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Kapitel 6 2 Jahre später, unterhalb des Oberbergfelsens, anno 1424

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Die Sonne schien warm vom Himmel auf die schuppige Haut des Drachen. Ragnor'rok lag faul auf einem Felsen und sonnte sich. Er hatte sich dazu einen der großen Felsen am Fuße des Oberbergfelsens ausgesucht, wo kein Mensch ihn entdecken konnte. Wie auch, hatte er wieder einmal die Farbe des fahlen Kalkfelsens angenommen. Sein Körper verschmolz förmlich mit dem Stein, auf dem er lag. Außerdem war es hier recht steil und unbequem zu laufen für einen Menschen. Wacholder versperrten die Sicht ins Tal auf Tizimbach hinab. Nur vom Schlossberg aus könnte man ihn entdecken, wenn man gezielt nach einem Drachen suchen würde. Was die Wachen dort oben jedoch nicht taten.

Das Untier hatte bereits ein Reh gerissen und verspürte für heute keinen Hunger mehr. Ragnor'rok war schlau und gerissen für ein so großes Wesen. Sein Esstisch erstreckte sich im ganzen Umkreis bis zum Bodensee hinab. Auf seinem Speiseplan standen vorzugsweise Tiere.

Wenn Menschen verschwanden, kamen meist unangenehme Fragen auf, die der Drache lieber vermied, bevor seine Existenz enthüllt wurde und diese lästige Töte-den-Drachen-Manie wieder ausbrach. Vorzugsweise hielt er sich daher an Schafe, Rehe und Ziegen. Tiere, die von ihrer Herde abgekommen waren. Er verhielt sich immer so, dass er dabei nicht gesehen wurde. Nur manchmal klaute er sich eines direkt aus der Herde, die danach völlig verstört dem Hirten entglitt.

Meist flog er in der Abenddämmerung. Er konnte nämlich auch im Flug seinen Hintergrund dank seiner Schuppen perfekt nachahmen. Vom Boden aus sah man dann nur ein verschwommenes Etwas dahingleiten, was wie eine schnell vorbeiziehende Wolke aussah. Vor Ort versteckte er sich dann, wartete die passende Gelegenheit ab und ging entweder nachts oder kurz vor Morgengrauen auf die Jagd.

Die Menschen waren ja so einfältig! Wenn die Herde verrückt spielte und am nächsten Tag ein Tier fehlte oder gar Blutspuren zu sehen waren, so schoben sie es lieber auf ein Rudel wilder Wölfe oder einen Bären, als zu glauben, dass etwas anderes dafür verantwortlich sein könnte. Wie zum Beispiel ein Drache.

In unmittelbarer Umgebung um sein Drachenloch hielt Ragnor'rok sich sehr zurück. Es wäre zu auffällig gewesen, sich dort an einem Leckerbissen zu bedienen. Daher flog er lieber etwas weiter weg. Jedenfalls, wenn er Hunger auf Nutztiere verspürte. Rehe und Wildschweine zählten da natürlich nicht dazu. Die gab es überall und gehörten niemandem. Naja, eigentlich gehörten sie schon jemandem. Aber wenn da welche verschwanden, fiel es nicht weiter auf.

Ragnor'rok gähnte. Die Sonne machte ihn schläfrig, also döste er vor sich hin. Unter ihm, etwa in 200 Meter Entfernung, zog sich die Steige zwischen Tizimbach und Aufhausen in einer geraden Linie den Albtrauf hinauf.

Es kam nicht von ungefähr, dass Ragnor'rok sich diesen Platz ausgesucht hatte. Nicht, weil er den Weg beobachten wollte, oder weil er die Sonne genießen wollte. Nein. Er spekulierte darauf, das wunderschöne Geschöpf wiederzusehen, das es ihm angetan hatte. Und das ihm nicht mehr aus dem Kopf ging. Nicht einmal, wenn er schlief konnte er das liebliche, von glänzenden braunen Haaren umrahmte Gesicht vergessen, das er bei einer seiner Jagdtouren durch Zufall im Wald entdeckt hatte. Ragnor'rok hatte für Menschen normalerweise nichts übrig, aber hier konnte er nicht anders, es lag in seiner Natur. Jeder Drache hatte eine Schwäche. Denn seine Spezies liebte wertvolle, teure und ungewöhnlich schöne Dinge. Die meisten Drachen horteten daher Gold, Silber, Perlen und alles andere, was auch für die Menschen einen Wert besaß und schön glitzerte. Ragnor'rok ließ das kalt. Er hatte einst gedacht, über diese Leidenschaft seiner Rasse erhaben zu sein. Weit gefehlt.

Er hatte damals falsch gedacht, denn sein Begehr war nicht glitzerndes, totes Metall. Nein, er war auf viel größere Dinge versessen- solche, die strahlten wie der Mond, die Sonne oder die Sterne. Früher hatte er versucht die Gestirne für sich zu beanspruchen, doch vergeblich. Es gab Dinge, die konnte nicht einmal ein Drache erreichen. Nach mehreren erfolglosen Versuchen, diese Dinge zu seinem Hort zu machen, musste er aufgeben. Nur langsam hatte er sich daran gewöhnt, dass diese Schätze für ihn immer unerreichbar sein würden, trotz der Magie die er als Drache bewirken konnte. Seit seiner damaligen Schwäche für die Gestirne waren hunderte von Jahren vergangen. Hin und wieder flammte diese Leidenschaft auf und sie brachte ihn immer an den Rand des Wahnsinns. Ewige Qualen. Nur mühsam hatte er gelernt, diese Gefühle zu unterdrücken, oder besser, sie zu kanalisieren. Die Gestirne waren ihm verschlossen, also hatte er sich auf Dinge spezialisiert, die ihm die Gestirne näher brachten. Sein Hort war daher sehr klein im Vergleich zu den Horten anderer Drachen. Und es waren unauffällige Dinge, die für keinen anderen Drachen oder Menschen einen Wert besaßen. Ein Silberlöffel zum Beispiel. Oder ein Stückchen gebrochenes Glas. Solche Sachen.

Doch jetzt hatte er etwas gefunden, dass er rauben und sein Eigen nennen würde. Etwas Wunderbares. Etwas von Wert. Und es musste seines alleine sein! Ganz allein seines!

Er, Ragnor'rok, wollte dieses Mädchen. Dieses eine Mädchen, das den ganzen Glanz der Sterne in ihren AugenHL, die Anmut des Mondlichts auf ihrer Haut und die glühende Hitze der Sonne in ihrem Geiste trug. Sie war furchtlos, stolz und einzigartig schön, fand er. Sie strahlte für ihn wie ein hell loderndes Feuer, das seinen Schein auf seine Umgebung warf. Für einen Drachen wie ihn war sie perfekt. Menschen sahen solche Dinge nicht.

Aber es war so. Denn so hatte er sie erlebt, als er sie einst an dem kleinen Flusslauf neben einem großen Findlingsfels beobachtet hatte, wie sie leise vor sich hin summend eine Libelle in ihrem Flug um das Ufer bewundert hatte. Sie hatte sein dunkles Blut in Schwingungen versetzt, seine Gier, sie seinem Hort beizufügen. Und das, obwohl sie ein Mensch war, die Ragnor’rok bisher nur als Futter angesehen hatte. Nur, indem sie dagesessen und vor sich hin geträumt hatte, war dies geschehen.

Bevor er jedoch erkannt hatte, dass sie ein Teil seines Horts sein musste, war sie gegangen. Erst als das Licht in seinem Innern erloschen war, als sie fort war, da hatte er gemerkt, wie sehr er sie wollte. Sie brauchte! Sie sich nehmen würde.

Instinktiv kroch er damals hinter ihr her, in der Absicht, sie sich gleich zu holen. Doch als er sie eingeholt hatte, war es zu spät. Sie war plötzlich in Gesellschaft vieler anderer Menschen gewesen.

Es wäre ihm zwar leicht gefallen, die andern zu töten und sie zu rauben. Doch mit all seiner Willenskraft unterdrückte er seinen wilden Dracheninstinkt. Wenn er SIE haben wollte, dann durfte er dabei niemanden töten, oder SIE würde ihm das nie verzeihen, das wusste er instinktiv. Menschen waren so. Immerhin hatte er bei dieser Gelegenheit ihren Namen erfahren. Und wo sie herkam.

Mathilda.

Ragnor'rok ließ sich diesen Namen förmlich auf der Zunge zergehen und blickte auf die Burg ihm gegenüber, als er an sie dachte... Dort war sie. Er konnte sie spüren, denn sie besaß das Feuer in ihrem Inneren, das nur für ihn zu singen schien und das er mit seinen Drachensinnen wahrnehmen konnte. Jede einzelne Strophe, jede noch so kurz angeschlagene Note brachte seine Sinne zum Vibrieren.

Es würde nicht mehr lange dauern, und Mathilda gehörte zu seinen Schätzen.

Er hatte viel über sie erfahren bei seinen Streifzügen in Tizimbach und Gosbach. Er hatte Gespräche belauscht. Drachen hatten gute Ohren, weit bessere als Menschen. Ebenfalls war seine Sicht um vieles besser als die menschliche. Vergleichbar wäre wohl ein Adler diesbezüglich. Nur einmal hatte er es gewagt, seine Magie einzusetzen. Dazu hatte er einen alten Säufer getötet und mithilfe seiner magischen Kräfte dessen Gestalt für einen ganzen Tag angenommen. 24 Stunden voller Gefahr, denn in einem solchen Augenblick war ein Drache verletzlich. Menschlich. Und vor allem: zeitlos. Ein Drache spürte unablässig den Fluss der Zeit in sich. In Menschengestalt unterbrach dieser Fluss kurzzeitig. Das war der Preis, wenn er diese Art von Magie anwandte. In diesen 24 Stunden konnte er sterben und war nicht mehr Herr über die Zeit. Als Drache ein höchst unangenehmes Gefühl.

Aber es hatte sich gelohnt. All die Schmerzen, die unterdrückte Angst, in dieser Zeit wahrhaftig verwundbar zu sein und unter die sonst so verhassten Menschen zu gehen, hatte ihn nicht abgeschreckt, das zu tun- für SIE.

Jetzt beobachtete er nur noch und wartete auf eine gute Gelegenheit.

Wie oft schon hatte er sich ausgemalt, Mathilda von der Hiltenburg herunter zu rauben. Er wusste genau, wie er dabei anfliegen würde. Wie er mit seinem heißen Atem alles in Schutt und Asche legen würde.

Die Stallungen als Erstes, denn sie brannten am besten. Er konnte förmlich die Todesschreie der Pferde, Schafe und Schweine in ihrem Innern hören, wenn er sich den fiktiven Angriff vorstellte, sich die Flammen vorstellte, die die Holzbretter der Ställe ergriffen und gierig verzehrten. Drachenfeuer war heißer als jedes gewöhnliche Feuer.

Musik in seinen Drachenohren.

Ragnor'rok lächelte. Es tat irgendwie gut, sich das vorzustellen.

Dann würde er beim zweiten und dritten Anflug zu den Mauern übergehen. Die Wehrgänge wären sein nächstes Ziel, nachdem er vor dem Tor eine Feuerkaskade errichtet hätte. Dazwischen würde er die herumirrenden Menschen mit seinen Krallen anheben und irgendwo hoch oben wieder loslassen. Die Schreie wären phantastisch! Die hölzernen Aufbauten würde er nebenbei mit seinen Pranken von der Steinmauer stürzen. Das wäre ein Leichtes für ihn. Und wenn Mathilda dann mit ihrer Familie versuchen würde, das Herrenhaus zu verlassen und den Bergfried zu erreichen, wie es die Menschen nun mal taten, dann würde er sie sich einfach schnappen.

Schwups! Einfach so!

Er würde sie davon tragen und der Rest der gräflichen Brut würde in einer prächtigen, von ihm ausgesandten Feuerlanze verglühen!

Ragnor'rok schmatzte vor Freude bei diesem Szenario. Doch er wusste sogleich auch, dass es reine Fiktion bleiben würde, was ihm ein unwilliges Brummen entlockte. Mathilda würde er so nicht für sich gewinnen können, das wusste er. Er musste behutsam vorgehen. Mit List. Und vor allem: mit viel Geduld.

In der übte er sich schon eine ganze Weile. Zeit spielte für einen Drachen schließlich keine Rolle. Ein paar Tage oder Jahre mehr oder weniger waren völlig egal. Selbst wenn Mathilda alterte könnte er dies mit einem Zauber wieder in Ordnung bringen. Ein leichtes Unterfangen. Ebenso, Mathilda an seine Lebensspanne zu knüpfen, damit sie auf ewig sein Schicksal teilte. Auch das wäre leicht.

Was ihm zu schaffen machte, war jedoch sein drachischer Instinkt, der ihn unaufhörlich drängte und quälte, endlich aktiv zu werden und seiner ständig lodernden Gier nachzugeben, Mathilda zu einem Teil seines Horts zu machen.

Steineid

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