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Kapitel 4 1 Jahr später, Burg Hiltenburg, anno 1422

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Mathilda, mittlerweile war sie 13, sah gelangweilt zum Fenster hinaus. Hinter ihr saßen ihre zwei kleineren Geschwister Wilhelm und Anna auf dem Boden und spielten vor sich hin. Sie war als Aufpasserin abgestellt, während Tante Lisbet irgendetwas Wichtiges zu tun hatte. Mathilda stützte den Kopf auf beide Arme und blies die Backen auf. Für den grandiosen Ausblick, der sich ihr bot, hatte sie kaum etwas übrig. Konnte man doch die umliegenden Ortschaften und die Fils, die sich durch das Tal dahin schlängelte wunderbar von Mühlhausen bis nach Reichenbach hin überblicken. Selbst die einzelnen Gehöfte im gegenüberliegenden Tal lagen idyllisch vor ihr. Doch der 13-Jährigen war langweilig. Ihr Vater war am Hof des Kaisers, ihre Mutter war auf Burg Bühringen in Ueberchingen, um dort nach dem Spital, das ihre Oma, die Herzogin von Bosnien dort hatte errichten lassen, zu sehen. Und ihr beiden älteren Brüder Ulrich und Friedrich waren auf Besuch bei der Verwandtschaft auf Burg Blauenstein in Blaubeuren. Lisbet schwirrte irgendwo noch herum, aber gerade war sie nicht hier und hatte Mathilda die Kleinen überlassen.

Das Wohnhaus ihres Vaters, in dem Mathilda sich befand, schmiegte sich auf der Nordseite eng an die Wehrmauer der Burg an. Es war, um es genau zu sagen, sogar ein Teil davon. Die Mauern richteten sich mehr als fünf Meter hoch auf, teils direkt auf den Kalkfels aufgesetzt, teils sogar in den Fels hineingehauen. Auf der hohen Mauer fand sich ein hölzerner Wehrgang, auf dem die Wachen tagaus, tagein das Areal um die Burg herum im Auge behielten. Er zog sich über das gesamte Gemäuer hinweg bis hin zum Eingang auf der Südwestseite der Burg.

Zu Tizimbach hin fiel das Gelände steil bergab. Neben dem herrschaftlichen Wohnhaus befand sich der Bergfried, der als Wachstube und Schlafstätte der Burgwachen diente und permanent gesichert war.

Vor Mathildas Fenster, wenn sie jetzt nach unten sehen würde, könnte sie die Steinarbeiten beobachten, die schon seit etlichen Jahren hier vonstattengingen. Ihr Vater hatte eine neue Zwingermauer in Auftrag gegeben, damit Burg Hiltenburg mit der Zeit ging und gegen die in den letzten Jahrzehnten immer häufiger gewordenen Schwarzpulverwaffen im Falle eines Angriffs standhalten konnte.

Die Arbeiten waren schon weit fortgeschritten. Immerhin waren die Vorwerke auf der Nordost- und Südwestseite bereits fertig gestellt und besetzt, wo das Gelände etwas flacher nach unten abfiel. Innerhalb des Zwingers übten die Wachen nun gelegentlich das Bogen- und Armbrustschießen, bei dem Mathilda am liebsten mitgemacht hätte. Aber sie war ein Mädchen, daher durfte sie das nicht. Das Waffenhandwerk war den Männern vorbehalten, das hatte ihre Mutter unweigerlich klar gestellt.

Die Zwingermauer zu errichten war jedenfalls harte und gefährliche Arbeit gewesen und sie war es noch. Die eigens dafür engagierten Steinmetze leisteten viel dafür. Der jetzige Mauerabschnitt war indes noch unangenehmer, da die Arbeiten daran aufgrund der Unwegbarkeit für Mann und Gerät recht schwierig waren.

Täglich kamen dafür Fuhrwerke aus dem nahe gelegenen Steinbruch von Trackenstein zum Burgtor hereingerollt. Ihre Fracht wurde auf Handkarren umgeladen und an den jeweiligen Bauabschnitt gebracht, wo er dann bald ein Teil der großen Mauer werden würde.

Mathildas Vater, Graf Friedrich von Helfenstein, überwachte das Voranschreiten der Arbeiten, so oft es sein Zeitplan zuließ, höchstpersönlich. Mathilda mochte es, wenn ihr Vater von seinen Reisen heimkehrte. Er brachte ihr immer etwas mit. Er liebte sie. Sie war sein kostbares Kleinod. Und sie liebte ihn. Aber nicht wegen der Geschenke, sondern einfach, weil er ein guter Mensch und ein guter Vater für seine Tochter war. Er las ihr jeden Wunsch von den Augen ab, wenn er es denn vermochte. Er ließ ihr auch mehr durchgehen als ihre Mutter Agnes. Sie war eine strenge, junge Frau von blauem Blute. Die Ehe ihrer Eltern war wie so oft arrangiert worden, damals von ihrer Oma, der Herzogin Maria aus Bosnien, obwohl die Dame die Heirat an sich nicht mehr miterlebte. Heiraten waren in Adelskreisen leibhaftige Politik. Mathilda mochte auch ihre Mutter, auch wenn sie dem Mädchen nicht ganz so herzlich gegenüber trat wie ihr Vater. Sie war ganz Aristokratin, alles hatte seinen Sinn und Zweck.

Mathilda drehte sich vom Fenster weg und ging zwischen ihren Geschwistern hindurch in den Raum hinein auf die andere Seite. Dort war ein zweites Fenster, dem sie sich nun zuwandte. Von hier aus konnte sie den Rest der Burg überblicken, sofern einem die anderen Gebäude nicht den Blick versperrten. Es gab ein Magazin, oder anders ausgedrückt, ein Vorratshaus mit großen Gewölbekellern, die randvoll mit den unterschiedlichsten Waren gefüllt waren. Korn, haltbar gemachtes Fleisch, Tuch, Schwarzpulver und noch vieles mehr befanden sich darin. Eben alles, was man auf einer Festung wie dieser zum Leben so brauchte. Auch dieses Gebäude ragte hoch auf und war mit dem Wohnhaus und der Wehrmauer verbunden.

Vor dem Bergfried, der nun rechter Hand zu finden war, teilte ein Burggraben die Hauptburg von der Vorburg ab. Der Wehrgraben war ungefähr fünf Meter breit und drei Meter tief. Um von der Vorburg in die Hauptburg zu gelangen, führte eine hölzerne Brücke darüber. Ein weiteres Tor verhinderte, dass hier ungebetene Gäste ohne Erlaubnis eintreten konnten. Dahinter schloss sich die Vorburg an. Dort waren die Häuser und Arbeitsstätten der Burgbediensteten zu finden, wie etwa die Hofküche, der Schmied und auch die Stallungen der Herrschaften. Manche Dinge konnte man selbst auf der Burg herstellen, andere wiederum ließ man sich aus dem Dorf am Fuße des Schlossbergs heraufbringen. Manchmal wurden die Handwerker selbst auf die Burg herauf bestellt, um etwas zu reparieren, das nicht oder nur schwer transportiert werden konnte. Manchmal auch deshalb, weil es einfacher war, Dinge direkt vor Ort fertig zu stellen, als dass die gesamte Gerätschaft oder Ware mühsam das letzte Stück Weges zur Burg, welches sehr steil war, hinaufgeschafft werden musste.

Unter anderem hatte Mathilda das Glück gehabt, bei einer solchen Gelegenheit Korvin zu sehen. Er war in Begleitung eines älteren Mannes auf die Burg gekommen. Dem Aussehen nach musste es sich dabei um seinen Vater handeln. Wie sie später herausfand, war Korvins Vater der hiesige Sattler und hatte beruflich für ihren Vater in den Stallungen zu tun gehabt. Ansprechen konnte sie ihn dabei leider nicht. Sie hatte Korvin seit ihrem ersten Treffen vor acht Jahren ein paar Mal wiedergesehen. Zwei Mal direkt am Findlingsstein, ansonsten hier auf der Burg, wo sie sich jedoch mit dem nun zu einem jungen Mann heran Gewachsenen nicht hatte unterhalten können.

Trotzdem verband die beiden etwas miteinander seit damals. Sie teilten etwas, das sonst keiner hatte. Und die beiden verstanden es auch, auf eine Art und Weise in Kontakt zu bleiben, die eher ungewöhnlich war. Briefe schieden aus, da Korvin nicht lesen oder schreiben konnte. Aber sie hinterlegten nun seit Jahren immer wieder gegenseitig etwas am Fuße des Findlingssteins füreinander. Kleine Aufmerksamkeiten, die dem anderen zeigen sollten, dass man ihn nicht vergessen hatte.

Mathilda hatte damit angefangen. Nachdem Korvin ihr den Ball geschenkt hatte, wollte sie ihm auch etwas zukommen lassen, was ihn an sie erinnern sollte. Daher hatte sie in aller Heimlichkeit ein Taschentuch stibitzt und es mit Stickereien verziert. In der Mitte hatte sie seinen Namen eingestickt. Dann hatte sie es in ein Wachstuch eingeschlagen, zusammengebunden und das kleine Bündel am Felsen abgelegt. Als sie das nächste Mal dort gewesen war, war es verschwunden gewesen. Dafür lag eine abgepflückte Türkenbundlilie an seiner Stelle. Leider hatte die Blume trotz des nahen Wassers nicht überlebt und war verwelkt. Aber die Botschaft, die dahinter steckte, war von Mathilda verstanden worden. Er hatte sich auf diese Weise für das Geschenk bedankt.

Und so ging es über die Jahre hinweg weiter. Mal legte der eine, mal der andere ein Kleinod ab, damit der andere es finden konnte. Dabei handelte es sich immer um Gegenstände, die selbst gemacht und unverderblich waren. Konnte man doch nicht wissen, wann der andere wieder diese Stelle aufsuchen würde. Aber es wurde stets am selben Fleck deponiert. Und sogar gegen die Nässe hatten sie etwas gefunden: Zwei von Korvin gefertigte Lederbeutel, die ineinander geschoben wurden und unter dem Laub versteckt wurden, damit niemand anderes sie finden konnte. Das Wachstuch wurde ab da nur noch als Verpackung in den Beuteln verwendet. Für Korvin waren die Ausflüge an ihren gemeinsamen Ort nicht weiter schwer. Mathilda dagegen kam sehr viel seltener dorthin. Irgendwann hatte sie mit Tante Lisbet die Vereinbarung getroffen, dass sie, wenn sie beide einen gemeinsamen Ausflug von der Burg in Richtung Tal und Umgebung machten, auch ein Stück alleine herumstreunen durfte. Weil Mathilda des Öfteren ausgebüxt war, hatte sie lieber das kleinere Übel gewählt und ließ ihr ihren Willen, mit dem Versprechen, dass sie nie länger als eine halbe Stunde fort blieb. Sie konnte dem Kind, wie Mathildas Vater auch, nichts abschlagen. Und auf die gemeinsamen Picknicke verzichten wollte die einstige Amme auch nicht, war sie doch selbst sehr gerne draußen. Außerdem konnte man das Kind schlecht auf der Burg einsperren. Aber niemand durfte davon wissen, sonst war es mit den Spaziergängen und Erkundungen schlagartig vorbei. Also suchten sie sich immer relativ abgelegene Stellen, die von der Burg aus nicht einzusehen waren.

Mathilda hielt sich an die Abmachung und genoss gleichzeitig ihre kleinen Freiheiten. Die Geschenke Korvins, die sie am Findling fand, versteckte sie meist vor Lisbets Augen in einer Umhängetasche, welche sie immer bei sich trug.

Heute, hatte Mathilda beschlossen, würde sie zu Korvin Hallo sagen, wenn er auf die Burg kam. Und das würde er, das wusste sie. Hatte sie doch den Burgvogt bei seinen Geschäften belauscht, die er im ersten Stock des Hauses in Vaters Arbeitszimmer abhielt, während ihr Vater am Hof des Kaisers weilte. Das Gespann musste an zwei Stellen repariert werden. Mathildas Zaumzeug ebenso. Aber das wusste man noch nicht, dachte sie für sich und sah weiter hinaus.

Das herrschaftliche Haus, oder besser der herrschaftliche Wohnturm, auch Palas genannt, hatte insgesamt vier Stockwerke. Im Erdgeschoss befand sich ein fest gemauerter Saal mit Stein-Gewölbe als Decke und mit kleinen, wenigen Fenstern im Mauerwerk. Eine schmale Küche war darin zu finden, damit nicht alle Mahlzeiten quer über den Hof getragen werden mussten. Außerdem dienten der Ofen und der dazugehörige Kamin dort gleichzeitig als Heizung für das Haus. Über eine Treppe konnte man die anderen Stockwerke erreichen. Darüber waren die Wände des Gebäudes aus Fachwerk errichtet worden und es ragte mit den obersten beiden Stockwerken über die umgehende Wehrmauer hinaus. Die Dachränder an der Firstseite waren zinnenhaft geformt.

Im ersten Stock befand sich wie bereits erwähnt das Arbeitszimmer ihres Vaters. Hier erledigte er Schreibarbeiten, empfing seine Gäste, sprach Recht und hielt seine Grafschaft am Laufen. Wenn Friedrich von Helfenstein nicht da war, übernahm der Burgvogt diese Tätigkeiten.

Im zweiten Stock, in dem sich Mathilda gerade aufhielt, befand sich die Wohnstatt der herrschaftlichen Familie. Der letzte Stock, der sich zwischen den abfallenden Dachkanten befand und einiges an Dachschräge aufwies, enthielt ein weiteres kleines Zimmer, das aber nicht beheizt werden konnte. Daher diente es vorwiegend als Lagerraum.

Mathilda wurde es überdrüssig, zu warten bis Lisbet wieder zurückkehrte. Sie würde sie ohnehin nicht gehen lassen.

"Ich bin gleich wieder da. Seid artig bis ich wieder komme", sagte sie zu ihren Geschwistern, Wilhelm und Anna.

"Bringst du uns etwas mit, wenn du zurückkommst?", fragte der 11-Jährige.

"Klar doch", versprach sie dem Jungen, der gefragt hatte. Also schlich Mathilda die Treppen hinunter und trat aus dem Wohnhaus heraus, darauf bedacht, von Lisbet nicht gesehen zu werden. Es nieselte. Ein trübes Wetter, das einem aufs Gemüt schlagen konnte. Trotzdem war Mathilda gut gelaunt. Sie huschte in die Vorburg und steuerte auf die Zisterne zu. Dort angekommen, hielt sie kurz an, um etwas zu trinken. Das Wasser schmeckte abgestanden, aber das störte sie nicht. Das Mädchen ließ den an einen Strick gebundenen Eimer zurück in die Zisterne gleiten und übergab den Strick an Mart, einen der Knechte, der hinzu getreten war und ebenfalls Wasser schöpfen wollte.

Mathilda huschte weiter und schlich sich in die Burgbäckerei, welche sich nahe am inneren Tor befand. Sie hatte ihren kleinen Geschwistern ja etwas versprochen. Das war der Ort, an dem sie ihr Versprechen diesbezüglich erfüllen konnte, denn heute war Backtag.

Mehrere Frauen waren in dem kleinen Gebäude zugange. Die einen kneteten Teig, eine andere passte darauf auf, dass der Ofen genug Hitze hatte und legte bei Bedarf Holz nach. Brigitte, die Burgköchin, war ebenfalls hier und hatte die Oberaufsicht. Sie half tatkräftig mit. Ein geschäftiges Geschnatter erfüllte den engen, heißen Raum.

Neben der Arbeit wurde sowohl geschwatzt als auch gelacht unter den Frauen. Die Kinder, die mit auf der Burg lebten, drückten sich zusätzlich hier herum. Es war bekannt, dass am Backtag die eine oder andere Leckerei für sie abfiel. Mathilda fiel in dem ganzen herrschenden Trubel kaum auf. Sie reihte sich in die Reihen der neugierigen Kinder ein und tuschelte leise mit ihnen. Heute gab es Kirschennudeln, erfuhr sie von einem kleinen Mädchen. Dafür lohnte es sich wirklich, ein wenig zu warten.

Brigitte nahm gerade den Backschieber in die Hand und arbeitete damit am Ofen. Sie schob ihn hinein. Ein fertiges Brot nach dem anderen glitt heraus und neben die fünf, die bereits auf dem Tisch nebenan zum Abkühlen lagen. Als letztes kamen die Kirschennudeln. Wie wilde Hunde stürzten sich die Kinder darauf, auch wenn sie noch heiß waren. Brigitte, welche die Verteilung übernommen hatte, hatte alle Hände voll zu tun, die Nudeln aus ihrer Schale zu holen, bevor übereilige Kinderhände danach griffen und sich daran verbrannten. Mathilda schob sich zwischen die Kinder und wartete auf ihren Anteil.

Letzten Endes stolzierte sie mit fünf der begehrten Backwaren, welche in ein Tuch eingeschlagen waren, aus der Hofküche heraus. Auf dem Weg nach draußen stibitzte sie eine der Karotten, die in einem Korb am Rand der Küche lagen. Ihre Stute Dara würde sich sicherlich darüber sehr freuen. Sie versteckte sie unter den Kirschennudeln, von denen eine für sie selbst und jeweils eine für ihre Geschwister gedacht waren. Und natürlich eine als Bestechung für Tante Lisbet, welche bekanntermaßen auch ein Süßmäulchen war.

Mathilda musste einem Fuhrwerk ausweichen, das gerade zur Burg hereinrumpelte, als sie die kleine Stufe aus der Burgküche heraus trat .Der feine Nieselregen hatte aufgehört, immerhin. Aber die Wege waren weiterhin matschig und für Schuhwerk schlüpfrig. Man musste aufpassen, wo man hin trat. Für das Fuhrwerk war solch ein Tag eine Qual. Die Ochsen, die es zogen, waren bis zu den Achseln mit Matsch bespritzt. Bei solch einem Wetter mussten sie sich den steilen Zugang zur Burg regelrecht erkämpfen.

Mathilda tigerte weiter. Tante Lisbet hatte sie noch gar nicht entdeckt, was auch gut so war. Sonst müsste sie nur wieder ins Haus.

Doch kaum hatte sie es gedacht, hörte sie Lisbets Stimme über den Hof schallen. Sie zuckte zusammen, als sie direkt angesprochen wurde. Ertappt.

"Mathilda? Mathilda! Was sucht ihr denn hier? Kommt sofort wieder zurück, ihr seid im Haus noch nicht fertig! Ich hatte euch doch eine Aufgabe übertragen!"

"Gleich, Tante Lisbet!"

Ihre Tante kam mit einem Kleinkind von etwa einem knappen Jahr auf dem Arm auf den Hof gelaufen, welches zum Burgvogt gehörte und Christian hieß, wenn sie sich recht erinnerte. Ihre beiden Geschwister waren vermutlich noch in der Stube.

"Nicht gleich, sondern sofort." Dabei zeigte Lisbet mit dem Finger auf den Boden vor ihr. Sie war verärgert, das war ihr deutlich anzusehen. Dass der kleine Christian dabei an ihren Haaren herumzupfte, machte es nicht gerade besser. Lisbet wies ihn zurecht und das Kind sah sie nur glücklich brabbelnd an, seinen Kopf an ihrer Schulter. Mathilda beobachtete es gelassen. Sie zog eine Schnute und schüttelte energisch den Kopf. Lisbets Befehl würde sie jetzt nicht Folge leisten. Ob das klug war, würde sich noch zeigen. Also probierte sie es ausnahmsweise einmal mit der Wahrheit.

"Ich muss aber noch in die Ställe nach Dara sehen. Außerdem soll der Sattler heute kommen und ich muss ihm etwas zeigen. An Daras Zaumzeug stimmt etwas nicht."

"Dann sagt es einem Stallburschen", bestimmte Lisbet ärgerlich.

"Das geht schlecht, Tante, die Stelle lässt sich so schwer beschreiben, das muss ich schon selbst mit dem Sattler ausmachen."

Lisbet sah sie skeptisch an und fing die kleinen Händchen ab, die sich nun ihrem Kinn entgegenreckten.

"Ah, ja. Und das soll ich glauben?"

"Ja!" Das Mädchen kam zu Lisbet herüber. Bevor sie beteuern konnte, dass es der Wahrheit entsprach, redete die Kindsmagd aber schon weiter. Mathilda war verwirrt, da Lisbet plötzlich das Thema zu wechseln schien. Das erste Wort betonte sie etwas deutlicher als den Rest.

"Er ist übrigens schon da."

"Wer? Wen meint ihr denn mit 'er‘?", fragte sie verblüfft.

"Na, euer Freund und sein Vater, der Sattler. Wie heißt er noch gleich? Kolin oder Kevin?"

"Korvin, er heißt Korvin", rutschte es der Grafentochter heraus. In dem Moment merkte Mathilda, dass Lisbet sie überrumpelt hatte und sie in eine Falle getappt war.

"Aha. Korvin also", triumphierte Lisbet mit einem befriedigten Ausdruck im Gesicht, dass es ihr gelungen war, Mathilda zu überfahren. Sie sah den kleinen Christian an, der vor sich hin brabbelte und mit seinen Fingern spielte. Normalerweise lief das meist anders herum. Mathilda fühlte sich elend. Jetzt würde sie erst recht nicht in die Stallungen gehen dürfen. Na toll.

"Ihr seid so was von gemein!", war alles, was sie herausbrachte.

"Mathilda, haltet ihr mich für so dumm? Oder für so alt? Glaubt ihr, ich bin schon blind und taub? Glaubt ihr, ich weiß nicht, woher die kleinen Geschenke kommen?" Doch Lisbets Gesichtsausdruck war nicht rechthaberisch dabei, sondern warmherzig und voller Güte. Ihr Ärger war schon längst wieder verflogen. Dann wurde ihre Stimme leise und verschwörerisch.

"Na los, geht schon. Ihr beiden seht euch so selten. Und da ist ja nichts dabei, oder?" Dabei sah sie Mathilda eindringlich an. Was? Sie durfte gehen? Hoffnung keimte in Mathilda auf, daher beeilte sie sich, die Frage zügig zu beantworten.

"Nein, natürlich nicht, Tante Lisbet. Wir sind Freunde. Die allerbesten sozusagen. Wie man das eben sein kann unter solchen Umständen", sagte sie aufrichtig und mit einem bedauernden Unterton in der Stimme, weil sie Korvin lieber öfter sehen würde. Aber es war ihnen nicht vergönnt. Mathilda hatte tatsächlich noch nie ernsthaft einen Gedanken daran verschwendet, dass zwischen ihr und Korvin mehr als nur Freundschaft bestehen könnte, weil es einfach unmöglich war. Eine Liebesbeziehung? Einfach lächerlich. Sie war doch erst 13. Mathilda wusste, dass sie irgendwann einmal heiraten musste. Im Grunde war sie schon im heiratsfähigen Alter. Aber ihr Vater hatte es noch nicht übers Herz gebracht, sie zu vermählen. In 3 bis 4 Jahren, wenn sich eine passende Gelegenheit fand, würde sie nicht drum herum kommen, das wusste sie. Aber bis dahin wäre sie noch frei. Frei, zu tun und zu lassen, wozu sie Lust hatte. In gewissen Grenzen verstand sich.

Mathilda war irgendwie froh. Die Geheimniskrämerei war ihr Lisbet gegenüber immer schwer gefallen. Hatte das Kindermädchen doch die ganze Zeit über etwas geahnt und doch geschwiegen. Sie war eine Verbündete gewesen, und Mathilda hatte es nicht gewusst! Lisbet wusste ihrerseits, dass Mathilda bisher keine Anstalten machte, dem männlichen Geschlecht nachzusehen. Daher glaubte sie ihr, hakte dennoch noch einmal nach.

"Wirklich?"

"Wirklich, wirklich", antwortete Mathilda voller Inbrunst, nickte zur weiteren Bestätigung mit dem Kopf und nutzte die Tatsache aus, dass Lisbet ihr nie lange böse sein konnte. Der Blick, den sie dabei auflegte, hatte etwas so ehrliches an sich, dass Lisbet wie üblich nicht widerstehen konnte.

"Also gut. Aber kommt so bald wie möglich wieder ins Haus. Leider kann ich euch nicht allzu viel Zeit zugestehen. Bevor es noch Gerede gibt."

"Ja, Tante, bestimmt. Und... hier. Eine ist sogar für dich." Bei diesen Worten übergab sie ihr Bündel an ihre Kindsmagd, woraufhin die Karotte darunter zum Vorschein kam. Gleichzeitig zog sie eine Kirschennudel für sich selbst daraus hervor. Sie wollte sie mitnehmen in die Stallungen.

Christian, der das Gebäck sah, streckte sogleich seine kleinen Ärmchen danach aus, war aber noch zu klein, um davon etwas abzubekommen.

Lisbet und Mathilda lachten gleichzeitig.

"Nein, das ist meine, die ist nicht für dich. Tante Lisbet wird dir vielleicht ein Stück geben, da sind genügend drin", meinte Mathilda lächelnd und zog ihren Anteil der Kirschennudeln hinter ihren Rücken außer Sicht des Kleinkindes in Lisbets Armen. Die Frau nahm das Bündel entgegen.

"Danke. Da werden sich die Kleinen aber freuen, wie man gerade schon gesehen hat."

Ganz bestimmt. Und nicht nur die, dachte Mathilda vergnügt.

"Für Dara?", fragte Lisbet und deutete auf das Gemüse in Mathildas Hand. Sie nickte. Lisbet schmunzelte nur, dann drehte sie sich mit Christian zusammen um und ging fort. Gut gelaunt schlug Mathilda die Richtung zu den Stallungen ein. Das war ja besser als erwartet ausgegangen. Lisbet war einfach ein Schatz, dachte Mathilda bei sich im Gehen.

Sie schlenderte zwischen all den Arbeitenden der Burg an ihr ausgemachtes Ziel hinüber. Auch wenn schlechtes Wetter war, die Schweine, Hühner, Schafe und Pferde wollten auch an einem solchen Tag versorgt werden. Allerdings eilten die Leute schneller als sonst und mit eingezogenem Kopf über die Vorburg, um möglichst wenig nass zu werden. Denn das Nieseln hatte von neuem begonnen.

Die Herrschaftstochter schlüpfte derweil in den Pferdestall. Es roch nach Heu, Stroh und nach Pferd. Mathilda mochte den Geruch. Sie besuchte oft ihre Stute Dara, die ihr Vater ihr zu ihrem 12. Geburtstag geschenkt hatte. Das Tier war allerdings recht wiederborstig. Außer zu Mathilda selbst. Es gab kaum einen Stallburschen, den Dara noch nicht gebissen hatte. Keiner davon riss sich darum, dieses Pferd zu versorgen. Aber Mathilda wollte es nicht hergeben, auch wenn sie dafür schon eine andere, sanftmütigere Stute angeboten bekommen hatte. Sie ging in die Richtung, wo Dara stand. Zuerst würde sie ihr Pferd begrüßen, und erst anschließend in die Sattelkammer gehen, wo vermutlich auch der Sattler und sein Sohn zu finden waren. Denn mit dem Zaumzeug hatte sie keinesfalls gelogen. Mathilda war schon ganz gespannt darauf, wie Korvin reagieren würde, wenn sie ihn dort traf. Sie selbst freute sich riesig darauf. Zu lange hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Gedankenversunken drehte sie in der einen Hand die Karotte, in der anderen ihr Gebäck.

Mathilda erschrak, als sie aufsah und ein Schatten bei Daras Box wahrnahm.

Jemand stand dort.

Steineid

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