Читать книгу Steineid - Stefanie Wenz - Страница 7
Kapitel 3 In der Nähe des Drachenlochs, unterhalb des oberen Dorfes zu Trackenstein, anno 1421
ОглавлениеRagnor'rok öffnete gemächlich ein Auge. Die schwarze, geschlitzte Pupille bewegte sich unruhig hin und her, bevor das Lid, ungesehen in der herrschenden Dunkelheit, kurz blinzelte. Etwas hatte ihn geweckt.
Ragnor'rok lauschte.
Nein, nicht etwas. JEMAND hatte ihn geweckt und störte seinen schon lange andauernden Schlaf.
Jemand befand sich hier. Hier, in seinem Zuhause... Wer wagte diesen Frevel? Jemand, der dafür einen äußerst schmerzhaften Todeskampf in Kauf nahm, wie schon so viele vorher, bevor sich Ragnor'rok hier zur Ruhe gelegt hatte, dachte er.
Der dunkle Drache schnaubte leise. Wieder so ein angeblich tapferer Ritter, der ihn, Ragnor'rok, besiegen wollte? Keiner der es versucht hatte, hatte es bisher geschafft. Auch dieser hier würde wie alle anderen zuvor scheitern.
Ragnor'rok blieb vorerst still liegen, er würde nicht entdeckt werden. Denn sein Drachenleib hatte die Fähigkeit, seine Umgebung perfekt nachzuahmen, wenn er dies wollte. Noch von seinem Schlaf getarnt, würde der erbärmliche Wicht, der die Drachenhöhle aufsuchte, hier nur Felsgestein erkennen, selbst wenn er ein Quantum Intelligenz besaß und sich eine Fackel mitgebracht hatte um etwas mehr zu sehen.
Ragnor'rok lachte in sich hinein. Er hatte Hunger, da kam ihm der mickrige Happen gerade recht, der sich gerade im Tageslicht vor der finsteren Höhlenöffnung abzeichnete. Mensch schmeckte zwar nur halb so gut wie Schaf, Ziege oder Kuh, aber er war nicht wählerisch. Nicht nach einem Nickerchen und nicht, wenn er dafür nicht jagen musste. Viel war nicht dran, kaum der Rede wert. Aber besser als nichts und obendrein leicht zu erlegen. Immerhin sah Ragnor'rok kein blitzendes Metall in den Händen des Menschen, was auf einen vom Ritterstand hingedeutet hätte.
Er bewegte sich vorsichtig, um in eine bessere Position für einen Überraschungsangriff zu kommen. Dabei kullerte Geröll, das im Laufe der Jahre von der Höhlendecke auf den Drachen herabgebrochen war, von Ragnor'roks Rücken herunter.
Der kleine Mensch, den der Drache nicht aus seinem Blick entließ, blieb zögernd stehen.
"I-ist hier jemand?", rief dieser zögerlich in die schwarze Dunkelheit vor ihm, nichts ahnend, dass dort ein Drache hauste. Anscheinend hatte er das Geräusch der herabrollenden Steine gehört.
"Thomas? Bist du das?", kam ein unsicherer Ruf hinterdrein.
Langsam traute sich das Menschlein weiter in die Höhle hinein. Es war noch ein Knabe, erkannte Ragnor'rok nun. Schade. Nur eine halbe Portion. Und so wie es klang, suchte er wohl jemanden.
"Thomas, wenn du da drin bist, komm sofort raus! Das ist unheimlich! Kennst du denn nicht die Geschichten, die um dieses Loch erzählt werden? Hier soll doch ein fürchterlicher Drache gehaust haben, bis Sir Wenal ihn besiegt hat und Gott zum Dank dafür zum Kreuzzug nach Rom aufgebrochen ist. Wer weiß, vielleicht,... Nein. Den Drachen gibt es ja seit über 100 Jahren nicht mehr... jedenfalls, komm da raus, bitte, das ist einfach nur unheimlich hier drin", redete der Junge weiter, sich durch seine Geschichte selbst Mut zusprechend und die Gefahr, von der er nichts ahnte, verharmlosend.
Ragnor'rok grinste verächtlich. Ach so hatte der dämliche Ritter geheißen, der ihn das letzte Mal besucht hatte. War das schon so lange her gewesen? Er hatte wohl länger geschlafen als ursprünglich beabsichtigt. Lag vermutlich an der Wunde, die ihm dieser Eisenmann damals verpasst hatte und ihn für tot gehalten hatte. Jetzt war sie schon lange verheilt. Nun ja, so leicht war ein Drache nicht umzubringen. Es war nur eine schmerzhafte Fleischwunde gewesen, die ihn nicht daran gehindert hatte, diese Blechdose ein paar Wochen später aufzuspüren und sie auf ihrer Reise in einen sinnlosen Krieg zugunsten eines Gottes, der für Ragnor'rok ein Witz war, zu stellen. Die Überraschung in den Augen des Ritters würde Ragnor'rok niemals vergessen. Auch nicht den Geruch von Angst, als er erkannte, dass es kein Entkommen gab und Ragnor'rok ihn im Anschluss bei lebendigem Leibe zerfetzt hatte. Als kleines Bonbon danach hatte er sich noch um seine Mitreisenden gekümmert. Vollgefressen und satt hatte er sich dann wieder in sein Domizil zurückgezogen und, zugegeben, ein langes Verdauungsschläfchen gehalten, wenn er nebenbei die Zeitlinien um sich herum anzapfte und sie schmecken wollte. Für einen Drachen war das wie eine warme Zudecke für einen Menschen. Dabei konnte es passieren, dass man die Zeit vergaß. Ein kleiner Nachteil, wenn man ein Drache war, aber nicht weiter schlimm. Zeit spielte für ihn nur eine untergeordnete Rolle. Drachen waren eine unglaublich langlebige Spezies neben der Tatsache, dass sie auch Herren über die Zeit mit ihrer Magie waren.
Ragnor'rok spähte unter seinem einen Augenlid hindurch, das in Richtung Höhleneingang zeigte. Der Knabe kam immer noch zögerlich näher. Anscheinend war er sich über seine eigenen Worte nicht ganz sicher, die er gerade in das dunkle Loch hineingerufen hatte und hielt Ragnor’rok für den Gesuchten. Nur noch ein kleines Stück, dann würde er ihn mit einem Ruck packen können. Durch den langen Schlaf war er hungrig und brauchte Energie, um wieder fit zu werden. Ein Glücksfall, dieser Junge. Vor allem, da der Höhleneingang sehr schwer zu erreichen war und deshalb so gut wie nie einer freiwillig hier auftauchte. Man musste klettern können. Abgesehen davon hielten sich die Menschen von dieser Höhle lieber fern. Aus gutem Grund, denn sie spürten unbewusst die davon ausgehende Magie. Normalerweise.
"Thomas? bist Du hier?" wiederholte der Kleine leise. Doch eine Antwort bekam er auch diesmal nicht. Ein Seufzen war zu hören. Weiter vor wagte sich der Eindringling nicht mehr und machte gerade wieder Anstalten, umzukehren. Er warf einen letzten Blick in das ehemalige Drachenloch.
"Thomas?"
Doch alles was zurückkam, war ein Echo des Gesagten, von den Felswänden zu Matthias zurückgeworfen.
Ragnor'rok spannte seine gewaltigen, vom langen Liegen steif gewordenen Muskeln an. Wie eine Katze lag er nun auf der Lauer. Seine gewaltigen Krallen verloren ihren steinernen Schatten. Blank und schwarzblau schimmerten sie nun in der Dunkelheit. Auch der Rest des Ungetüms legte den Deckmantel der Steinfassade ab. Schuppen von grüngrauer mit schwarz melierter Farbe kamen darunter zum Vorschein.
Doch der Junge am Eingang konnte nichts davon sehen, stand er doch mit dem Licht im Rücken zu Ragnor'rok und musste in die Dunkelheit spähen. Solch einen Scharfblick hatten Menschenaugen einfach nicht. Primitiv entwickelt, dachte der Drache für sich. Nicht mehr, als dummes Futter.
Als der Junge sich umwenden wollte, um wieder von dannen zu ziehen, ergriff Ragnor'rok seine Chance. Er würde diesen Leckerbissen nicht entkommen lassen. Niemand durfte seine Höhle ungestraft betreten. Früher nicht, und auch jetzt nicht.
Es gab wieder einen Drachen bei Trackenstein, nämlich ihn, Ragnor'rok! Nun ja, derselbe Drache wie damals wohl, aber das wussten die Leute ja nicht, dachte der böse Lindwurm amüsiert.
Wie ein Panther sprang der große Ragnor'rok auf sein hilfloses Opfer los, das ihm unwissend den Rücken zugewandt hatte.
Der elegante Drachenkörper glich einem Pfeil, der die Strecke zwischen seinem Liegeplatz und dem Knaben binnen Sekunden zurücklegte, was man ihm nicht zugetraut hätte, wenn man ihn noch vor kurzem in seiner Schlafposition gesehen hatte. Dort hatte er träge und fett gewirkt. Doch der Schein trog. Wie so oft.
Der unglückliche Junge hatte keine Chance.
Er spürte einen harten Stoß in seinem Kreuz, wurde nach vorn geschleudert von einer Kraft, die er weder gesehen, noch erwartet hatte. Doch bevor er einen Schrei ausstoßen konnte, wurde er von dem Drachen fester gepackt. Ein Biss, und der Brustkorb des Knaben knackte vernehmlich. Luft entwich zischend aus seinen gepeinigten Lungen. Schmerz durchfuhr ihn gnadenlos.
Ragnor'rok drückte erbarmungslos seinen kräftigen Kiefer zusammen. Spitze Zähne bohrten sich in das Fleisch des Jungen. Unsägliche Pein und Überraschung standen ihm im Gesicht. Blut lief ihm aus Mund und Nase und tropfte auf den kalten feuchten Höhlenboden unter ihm. Sekunden später erschlafften seine Züge.
Es war vorbei.
Der Drache spürte, wie sich der krampfende Körper zwischen seinen Zähnen entspannte. Zufrieden legte er sich an den Höhleneingang und begann, seine Beute zu verspeisen.
Als er damit fertig war, erhob er sich, leckte sich die riesigen Vorderklauen sauber, mit denen er seine Beute festgehalten hatte und betrachtete die Wälder um sich.
Ein triumphierender, unmenschlicher Schrei entfuhr seiner Kehle, die jedes Lebewesen im Umkreis von einem halben Kilometer um das unselige Drachenloch herum zusammenfahren ließ. Nur die Menschen, die sich in Trackenstein aufhielten, die bekamen davon nichts mit. Dafür hatte der Drache mit seinem magischen Bann vor langem schon gesorgt. Um von seiner Anwesenheit in dieser Ecke des Tales Kenntnis zu erlangen, mussten sie sich schon in unmittelbarer Nähe zu seiner Wohnstatt befinden, den sehnlichen Wunsch verspüren, sein Zuhause aufzusuchen oder magisch veranlagt sein.
Apropos Nähe. Der Junge war eigentlich zu nah gewesen, oder?
Ragnor'rok faltete seine Flügel auseinander und führte prüfend ein paar Flügelschlage damit aus, um seine Glieder vom langen Schlaf wieder geschmeidig und gefügig zu machen. Hm. Er hatte noch Hunger. Viel dran war an dem Menschlein ja nicht gewesen, stellte er zu seinem Bedauern fest. Der Junge hatte doch jemanden gesucht, nicht wahr? Vielleicht rannte ihm dieser Thomas ja zufällig über den Weg. Vielleicht war an dem mehr dran als an seinem gerade verschlungenen Häppchen. Gegen einen weiteren Happen hätte er definitiv nichts einzuwenden, dachte Ragnor'rok schmatzend, machte aber keine Anstalten, auf die Suche nach diesem Thomas zu gehen. Viel lieber als das würde er sich jetzt vor das Drachenloch legen und sich die Sonne auf die dunklen Schuppen scheinen lassen, um richtig fit zu werden. Ragnor'rok wägte kurz ab.
Terror und Schrecken verbreiteten sich auch später noch gut, kam er zu seiner Entscheidung. Danach musste er erst einmal den magischen Ring um sein Drachenloch erneuern, der im Laufe der Jahrhunderte stark nachgelassen hatte, wie Ragnor'rok missmutig feststellte. Sonst hätte der eben verschlungene Leckerbissen niemals bis in seine Höhle vordringen können.
Doch zuerst galt es, das eigentliche Drachenleben wieder aufzunehmen. Denn der wahre Herr des Drachenlochs war zurückgekehrt! Und er würde diesmal bleiben bis in alle Ewigkeit, dachte Ragnor'rok nur und positionierte sich träge, um sich zuerst einmal der Beschäftigung zu widmen, die ihm am wichtigsten erschien, nämlich der Sonne zu huldigen. Das Knacken um ihn herum im Wald störte ihn dabei nicht weiter. Der Drache bemühte diesbezüglich noch nicht einmal seinen sensiblen Geruchssinn. Kleine Tiere wohl, die vor seiner bloßen und plötzlichen Anwesenheit die Flucht ergriffen, als sie ihn witterten oder gehört hatten. Nichts wichtiges, dachte der Drache.
Neben vielen verängstigten Waldtieren war es auch der kleine Thomas, der diesen unmenschlichen Schrei vernahm. Der Thomas, den sein glückloser Bruder Matthias bei der Höhle gesucht, aber nicht gefunden hatte. Er würde ihn nie mehr finden können, hatte er doch unbemerkt von allen sein Leben als Drachenfutter beendet.
Thomas fuhr der Schreck in die Glieder, als er das Gebrüll hörte. Durch die Bäume hindurch sah er ein gewaltiges Ungetüm. Groß und schrecklich ragte es vor dem finsteren Loch in der Felswand auf. Größer als fünf Fuhrwerke zusammen. Allein der Kopf war so groß wie ein ganzes Pferd! Thomas' Blick heftete sich auf die spitzen, todbringenden Zähne, die das Maul des Untiers zierten. Sie waren blutbesudelt. Das Kind besah sich aus seinem Versteck heraus den Rest des Wesens. Riesige lederne Schwingen sprossen aus dem schuppigen Körper der Bestie. Sie waren aufgefaltet und maßen eine Gesamtspannweite von bestimmt 15 Metern. Vier gewaltige Pranken, wobei die Hinterläufe größer waren als die Vorderläufe, hielten das Wesen aufrecht, dessen Körper dem eines überdimensional großen Wildes entsprach. Nur, dass es kein Fell, sondern Schuppen wie eine Schlange hatte. Ein dicker, kräftiger Hals trug den dornenbesetzten Kopf an einen Ende. Ein langer, ebenfalls dornenbesetzter Schwanz bildete das andere Ende des Ungeheuers. Unsägliches Grauen packte den Buben.
Etwas Warmes, Nasses schlich sich aus Thomas Körper hinaus und durchnässte seine Leinenhose und seine Schuhe. Er hatte sich vor Angst bepieselt. Doch das bemerkte der Knabe gar nicht mehr. Ebenso, dass er am ganzen Körper schlotterte. Obwohl Thomas noch nie einen Drachen gesehen hatte, wusste er sofort, was er da vor sich hatte. Seine Augen klebten an den blutüberzogenen Zähnen des Monsters. Kaltes Grauen und Todesangst durchfluteten den Jungen in eisigen, erbarmungslosen Wellen. Intuitiv wusste er, dass seinem großen Bruder etwas Furchtbares geschehen war. Wenn er nicht wollte, dass ihm dasselbe geschah, musste er schnellstens von hier verschwinden.
In panischer Angst riss er sich von dem Anblick los und floh Hals über Kopf, mehr als einmal stolpernd und im Laub landend, durch das Unterholz zurück in die vermeintliche Sicherheit seines Dorfes. Er hatte Glück. Das Monster verfolgte ihn nicht.
Doch was genau geschehen war, konnten seine Eltern und die Dorfbewohner aus dem völlig verstörten Jungen nicht herausfinden. Hatte doch der Wahnsinn das Kind fest in seinen grausamen Klauen und ließ es von diesem Zeitpunkt an nicht mehr los.
Keine Gebete halfen, egal, wieviel und wie lange man betete. Nie wieder, weder in seinen Träumen, noch tagsüber fand der kleine Thomas Ruhe. Er war von nun an für immer gezeichnet.
Da sein Bruder Matthias zum Entsetzen seiner Eltern nicht wiederkehrte hatten sie zwei Söhne an einem einzigen Tag verloren.