ihre Beobachterin bemerkt hatte, drehte sie sich um und verließ den Bahnsteig durch die Unterführung. Julia hat keine Ahnung, wer ihre Beobachterin war, aber sie war sich sicher, dass es sich um die gleiche Person handelte, wie die in der SchwabenGalerie. Diese hatte zwar andere Kleidung getragen, aber der Blick und die Statur passten. Beide Vorfälle fanden vor zwei oder drei Wochen statt. Seitdem hatte Julia sich immer wieder beobachtet gefühlt. Auch auf dem Nachhauseweg von der Arbeit, wenn sie an der Bahnstation stand oder wenn sie spazieren ging. Mittlerweile war sie in ständiger Erwartung, die Kapuzengestalt wieder zu sehen, doch wenn sie sich umdrehte oder die Gegend mit den Augen absuchte, konnte sie niemanden sehen. War es nur ein Zufall gewesen? Kannte die Person sie? Aber warum starrte sie Julia dann nur an und kam nicht auf sie zu? Ihr war das unheimlich. Die Person machte ihr Angst. Sie wusste weder, wer sie war noch was sie wollte.
Und dann, ganz plötzlich, hatte es aufgehört. Das war vor etwa einer Woche gewesen. Julia hatte sich nicht mehr beobachtet gefühlt und die Person mit dem Kapuzenshirt auch nicht wieder gesehen. Sie war erleichtert gewesen, hatte die Vorfälle aus ihrem Kopf verbannt und sich wieder ihrem Alltag gewidmet. Vermutlich hatte sie einfach nur etwas überreagiert, war gestresst gewesen. Sie vergaß die Sache schnell wieder.
Doch seit zwei Tagen war das Gefühl wieder da. Julia fragte sich, ob sie vielleicht langsam durchdrehte. Es war vorgestern gewesen. Sie war Donnerstag von einem Spaziergang zurückgekommen. Morgens hatte noch die Sonne für eine kleine Runde durch den Park gelockt, dann hatte es angefangen, leicht zu nieseln. Julia war umgekehrt und noch etwa 700 Meter von ihrem Haus entfernt gewesen, als sie ein Geräusch hinter sich vernahm. Sie drehte sich um, aber der Weg, den sie entlang ging, war leer. Es war niemand in ihrer Nähe zu sehen. Gedankenverloren ging Julia weiter, doch in diesem Moment spürte sie eine Unsicherheit. Ein bedrohliches Gefühl. Das gleiche, das sie gehabt hatte, als sie ihren Beobachter im Einkaufszentrum oder am Bahnsteig sah. Julia ermahnte sich selbst zur Ruhe und ging weiter.
Es gelang ihr jedoch nicht, ruhig zu bleiben. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hatte sich erneut umgedreht, aber den Weg genauso leer vorgefunden wie zuvor. Julia wandte sich abrupt nach vorn und stieß einen spitzen Schrei aus, als sie direkt mit einer Gestalt zusammen stieß.
Ihr Nachbar. „Oh meine Güte“, sie musste lachen. „Haben Sie mich vielleicht erschreckt!“ Der große junge Mann, der mit seiner Freundin das Haus neben ihr bewohnte, betrachtete sie lachend durch die Brille. „Tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken.“ „Schon gut. Ist nicht Ihre Schuld“, meinte Julia erleichtert. Sie drehte sich nochmals um. „Ist alles in Ordnung?“, fragte der Mann, dem ihr Blick nicht entgangen war. „Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen.“ „Nein, alles bestens“, log Julia. „Ich war nur völlig in Gedanken.“ „Hab ich gemerkt“, sagte er und verabschiedete sich. In diesem Moment war Julia tatsächlich etwas erleichtert. Das bedrohliche Gefühl, das sie vor ihrem Zusammenprall mit dem Nachbarn gehabt hatte, war verschwunden.
Heute war Samstag. Julia war daheim und räumte gerade die Wäsche aus dem Trockner. Später würde ihr Freund Martin Wegel noch vorbeikommen. Sie war froh, dass sie heute Abend Gesellschaft haben würde und nicht allein daheim sitzen musste. Sie wollte Martin davon erzählen. Er hatte bei dem letzten Telefonat zwar gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war, doch Julia schob es auf den Stress und dass sie schlecht geschlafen hatte. Letzteres stimmte sogar. Seit zwei Tagen schlief sie tatsächlich schlecht. Immer wieder meinte sie, Geräusche zu vernehmen, die sonst nicht da waren. Früher war das nie ein Problem gewesen. Sie hatte sich selten vor unbekannten Geräuschen nachts gefürchtet noch vor irgendwelchen Leuten, die sie angeblich verfolgten. Aber das hier war anders. Sie bildete sich das nicht ein, ihr Gefühl täuschte sie nicht. Der Kerl, oder war es eine Frau?, das wusste sie nicht genau, beobachtete sie. Julia war sich sicher, dass es sich immer um die gleiche Person handelte. Sie hatte sogar schon mit dem Gedanken gespielt, die Polizei zu rufen. Aber was sollte sie denen sagen? Dass sie von einer imaginären Person verfolgt wurde, die sie kürzlich am Bahnsteig angeguckt hatte? Die Polizisten würden sie für verrückt halten. Es war das Beste, Martin davon zu erzählen. Er würde sie bestimmt beruhigen können und für alles eine harmlose Erklärung haben. Bestimmt war alles in Ordnung.
Julia hörte das Telefon klingeln. Sie ging ans Festnetz und hob ab. Es war Martin. Er war auf einer Konferenz in Berlin und wollte ursprünglich mit dem Zug heute Abend zu ihr kommen.
Nun erfuhr sie, dass daraus nichts wurde. „Tut mir leid, Schatz. Die Konferenz dauert wesentlich länger als angenommen. Wir haben erst mit einer Verspätung von zwei Stunden anfangen können, weil der Hauptredner nicht pünktlich erschien und jetzt ziehen sich die einzelnen Punkte wesentlich länger hin als gedacht. Das wird mir heute Abend zu spät, deswegen habe ich schon mit dem Hotel telefoniert und meine Reservierung um eine Nacht verlängert. Komme dann morgen Mittag direkt zu dir.“ „Oh“, sagte Julia und spürte ihre Enttäuschung. „Das ist schade.“ „Ja, tut mir echt leid“, meinte Martin. „Ist nicht schlimm“, sagte Julia. „Wir sehen uns dann ja morgen.“ „Klar“, meinte Martin. „Du hattest vorhin gesagt, es gibt noch etwas, worüber du mit mir reden willst?“
Das wollte sie unbedingt. Aber nicht am Telefon. Und nicht zwischen Tür und Angel, wenn Martin vermutlich gleich wieder zur Konferenz musste. „Das hat keine Eile“, sagte sie. „Ok, dann besprechen wir das morgen“, sagte Martin. „Ich muss leider wieder zurück. Liebe dich“, verabschiedete sich Martin, bereits mit etwas Eile in der Stimme. „Ich dich auch.“ Mit diesen Worten legte Julia auf. Normalerweise war eine solche Information nicht wirklich ein Problem für sie. Sie genoss es, einfach mal Zeit für sich zu haben. So konnte sie gemütlich fernsehen, einen Tee trinken und das Wochenende genießen. Doch heute hätte sie ihren Freund gern bei sich gehabt. Ausgerechnet heute Abend allein zu sein, beunruhigte sie. Sie schaute auf die Uhr an der Wand.
Die Ziffern zeigten siebzehn Uhr. Sie würde die Wäsche im Schrank verstauen und dann das Abendessen zubereiten.
Den Abend würde sie schon herumkriegen. Julia nahm einen tiefen Atemzug und begann, die restliche Wäsche aus dem Trockner zu holen.
Mittlerweile war es kurz vor neun. Draußen war es längst dunkel geworden. Es war Halloween und der Wetterbericht hatte für heute Abend starken Wind angekündigt. Obwohl beinahe den ganzen Tag kaum ein Lüftchen ging, bewegten sich die Pflanzen draußen im Garten ziemlich stark im Wind.
Julia hatte es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht und war in eine Krimiserie, die sie auf einem der Werbekanäle gefunden hatte, versunken. Natürlich kam wie üblich im spannendsten Moment eine Werbepause. Julia seufzte. Sie stand auf und ging in die Küche, um sich dort noch einen Tee zu machen. Sie dachte an das Telefonat von heute Nachmittag mit ihrem Freund. Sie war völlig aufgelöst und beunruhigt gewesen. Erstaunlich, was für eine beruhigende Wirkung eine Tasse Tee und ein Krimi hatten. Julia fühlte sich bereits viel besser. Der Teekocher machte sprudelnde Geräusche und schaltete sich ab. Sie hob ihn an und schenkte sich eine weitere Tasse ein. Im Fernsehen lief gerade eine Werbung für irgendeinen Hightech-Staubsauger. Es interessierte sie nicht wirklich, weswegen sie den Ton ausmachte und sich wieder, mit der Tasse in der Hand, aufs Sofa setzte. In diesem Moment nahm sie seitlich von sich eine Bewegung wahr.
Julia schaute aus dem Fenster, das fast die ganze Wandfläche einnahm und eigentlich eine Terrassentür war, die Zugang zu dem kleinen Vorgarten vor dem Haus bot. Julia sah das große Gebüsch, direkt vor dem Fenster. Dahinter ragte ein Laubbaum empor, der um diese Jahreszeit nur noch wenige Blätter trug. Die Hecke bog sich im Wind stark zur Seite. Doch da war noch etwas anderes. Julia kniff die Augen zusammen. Hinter der Hecke nahm sie einen Schatten war. Was war das? Sie richtete sich auf. Waren das nicht Beine, die unter der Hecke erkennbar waren? Stand da etwa jemand? Sie spürte schlagartig, wie ihr Atem sich beschleunigte. Das entspannte Gefühl von vorhin war verflogen. Julia stand auf und ging näher zum Fenster, versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Sollte sie die Terrassentür öffnen und nachsehen? Aber das hielt sie für keine gute Idee. Die eisige Kälte und der peitschende Wind, der um das Haus heulte, waren sehr ungemütlich. Und noch ungemütlicher war die Vorstellung, dass dann ein Unbekannter problemlos ihre Wohnung betreten konnte. Sie spähte in die Dunkelheit. Alles schien normal. Der Wind hatte kurz für ein paar Sekunden ausgesetzt und den Blick hinter die Büsche wieder freigegeben. Doch da war nichts. Keine Beine. Keine Gestalt, die sie beobachtete. Julia sah weiter hinten den kleinen, hölzernen Zaun und die Straße sowie zwei parkende Autos. Sie spähte nach rechts. Auch dort war nichts Ungewöhnliches erkennbar. Julia spürte, wie sich ihr Herzschlag wieder allmählich beruhigte. Dort draußen ist nichts, sagte sie sich. Es war nur das Gebüsch, das sich im Wind bewegte, das ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Sie setzte sich aufs Sofa und schaltete den Ton wieder ein. Der Krimi ging weiter. Sie nahm den Teebeutel aus der Tasse und legte ihn auf den kleinen Untersetzer daneben. Er war wohltuend heiß und sie nahm vorsichtig einen kleinen Schluck. In der Serie beobachtete sie, wie die Kommissare einen Verdächtigen in einer mörderischen Hetzjagd quer durch die Stadt verfolgten. Sie hatte schon immer eine Schwäche für diese Art von Krimis gehabt. Den üblichen Tatorten Sonntagabends konnte sie meist nur wenig abgewinnen.
In diesem Moment nahm sie wieder etwas wahr. Ihr verschlug es buchstäblich den Atem. Sie spürte wie ihr Puls auf Maximalgeschwindigkeit beschleunigte. Sie sah es aus den Augenwinkeln heraus. Dieses Mal war es kein Gefühl. Da stand jemand direkt vor ihrem Fenster.