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Jeremy Lauter ging es total beschissen heute. Wobei nur heute nicht wirklich stimmte. Heute seit vier Jahren wäre treffender gewesen. Er hatte die Nacht über kaum geschlafen, sein Kopf dröhnte, sein Herz raste und er fühlte sich völlig ausgelaugt, von den Gliederschmerzen mal ganz abgesehen. Jeremy war kein alter Mann. Ganz im Gegenteil. Er war gerade einmal achtundzwanzig Jahre, hatte kurze braune Haare, braune Augen und eine schlanke Figur. Arbeitsunfähig war er seit mittlerweile zwei Jahren. Was ihm fehlte, konnte keiner so genau sagen. Es war quasi über Nacht passiert. Er konnte sich noch sehr genau an die Grippe erinnern, die ihn damals heimgesucht hatte. Sie war lange und extrem zäh, fast drei Wochen lang kam er kaum aus dem Bett. Seine Mutter hatte ihn damals zum Arzt gefahren und war anschließend jeden zweiten Tag vorbeigekommen, um ihm einen Tee zu machen und sich um ihn zu kümmern. Die Grippe war länger, als diejenigen, die er zuvor gehabt hatte und die meist nach spätestens zwei Wochen vorbei waren. Erst nach drei Wochen ging es wieder bergauf. Jeremy widmete sich wieder seiner Arbeit. Damals war er Erzieher in einer städtischen Kindertageseinrichtung. Ein Fulltimejob, der seine gesamte Energie kostete. Da er täglich mit Kindern zu tun hatte, war eine Grippe auch nichts Ungewöhnliches, schon gar nicht im Winter, wo immer wieder Grippewellen den Kindergarten heimsuchten.

Nur leider hielt seine Freude über die Genesung nicht sehr lange an. Denn nach nur zwei Wochen wieder im Kindergarten verschlechterte sich sein Zustand rapide. Seine Grippesymptome kamen mit voller Wucht zurück und Jeremy erinnerte sich noch, wie er sich gewundert hatte, dass er innerhalb kürzester Zeit den nächsten Virus eingefangen hatte. Doch seltsamerweise konnte der Arzt im Gegensatz zur ersten Untersuchung nichts feststellen. Jeremy hatte auch kein Fieber mehr. Seinen Blutuntersuchungen zufolge, war alles in Ordnung. Der Arzt schob es auf Überforderung infolge der Infektion, schrieb ihn nochmal drei Wochen krank und meinte, er solle sich ausruhen und dann gehe es ihm bald wieder besser.

Von wegen! Es war ihm überhaupt nicht besser gegangen. Er fühlte die gleiche Erschöpfung wie bei der Grippe, er fühlte sich weiterhin fiebrig, ihm war ständig zu heiß oder eiskalt, seine Glieder schmerzten und der Schlaf brachte keinerlei Erholung.

Als die drei Wochen um waren, ging es Jeremy genauso mies wie zuvor. Er suchte erneut den Arzt auf, doch dieser blickte ihn nur ratlos an und verwies ihn an einen Psychiater mit dem Vermerk Burnout. Jeremy dachte, er habe sich verhört. Wie kam der Arzt denn auf einen Burnout? Er war geschockt. Er hatte schon oft genug von Leuten gehört, gerade auch jüngeren Menschen, die das hatten, aber bei sich selbst hätte er es nie vermutet. Die Links im Internet, die er raus suchte, wiesen ihn immer wieder auf das Thema Depressionen hin, was offenbar untrennbar mit dem Wort Burnout verknüpft war. Nur, er fühlte sich nicht depressiv. Klar, es ging ihm schlecht, er hatte Schmerzen, Schlafstörungen und alle möglichen Symptome, aber er fühlte sich schlichtweg krank. Nicht motivationslos, antriebslos und was er im Internet noch so alles zum Thema Burnout fand. Er fühlte sich genau wie bei der Grippeerkrankung wenige Wochen zuvor. Jeremy verstand das nicht. Er war verwundert. Da er nach der Blutuntersuchung, die keinerlei Auffälligkeiten zeigte, auch keine bessere Idee hatte, rief er schließlich bei dem Psychiater an und erkundigte sich nach einem Termin. Das Resultat war deprimierend. Der Psychiater, der ihm von seinem Arzt empfohlen wurde, hatte erst in sechs Monaten einen freien Termin. Sechs Monate! Was sollte er denn in dieser Zeit machen? Er konnte sich auf der Arbeit doch nicht mal eben für sechs Monate verabschieden.

Jeremy beschloss, da er so nicht weiterkommen würde, einen anderen Arzt aufzusuchen. Dieser hörte ihm aufmerksam zu und untersuchte erneut seine Blutwerte. Da er jedoch ebenfalls nichts Auffälliges fand und sich keinen Reim auf die Geschichte machen konnte, schrieb er ihn krank und erkundigte sich, ob vielleicht eine Reha für ihn infrage käme. Die Idee mit dem Psychiater fand der Arzt gut und erklärte ihm, dass es sehr viele Erkrankungen mit psychosomatischer Ursache gebe, die sicherlich sein Problem erklären könnten. Jeremy ließ sich auf den Versuch ein und startete eine Reha. Der Arzt hatte in ihm Hoffnung geweckt. Vielleicht hatte er recht. Seine Arbeit in der Kita war schon sehr kraftraubend und auch wenn sie ihm Spaß machte, konnte er nicht ausschließen, dass ihn das psychisch sehr auslaugte und ihm mit einer Reha vielleicht geholfen wäre.

Sein Rehaaufenthalt dauerte mit Verlängerung insgesamt sechs Wochen. Die Bewilligung von der Rentenversicherung kam erstaunlich schnell. Offenbar war er hier bei weitem kein Einzelfall. Jedoch brachte die Reha in keinerlei Hinsicht das gewünschte Ergebnis. Die Ärzte dort waren alle überzeugt, er habe eine Form von Depressionen, setzten ihn unter Antidepressiva und versuchten, den tragischen Moment in seiner Vergangenheit auszumachen, der seine Symptome erklären könnte. Besonders erfolgreich waren sie nicht. Die sechs Wochen verstrichen, ohne dass sich wirklich etwas verändert hätte. Die Schmerzmittel, die er zusätzlich zu den Antidepressiva erhielt, halfen ihm zwar anfangs, doch er musste die Dosis immer weiter hochschrauben, bis er schließlich gar keine Wirkung mehr verspürte. Das Gleiche galt auch für die Antidepressiva, nur, dass diese ihm gar nichts brachten.

Ernüchtert und enttäuscht kam er wieder zurück. Seine Arbeit konnte er nicht fortsetzen. Sein Arbeitgeber, der ihm seine volle Unterstützung zugesichert hatte und ihm alles nur erdenklich Gute für seine Reha gewünscht hatte, kam zu dem gleichen Schluss wie er. Nachdem er die Arbeit wieder aufgenommen hatte aber merkte, dass er nicht wirklich dazu imstande war, kam es zu einer Kündigung im gegenseitigen Einvernehmen. Seitdem war Jeremy daheim. Hatte immer wieder verschiedene Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen aufgesucht, darunter auch den genannten Psychiater, die zwar alles Mögliche untersuchten, aber ihm nicht weiterhelfen konnten. Alles in Frage kommende war ausgeschlossen worden und Jeremy hatte die Information erhalten, laut seiner Untersuchungsergebnisse sei alles in bester Ordnung und er solle sich darüber freuen, dass er gesund sei.

Tolle Neuigkeit. Nur war er nicht gesund. Zumindest fühlte er sich nicht so. Noch schlimmer als die Ungewissheit, was mit ihm los war, war die Frage, wie es weitergehen sollte. Er konnte nicht ewig von Sozialhilfe leben und an Erwerbsminderungsrente wollte er gar nicht erst denken. Jeremy versuchte es mit verschiedenen Mini-Jobs, die entweder viel zu anstrengend oder für ihn völlig unvorstellbar über eine längere Zeit auszuführen waren. Seit Beginn der zweiten „Grippe“ hatte sich sein Zustand deutlich verschlechtert. Ihm fiel es immer schwerer, seinen täglichen Verpflichtungen nachzukommen und seinen Haushalt zu führen.

Die kleine 2-Zimmerwohnung, in der er wohnte, gehörte seinem Onkel. Zu diesem hatte er glücklicherweise einen guten Draht und so waren die Mietkosten relativ niedrig, trotz zentraler Lage. Dies akzeptierte die Agentur für Arbeit und zwang ihn nicht zu einem Umzug in eine kleinere Wohnung.

Die Hoffnung gab er nicht auf. Der Ärztemarathon hatte ihn zwar nicht weitergebracht aber er versuchte es stattdessen mit Dingen, die er selbst, ohne Hilfe von außen, vornehmen konnte. Jeremy hatte verschiedene Bücher gelesen und probierte unterschiedliche Ansätze aus, die, wie es genannt wurde, seinen Körper in den Zustand der Selbstheilung führen konnten. Er versuchte es mit besonders gesunder Ernährung, Meditation, strenger Schlafhygiene, Besuche im Thermalbad und Spaziergänge in der Sonne, variierend in der Länge, je nach Tagesverfassung. Er hatte das Gefühl, dass ihm diese Maßnahmen schon weit mehr gebracht hatten, als das ganze Medikamentenzeug, was ihm die Ärzte verschrieben hatten, und so behielt er seine Eigenversuche bei. Allerdings war er nach wie vor noch sehr weit entfernt von dem Zustand, den er vor seiner namenlosen Erkrankung als normal bezeichnen konnte. Aber er war zuversichtlich. So gut es ihm möglich war.

Heute war das besonders schwierig. Jeremy stand in seiner Küche und seufzte. Draußen war es nach wie vor eisig kalt, grau und nass. Während er wenige Wochen davor noch Spaziergänge im Sonnenschein machen konnte, war dieses Wetter richtig deprimierend. Er warf die Fernsehzeitung, die gerade abgelaufen war, in den Papierkorb neben dem Waschbecken und stellte fest, dass dieser bereits wieder voll war. Er nahm den gesamten Plastikeimer und ging vor die Tür. Ein Schild am Aufzug informierte ihn, dass der Aufzug außer Betrieb sei und er die Treppe, vier Stockwerke bis ins Erdgeschoss, nehmen musste. Na super, dachte Jeremy. Ausgerechnet heute, wo er sowieso völlig fertig war.

Er begann, mit dem Papierkorb in der Hand, sich die Treppen hinunter zu quälen.

Spiel mit mir!

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