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Kapitel 12 Gosbach, in der Dorfschenke, anno 1428

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Die kalte Jahreszeit neigte sich langsam dem Ende zu, als Korvin endlich einen weiteren Anhaltspunkt erhielt, wo Mathilda stecken könnte. Es war Freitagabend und er bediente seit langem wieder einmal in der Gosbacher Dorfschenke, um sich ein paar Kreuzer dazu zu verdienen. Sein Vater und seine Mutter sahen das wohlwollend, glaubten sie doch, dass er endlich vernünftig würde. Doch Korvin tat es heute nur, weil er frustriert war. Frustriert, weil ihn seine Wanderungen nicht weiterbrachten. Er hatte schon lange nicht mehr ausgeschenkt, weil er die Zeit lieber draußen nutzte und nach Mathilda suchte. Viel sprang bei der Bedienerei zwar nicht heraus, denn die jungen Mädchen bekamen wesentlich mehr Trinkgeld als er, aber was sollte er machen? Frauenbrüste hatten nun mal mehr Wirkung auf angetrunkene Männer als ein breites Kreuz und ein Stoppelbart.

Korvin war weiterhin fast jeden Tag in der Umgegend einher gestapft und suchte nach Anhaltspunkten. Dabei hatte er einiges vernachlässigt. Langsam verlor er auch die Hoffnung, jemals etwas zu finden. Mathilda war verschwunden und blieb verschwunden. Ulrichs Gerücht erschwerte es ihm dabei sehr. Denn ab jetzt durfte er keine Fragen mehr stellen, da Mathilda offiziell auf der Burg weilte. Er musste sehr aufpassen, wie er fragte, wenn er fragte. Und das Gerede über Mathildas Verschwinden ebbte seitdem zusehends ab. Die Leute schwatzten gerne, vergaßen aber auch wieder schnell und widmeten sich lieber neuen Dingen. Für Sie war das Thema durch, seit das Mädchen angeblich gefunden worden war. Korvin seufzte und sah wieder auf den Bierkrug, den er gerade füllte. Eine weiße Schaumkrone hatte sich auf dem goldenen Gebräu abgesetzt, was man aber in dem tönernen Krug nicht sah. Er griff sich einen zweiten Krug und hielt ihn unter den Hahn. Die Schenke war gut gefüllt. Korvin kannte einige hier. Junge wie alte Dorfbewohner waren hier und gaben ihr sauer verdientes Geld aus, nur um nebenbei ein Schwätzchen unter sich ohne ihre Weiber halten zu können.

Dass er ausgerechnet hier in diesem stickigen, verrauchten und von Bier- und Mostduft schwangeren Raum den richtigen Hinweis erhielt, hätte er sich nicht träumen lassen.

Gerade, als er die beiden Bierkrüge zu dem Tisch hinüber brachte, wo sie bestellt worden waren, betraten drei Fremde die Schankstube. Der Kleidung nach handelte es sich um Spielleute, die von Dorf zu Dorf zogen und Unterhaltung brachten. Kurz verstummten die Gespräche an den Tischen und der Theke, während die Neuankömmlinge von den Dorfbewohnern gemustert wurden. Als man die Fremden eingeschätzt hatte und dabei verblieben war, dass Sie nichts Böses wollten, begann das Palavern von neuem. Korvin betrachtete sie genauer.

"Hallo liebe Leute! Darf ich uns vorstellen? Wir sind die bunten Wammler, berühmte Musiker, Künstler und Geschichtenerzähler. Doch jetzt sind wir nur hungrig und daher hier zu Gast", stellte einer seinen Trupp lautstark vor. Die Leute interessierte das nur mäßig.

Der Wirt legte neues Holz in den Kamin und gab Korvin einen Wink, die Neuen zu begrüßen und nach ihrem Begehr zu fragen. Korvin tat es.

"Wir sind hungrig und haben Durst. Sagt, kann man das Gesöff auch genießen, das ihr hier ausschenkt?"

"Natürlich. Allein der Apfelwein ist vorzüglich meine Herren."

"Also dann dreimal Wein für mich und meine Neffen. Und drei Abendessen, sofern es sich dabei nicht um Kohlsuppe handelt." Korvin schüttelte bestätigend den Kopf, dass Kohlsuppe heute nicht auf dem Essensplan stand.

"Sauerkraut mit Leber- oder Blutwurst."

"Ah gut. Dann dreimal Leberwurst dazu. Blutwurst ist nicht so unser Fall.

Ach ja, und einen Schlafplatz für die Nacht für alle drei", beschieden sie ihm noch, woraufhin er sie an einen Tisch in der Nähe des Schanktisches setzte.

"Gebt ihr uns die Unterkunft umsonst, wenn wir nach dem Mahl eine Vorstellung für euch und eure Gäste geben?", hakte der Älteste nach, nachdem sie allesamt Platz genommen hatten.

"Das muss der Wirt entscheiden. Dort drüben." Korvin zeigte dem Fremden, an wen er sich zu wenden hatte. Der Älteste ging sogleich hinüber. Zum verbliebenen Rest sagte Korvin:

"Das Essen und eure Getränke kommen umgehend", antwortete er ihnen. Der, der mit dem Wirt verhandelt hatte, kehrte bereits zurück. Er klatschte in die Hände.

"Das Zimmer wird auch gleich für uns vorbereitet, meine Herren", berichtete er zufrieden. Korvin indes lief schnurstracks zur Theke zurück und begann, den Wein auszuschenken, während er die Essensbestellung in die Küche weitergab. Der Besitzer der Schenke, Alfons Dröhl, allseits unter dem Spitznamen Moschdwirt bekannt, kümmerte sich selbst um die Zimmer. Er hatte dem unterbreiteten Vorschlag sogleich zugestimmt. Denn unterhaltene Gäste tranken erfahrungsgemäß mehr als gelangweilte. Die gingen meistens früh heim. Er überließ Korvin daher kurzfristig die Stube. Ein kleiner Junge wurde ins Dorf geschickt, der die Neuigkeit der bevorstehenden Vorstellung verbreiten sollte, damit noch mehr Gäste in die Stube kamen.

Der junge Sattler schnappte sich die vollen Weinbecher und ging zum Tisch.

"Hier, bitte. Was verschlägt euch in diese Gegend, werte Leute, wenn ich fragen darf?"

"Ihr dürft, Bursche. Wir sind, wie bereits gesagt, Spielleute. Unsere Geschäfte tragen uns zwischen den Städten hin und her. Wir kommen von Lindau, haben in Ulm Halt gemacht und sind nun auf dem Weg nach Stuttgart und sind dadurch in eurer Gegend gelandet", plauderte der Eine davon vergnügt aus dem Nähkästchen.

"Ah, verstehe. Dann genießt unsere Gastfreundschaft ausführlich, bevor ihr die schöne schwäbische Ecke verlasst", fügte Korvin an, während er kurz den Tisch mit einem Lappen säuberte bevor das Essen kam. Die dicke Berta aus der Küche steuerte den Tisch an und hatte drei Teller in den Händen. Einen davon hielt sie so, dass ein Finger im Inhalt badete.

"Essen", sagte sie kurz angebunden. Drei Teller mit dampfendem und nach Schweinefett riechendem Sauerkraut landeten auf dem Tisch. Die Leberwurst war klein und dick und leicht angetrocknet. Nicht üppig. Man hätte größere Portionen erwarten können. Dann leckte sie sich den Finger ab und verschwand wieder. Korvin zuckte die Schultern und entschuldigte sich so wortlos bei den Fremden, welche leicht angewiderte Gesichter zogen.

"Das war unsere zuckersüße anmutige Meisterköchin, meine Herren", sagte er sarkastisch. Leiser fügte er hinzu: "So viel zur schwäbischen Gastfreundschaft." Er sah der dicken Köchin hinterher, wie sie wieder in ihrem Reich verschwand. Einer der Fremden schüttelte kurz den Kopf, dann verlor er seinen angewiderten Gesichtsausdruck. Er wich zuerst einem Schmunzeln, dann einem Lachen. Er schlug Korvin freundschaftlich auf die Schulter.

"Macht euch nichts daraus, es gibt schlimmere Löcher als hier. Wir sind einiges gewohnt", tröstete er Korvin.

Sein Kumpan seufzte und griff nach dem Löffel.

"Hoffentlich schmeckt es besser, als sie ausgesehen hat... brrrr", schüttelte er sich. "Der will ich nicht nachts begegnen."

"Geschweige denn, im Bett", sagte der Dritte.

"Oh ja. Darf es sonst noch etwas sein, meine Herren?", stimmte Korvin aus Höflichkeit zu und wurde sogleich wieder ernst. Die dicke Berta war immerhin die Frau seines Chefs hier. Und wenn er diese armselige Arbeit und den Verdienst behalten wollte, sollte er nicht allzu frech sein.

"Nein", bekam er als Antwort. Doch bevor er sich wieder vom Tisch entfernen konnte, hielt ihn der mit dem Vollbart am Arm fest.

"Sagt, habt ihr hier auch so Probleme mit Wölfen?"

"Mit Wölfen? Nein, nicht dass ich wüsste. Oder Jungs?" rief Korvin in die Schankstube hinein und wiederholte die Frage des Fremden für die anderen.

"Nein, keine Wölfe, warum?"

"Nö, hab nix dergleichen mitgekriegt", kamen die Antworten. Manchmal gab es auch nur ein stummes Kopfschütteln.

"Warom wellat ihr des wissa?", hakte ein Bauer im breitesten schwäbisch nach und kam an den Tisch der Fremden herüber. Korvin kannte ihn, er hieß Thomas Rosler.

"Naja, auf unsrer Reise hierher gab's immer wieder Gerede über Wölfe. In manchen Gebieten müssen die Viecher den Schäfern ganz schön zusetzen. Hier also nicht?"

"Noi. Des übliche halt. Hier und da mal a Goiß, aber des isch ja normal."

"Außerdem fallen den Untieren auch unvorsichtige Wanderer zum Opfer, sagt man. Auch davon nichts gehört?"

Der Rosler kratze sich seine Halbglatze. Weitere Bauern und Handwerker waren aufgestanden und schlossen sich dem Gespräch an. Etwas Neues zu erfahren war immer interessant.

"Ne, Leit verschwendet koine do, onsere Welf send zahm dohanna", antwortete ein anderer und begann selbst über seinen Scherz, den er gemacht hatte, zu lachen.

"Aha, das ist ja sehr beruhigend", sagte Hermann Schmiedegut, der Wortführer der Fremden. Über den Witz konnte er nur müde lächeln, während er seine Gabel in die Leberwurst rammte und ein Stück davon abschnitt. Dann drückte er das Brät mit der Gabel heraus. Schlabbrig und grau eroberte sich der Inhalt einen Teil des Tellers und mischte sich mit dem Sauerkraut darauf.

"Pst, des is ned richtig. Du vergisst den Jungen von Trackenstein oben, Tom", berichtigte ihn der Dorfschmied und tippte ihm dabei auf die Schulter.

"Ach der. Der zählt doch edda", brummte der Bauer beleidigt, weil ihn jemand verbessert hatte. Damit versuchte er, das Ganze unter den Tisch zu kehren. Die Fremden hingegen wurden hellhörig.

"Wieso, was war mit dem? Ja erzählt doch schon, wenn möglich unverblümt bitte", forderte nun der Jüngste der drei Reisenden den Schmied auf. Dieser setzte sich ohne gefragt worden zu sein mit seinem Bier an ihren Tisch.

"Ha doch, der zählt. Und die Herren wollen's genauer wissen, was?" Er ruckte verschwörerisch näher heran, woraufhin der ältere der jungen Leute ein wenig wegrutschte. Anscheinend hatte der Schmied eine ordentliche Bierfahne, der er so entgehen wollte.

"Also, horcht her. Vor sieben Jahren waren zwei Brüder in den Wald zwischen hier und Trackenstein unterwegs. Die sollten glaub ich Kräuter sammeln, aber so genau weiß ich des nicht.

Ist ja auch wurscht", kommentierte er und rülpste laut. Jemand fuchtelte mit der Hand in der Luft herum, um die Fahne, die sich danach ausbreitete, wegzufächeln. Nach einem weiteren Schluck aus seinem Bierkrug fuhr er fort.

"Jedenfalls, nur einer von denen kam zurück. Der Jüngere war's, glaub i. Was mit dem andern passiert is, weiß kein Mensch. Bis heut nich. Außer vielleicht der kleine Spinner selber. Aber seit dem Vorfall redet der nimmer. Ich glaub ja, dass er was mit dem Verschwinden seines Bruders zu tun hat und deshalb lieber schweigt, bevor er deshalb angeklagt wird. Irgend so ne Bruderrivalität denk ich, wie Kain und Abel. Den Erstgeborenen fortschaffen, um nachher selber jeden Heller zu erben."

"Ach Schmarrn, Widolf. Der Jung ist doch erst 6 gewesen. Glaubst du, da denkt der schon an sowas", kam eine Stimme aus dem Hintergrund.

"Sagst du."

"Ja, sag ich." Ein weiterer Mann drängte sich durch die Dörfleransammlung hindurch zum Tisch. Der Schmied grunzte nur und stand wieder auf.

"Wenn Du's besser weißt, dann erzähl doch du", sagte er beleidigt und hob die Faust.

"Tu ich auch. Und hör auf mit der Drohung, Widolf. Wir wissen alle, dass du schon viel zu viel Bier im Schädel hast für eine Rauferei." Die Anderen lachten und der Schmied entspannte sich, als ihm ein anderer seinen halbvollen Bierkrug zur Besänftigung reichte.

"Da, trink, und hör selber zu."

Derjenige, der sich gerade eingemischt hatte, sprach nun weiter.

"Hast du den armen Kerl mal in echt gesehen? Ich schon. Mit dem ist nicht mehr viel her. Der ist plemplem würd ich sagen.“ Eine entsprechende Geste seiner Hand untermauerte seine Worte. “Aber so richtig. Der reagiert kaum, wenn man ihn anspricht. Brabbelt wirres Zeug und ständig kritzelt der Sachen in den Dreck, die keiner recht erkennen kann. Die armen Eltern, die können einem echt leidtun. Die haben zwei Söhne an einem Tag verloren."

Die Anderen drum herum nickten stumm und mitfühlend. Dann warf einer dazwischen:

"Und vergesst die Grafentochter nich, die war au weg."

"Ach komm, Wolfgang. Die zählt jetzt wirklich nicht. Die is ja wieder aufgetaucht. Schon schlimm genug, wenn das Gör nich richtig reiten kann und dumm verunglückt."

Korvins Wange zuckte, ein Zeichen, dass ihn das Gesagte wütend machte. Er ließ sich aber nichts anmerken. Jetzt plapperten wieder alle durcheinander und Korvin musste sich um die Bestellungen, die an ihn herangetragen wurden kümmern. Um das zu erledigen verließ er den Tisch. Doch das Gespräch war noch nicht vorbei. Korvin versuchte, weiter mit einem Ohr hinzuhören.

"Ich habe gehört, dass euer Nachbarort nicht umsonst Trackenstein heißt? Welche Geschichte steckt denn da dahinter? Ich bin schließlich immer auf der Suche nach guten Geschichten, ihr versteht?"

"Och, des Örtle soll noch ama Dracha benannt sei, der dort unterhalb vom Kaff gelebt hot. Des isch abr scho lang her", sagte der Bauer Tom gelangweilt. Fast jeder Vorbeikommende fragte danach. Für die Dörfler war das in der Tat schon langweilig. Immer die gleiche Geschichte. Korvin jedoch hielt in seiner Tätigkeit inne.

Ein Drache! Aber ja doch!

Das konnte es sein. Unbewusst tastete er mit einer Hand zu der herrenlosen Schuppe in seiner Tasche. Sie könnte zu einem Drachen gehören! Auch die Spuren auf Daras Flanke könnten dazu passen. Aber hatten Drachen auch schwarzes Blut? Möglich wäre es durchaus. All die Jahre über lebte er nun schon in Tizimbach. Er kannte alle Sagen und Legenden, die man den kleinen Kindern im Dorf erzählte. Warum war er nicht schon eher darauf gekommen? Er kannte doch auch die Sage von dem Drachen! Er hätte sich ohrfeigen können, hier und jetzt. Doch das Gespräch ging weiter und Korvin lauschte nun noch angestrengter hin.

"Joa, aber den gibt's schon lang nich mehr. Wurde angeblich von nem Ritter totgemacht, der dann in den Kreuzzügen fiel."

"Aha. Also gibt’s den nicht mehr?"

Ein einheitliches Kopfschütteln kam als Antwort.

Ach ja, richtig. Der Drache war ja schon lange tot. Die Verzweiflung kam zurück. Vielleicht war die Schuppe ja nur zufällig dort gewesen und schon mehr als einhundert Jahre alt oder so. Vielleicht hatte er die ganze Zeit eine falsche Fährte verfolgt, kam es ihm.

Der Schankwirt rempelte ihn unsanft an.

"Nicht glotzen und Maulaffen feilhalten. Ich bezahl dich nur fürs Arbeiten, Korvin. Also los, mach schon." Korvin nickte und nahm den Ausschank wieder auf, den er in Gedanken versunken kurzfristig eingestellt hatte.

Nachdem sich die Gespräche in andere Richtungen bewegt hatten und die Spielleute fertig gegessen hatten, wurde es noch ein lustiger und geselliger Abend. Die Bude wurde voller und voller. Sie hielten ihr Versprechen und gaben eine kurze Vorstellung ihres Könnens zum Besten. Jedem Dorfbewohner war eine Abwechslung in diesen Tagen recht. Man hatte den Spielleuten sogar das Versprechen abgerungen, den morgigen Tag noch zu bleiben, damit auch die Frauen und Kinder ein wenig Abwechslung in der winterlichen Einöde genießen konnten, gegen Bares, verstand sich.

Irgendwie ließ ihn die Sache mit dem Drachen nicht mehr los, seit er sie gehört hatte. Korvin hatte seine Arbeit in der Schänke getan und lief durch die Nacht zurück nach Tizimbach.

Am nächsten Tag auf seinem Weg grübelte er und hatte keinen Blick für die Schönheit, die ihn umgab. Es war zwar kalt, aber der Frühling kündigte sich bereits in Form von herauslugenden Schneeglöckchen und Winterlingen an. Bald würden ganze Heere von Märzenbechern und Buschwindröschen den Waldboden überziehen.

Könnte es wirklich ein Drache sein, der hinter Mathildas Verschwinden steckte? Die Schuppe sprach dafür, auch wenn er nicht sicher war, ob sie nicht schon viel, viel älter war und eben nicht verrottete. Doch das konnte er sich kaum vorstellen. Das Teil war zwar hart wie die mehrfach gefaltete Klinge eines Schwerts, aber auch sie musste im Lauf der Jahre verderben, wie alles, was die Natur hergab. Deshalb glaubte Korvin, dass sie nicht alt, sondern erst kürzlich dort in der Nähe des Findlings verloren gegangen war. Bei Mathildas Angriff. Denn den Dolch, der damals gefunden worden war, hatte Korvin nicht vergessen. Er hatte auch von mehreren Geschichtenerzählern gehört, dass Drachen ab und an Jungfrauen stahlen, um sie zu essen oder manchmal um sich mit ihnen zu paaren. Gab es denn keine Drachenbräute? Nun ja, auch egal, dachte Korvin. Da schieden sich die Geister sowieso voneinander, was jetzt stimmte. Vielleicht gab es Drachen gar nicht. Wenn es sie gab, waren diese Monster in den Erzählungen meist auf Gold und Silber aus. Vielleicht aber war tatsächlich ein Drache dafür verantwortlich.

Nur, wie konnte er seine Theorie bestätigen? Und wo lebte das Ungetüm? Er beschloss, sich in den Dörfern umzuhören, ob es nicht irgendwo einen Hinweis gab, der auf einen neuen Drachen in der Umgebung hindeutete.

Leider hatte das Umhören nichts gebracht. Jetzt war Korvin wieder am Anfang. Meist lachten ihn die Leute nur aus, wenn er danach gefragt hatte. Seine Eltern glaubten, er würde langsam den Verstand verlieren. Korvin war das egal. Er kannte sein Ziel. Dafür hatte er sogar das Bällemachen aufgegeben, was die Dorfjugend mit Bekümmerung feststellen musste. Seine mit Stoff überzogenen aufgeblasenen Schweinsblasen waren dort der Renner! Aber das störte ihn nicht. Er war so nah dran, dachte er. Denn die Zeit lief immerzu. Lange hielt Ulrichs Ultimatum nicht mehr. Gerade mal acht Wochen blieben ihm noch.

Aber gab es nicht doch noch eine Möglichkeit? Er erinnerte sich an das Gespräch im Wirtshaus zurück. Hatte man nicht von einem Kind gesprochen, welches verrückt geworden war? Wo wohnte es nochmal? Es fiel ihm wieder ein: Trackenstein. Er musste nach Trackenstein hoch und wenigstens versuchen, mit dem Jungen zu reden. Auch wenn die Chance gering war, etwas aus dem armen Tropf heraus zu bekommen. Aber er musste doch Mathilda finden!

Mathilda indes fand sich immer besser mit ihrem momentanen Schicksal zurecht. Sie hatte die Drachenhöhle komplett umgekrempelt, ganz zum Ärgernis Ragnor'roks. Aber das war ihr egal. Mittlerweile ging sie mit dem Drachen um wie mit einem alten Bekannten. Wenn ihr was nicht passte, tat sie dies lautstark kund. Er ebenfalls. Der Drache hatte mehr als einmal überlegt, ob es sinnvoll gewesen war, sich ausgerechnet ein menschliches Weib als Hort anzuschaffen. Aber dann, wenn er sie anblickte, wenn er die Gestirne in ihr sah, dann wusste er, dass es richtig gewesen war. Sie verkörperte sein tiefstes Begehr. Die Scheu vor ihm hatte sie immerhin schon verloren. Wenn sie nur endlich mal Zutrauen zu ihm zeigen würde... doch das war so gesehen noch in weiter Ferne, wenn es nach Mathilda ging. In gewisser Weise mochte sie den Drachen. Man arrangierte sich mit den Gegebenheiten, wenn sie nur lange genug auf einen einwirkten. Doch lieben würde sie ihn nie. Dieser Platz in ihrem Herzen war bereits von einem anderen besetzt, hatte sie festgestellt. Sie hätte es nicht geglaubt, wenn man ihr das vor der Entführung durch Ragnor'rok ins Gesicht gesagt hätte. Sie liebte Korvin, allem Widerstand und allen gessellschaftlichen Zwängen zum Trotz. Allen gesellschaftlichen Zwängen zum Trotz. Doch hier gab es diese Zwänge nicht, was Mathilda gut fand.

Nur, mit einem Drachen zu hausen war anstrengend. Das Drachenloch war im wahrsten Sinne des Wortes ein Dreckloch gewesen. Mathilda hatte einen Frühjahrsputz veranstaltet, der dem Drachen das Fürchten gelehrt hatte. Jetzt war es sauber.

Ragnor'rok knurrte beleidigt. Er hatte sein Loch so gemocht, wie es war. Aber was tat man als Drache nicht alles für seinen Hort und dessen Zufriedenheit! Mathilda hatte ihm die nach Fäulnis stinkenden Felle ins Maul gedrückt und sie von ihm entsorgen lassen. Er hatte neue anbringen müssen! Welche, die nicht rochen. War das zu glauben? Dazu hatte er eine ganze Gerberei im Schwarzwald plündern müssen. Das war aus seiner Sicht so drachenunwürdig gewesen. Zu seiner persönlichen Genugtuung hatte er das Gebäude danach mit seinem Feuerstrahl niedergebrannt, was wiederum drachenwürdig gewesen war. Einen Stuhl und einen Tisch hatte er ebenfalls anschleppen müssen. Und seit Neuestem musste er sich am Höhleneingang die Füße abwischen, bevor er eintrat. Einfach grauenhaft.

Doch er tat es ihr zuliebe. Er wollte nur, dass sie glücklich war. Mathilda wollte wenigstens halbwegs zivilisiert leben. Sie gab sich Mühe, Ragnor'rok zu domestizieren, was aber nur mäßig gelang. Ein Drache war stolz. Alles, was gegen seinen Stolz ging, war fast unmöglich. Auch eine Flucht. Er erlaubte ihr vieles, nur eben nicht, dass sie gehen durfte. Der magische Ring um das Drachenloch durfte nicht überschritten werden. Sie hielt sich daran, da sie einen tobenden Drachen doch immer noch fürchtete. Wenn er in Raserei verfiel, konnte er für nichts garantieren. Nicht einmal, dass er ihr etwas antat.

Steineid

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