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Prolog Gegenwart, November 2014

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Es war ein schöner, sonniger Spätnachmittag. Es war schon kühl und der Berghang mir gegenüber lag bereits im Schatten. Ich kam gerade von der Arbeit und mein Sportprogramm stand auf dem Plan.

Ich warf einen Blick auf die mitgebrachten Einkaufstüten während ich versuchte, einen Turnschuh im Stehen anzuziehen, was sich als gar nicht so einfach darstellte. Hopsender und unfreiwilliger Weise änderte ich meinen Standort in der Küche, bis der Schuh endlich an der richtigen Stelle war. Mein Kater, der gleichzeitig miauend versuchte, um das noch am Boden stehende, bzw. herumhüpfende Bein zu streichen, damit ich ihm endlich sein lang ersehntes und wohlverdientes Futter gab, erschwerte diese ganze Angelegenheit noch.

"Jetzt Morpheus! Mach dich vom Acker, bis ich... Aarg!" Weiter kam ich nicht, denn in dem Moment stolperte ich über das Katzentier, wirbelte nebenbei wild mit den Händen in der Luft herum, riss dabei die Einkaufstüte mit den Eiern vom Tisch und fing mich gerade noch so an der Küchenplatte ab, bevor ich eine unsanfte Landung auf dem Küchenboden hingelegt hätte. Die Eiertüte landete knirschend neben mir.

Das Resultat der Schleich-um-die-Beine-Aktion von Morpheus war ein zutiefst beleidigter Kater, der mich keines weiteren Blickes würdigend, fauchend aus der Küche abzog, weil ich ihn bei dem Versuch, das Gleichgewicht zu halten, getreten hatte. In der Küche blieb eine Packung mit kaputten Eiern zurück, die eigentlich für das morgige Mittagessen gedacht gewesen waren und eine fluchende Katzenbesitzerin, nämlich ich. Nach einer kleinen Putzaktion zog ich meinen zweiten Schuh vollends an, stöpselte mir beim Hinausgehen meine Kopfhörer in die Ohren und joggte los. Meine Jogging-Hausstrecke war der Maiweg, der sich am Berghang um meinen Wohnort, das Dorf Bad Ditzenbach, entlang schlängelte. Es lag am Fuße der schwäbischen Alb, mitten im oberen Filstal. Langsam aber stetig quälte ich mich den Schlossberg hinauf, auf dessen Plateau die Ruinen der Hiltenburg thronten. Es gab dort oben eine Grillstelle, die ich als Kind mit meinen Eltern oder auch an Wandertagen mit der Grundschule oft in Anspruch genommen hatte.

Als ich an eine Weggabelung kam entschied ich, heute nicht meine Hausstrecke zu joggen, sondern hoch auf die Hiltenburg zu laufen.

Ich schlug den steilen Weg zur Ruine ein, anstatt nach links die gemütliche, ebene Strecke zu laufen. Bald schon schwitzte ich trotz der Kühle, die der Abend brachte.

Das letzte Stück war unverschämt steil und der Schweiß drang mir aus allen Poren. Als der alte Teil eines Wachturms des nordöstlichen Vorwerks rechter Hand in Sicht kam, gab ich auf und lief den Rest gehend weiter.

Der Weg machte einen scharfen Knick nach links und ich folgte ihm bis zum Haupteingang der inneren Burganlage. Viel war nicht mehr übrig geblieben von der einst stattlichen Hiltenburg. Die Wehrmauern, ein paar Kellergewölbe und hie und da ein Mauerrest eines kleineren Gebäudes. Und natürlich die beiden Bergfriede. Eigentlich schade, dachte ich. Vor allem, da ich schon oft die Geschichte gelesen hatte, wie die Burg zerstört worden war. Angeblich durch einen dummen Zwischenfall.

Ich schüttelte leicht den Kopf und ging über das grüne dunkle Gras, das nun den ehemaligen Burghof besiedelte, geradewegs nach vorn, wo ein Holzzaun Schutz vor einem tiefen Sturz bot und zusätzlich eine Holzbank aufgestellt war. Ich setzte mich darauf und genoss den weiten Blick ins Tal hinab. Wie es wohl gewesen war, als die Burg ihre Blütezeit hatte? Als die Helfensteiner über diese Region geherrscht hatten?

10 Minuten später schreckte ich plötzlich aus meinen Gedanken auf. Während meiner Grübeleien hatte ich doch glatt die Zeit vergessen! Die Dämmerung hatte schon eingesetzt. Jetzt würde es zügig dunkel werden und ich sollte mich schleunigst auf die Socken machen, wenn ich nicht in der Nacht heimkehren wollte. Ich stand auf und trat den Rückweg an.

Ich entschied mich spontan für den kleinen Trampelpfad, der über dem eigentlichen breiten, geschotterten Weg verlief, weil er kürzer war. Außerdem lief man über weichen Waldboden. Anfangs ging es nur leicht bergab, dann fiel der Pfad stärker nach unten ab. Links und rechts des Pfades erhoben sich alte Bäume, die jetzt fast kahl im Zwielicht standen. Nur vereinzelt waren noch gelbe und braune Blätter an den Ästen. Der kalte Herbstwind würde auch diese Überbleibsel rasch fortwehen. Hie und da sah man umgestürzte Baumstümpfe mit der ganzen Wurzel daran oder auch abgesägte, vor sich hingammelnde Baumüberreste. Richtige Kuhlen im Waldboden waren zu sehen, wo die Wurzelballen einst im Boden gesteckt hatten. Verziert waren diese Gebilde durch lauter kleine Kalksteinchen, die sich zwischen dem Wurzelwerk festgesetzt hatten und die für diese Karstgegend so typisch waren.

Ich trottete also in gemächlichem Tempo vor mich hin, summte das Lied mit, das ich gerade hörte und sah dabei immer auf den schmalen Pfad vor mir, damit ich ja jeden Stein und jede Wurzel sah, die mir gefährlich werden konnten. Doch was ich nicht sah, war, dass sich mein rechter Schnürsenkel verselbstständigte...

Dieser dämliche, dünne Strick verhakte sich unglücklich an einem dünnen, aber durchaus fest im Boden verwachsenen Trieb. Da ich gerade mit dem linken Fuß in der Vorwärtsbewegung war, blieb ich prompt an dem gespannten Seilchen hängen. Ich fing mich noch halbwegs ab. Soweit so gut. Aber um mich ganz abzufangen, brauchte ich den rechten Fuß, den ich in einem Reflex nach vorne zog. Der festgehakte Schnürsenkel riss mit einem jämmerlichen Zingggg ab, ich knickte beim beschleunigten Aufkommen schmerzhaft mit dem rechten Fuß um, und... BÄÄÄÄM! - Eine Joggerin weniger auf dem Weg. Leider war ich diejenige welche...

Ich ruderte wild mit den Armen, der iPod flog dabei aus meiner Tasche, was mir in diesem Moment ziemlich egal war. Die Büsche am Abhang kamen unaufhaltsam auf mich zu. Mit einem Schmerzensschrei auf den Lippen wegen des umgeknickten Knöchels, dicht gefolgt von einem sehr lauten und hier zensierten Fluch stürzte ich den Waldhang hinunter. Ich versuchte noch, mich mit den Händen abzufangen, was auch zum Teil gelang, doch der Schwung, der in dem Sturz lag, trug mich zu schnell voran. Ich rollte ein paar Mal um die eigene Achse weg vom Pfad und purzelte durch die Blätter, bis mich eine hoch gewachsene, dicke Buche am weiteren Fallen hinderte. Dabei schlug ich mit dem Kopf an den Stamm des Baumes und mir wurde einen Moment schwarz vor Augen.


Als ich wieder zu mir kam, war es bereits dunkel. Mir taten alle Knochen weh, insbesondere der Kopf und der Knöchel des rechten Fußes. Rasende Kopfschmerzen hatten sich meiner bemächtigt, so dass ich kaum klar denken konnte. Mir war zusätzlich schlecht, was sich darin äußerte, dass ich einen Würgereiz gerade noch so unterdrücken konnte. Langsam tastete ich meinen Kopf ab. Als ich an die Stelle kam, wo ich Bekanntschaft mit dem Baum gemacht hatte, zuckte ich schmerzerfüllt zusammen. Eine dicke Beule war zu spüren. Und etwas Klebriges war in meinem Haar. Ich zog die Finger zurück. Ich wusste, auch ohne dass ich es sah, dass es sich um Blut handelte. Es roch danach.

Super... mir blieb auch nichts erspart...

Mir wurde erneut schlecht, und diesmal drehte ich mich weg und würgte. Dabei zog ein stechender Schmerz durch meinen rechten Knöchel und ich stöhnte gepeinigt auf. So eine Scheiße aber auch!

Ich war allein, weit und breit niemand, der mir helfen könnte.

Grandios.

Tränen stiegen mir in die Augen und ich fing an zu heulen, was mich zwar auch nicht weiter brachte, aber mir wenigstens ein wenig Erleichterung verschaffte.

Das Weinen wurde durch eine lodernde Wutwelle abgelöst. Wut auf mich selbst, Wut auf meine Tollpatschigkeit, Wut auf meine tolle Art und Weise, falsche Entscheidungen zu treffen. Wut auf den hässlichen kleinen Kobold in meinem Kopf, der mit einer Hacke herumlief und mich unablässig peinigte.

Nachdem ich also eine Weile wütend mit allem um mich herum gewesen war, kam die Selbstmitleidsphase.

Ich lachte bitter auf und zuckte sofort zusammen, als der kleine Kobold in meinem Kopf noch stärker zu hämmern anfing. Nebel zog langsam auf, normal für einen Novemberabend im Täle. Ich fing an zu frösteln. Die Joggingjacke und zugehörige Hose waren nicht gerade das wärmste, was man sich für eine Nacht im Freien aussuchen würde.

Entmutigt schnappte ich mir einen Stein und holte zum Wurf aus.

"Ich schwöre bei diesem verdammten Stein in meiner Hand, dass...“, begann ich und wollte den weißen Kalkstein gerade wütend von mir wegschleudern, als plötzlich eine Gestalt auf mich zukam, die Hand abwehrend von sich gestreckt hielt und mich in leisem, aber eindringlichem Ton ansprach.

"Ich würde an eurer Stelle auf nichts schwören, was ihr nachher bitter bereuen könntet", mahnte mich eine sanfte Frauenstimme.

Ich blinzelte.

Vor ein paar Sekunden war doch noch niemand hier gewesen, oder? Halluzinierte ich schon?

Ich ließ mein Wurfgeschoss mitsamt der Hand zurück auf den Boden sinken. Mehr als ein "Ähh", brachte ich nicht heraus und sah die junge Frau verwirrt an. Es handelte sich um eine Person im Alter von vielleicht 19 Jahren. Sie hatte unverschämt langes braunes Haar, das zum Teil kunstvoll in Zöpfen um ihren Kopf herumgeschlungen war. Unter einem Umhang trug sie ein wundervoll mitternachtsblaues, eng anliegendes Kleid aus einem schön anzusehenden, weich fließenden Stoff, welches am Rücken fest geschnürt wurde und so gar nicht der heutigen Mode entsprach.

Eine gold-silberne Borte umlief den Saum des Kleides und auch den des Umhangs darüber. Der Umhang selbst war so weit, dass er das Kleid fast vollständig verdeckte und ihn mit einer eleganten silbernen Brosche am Hals verschloss. Unauffällig kniff ich mich, ob ich vielleicht träumte. Das Mädchen blieb und kam näher. Sie blickte mich lange an, dann nahm sie ohne ein weiteres Wort zu sagen den Stein aus meiner Hand und legte ihn sanft neben mich ins Laub zurück.

"Lasst Vorsicht walten, es könnte euch sonst schlecht ergehen", meinte sie.

"Ich weiß nicht, was Sie meinen. Aber gut, dass Sie da sind. Ich brauche Hilfe, ich bin verletzt", jammerte ich plötzlich los. Sie nickte und beugte sich zu mir herab. Mit schnellen Fingern überprüfte sie meine Verletzungen. Als sie meinen Kopf berührte, musste ich unwillkürlich aufstöhnen und zuckte automatisch zurück.

"Ihr seid schwer verletzt. Aber keine Angst. Mein Geliebter wird Hilfe holen, sofern es ihm irgend möglich ist. Ich werde solange hier bei euch wachen, damit euch kein weiteres Leid geschieht", meinte sie mit unglaublich ruhiger Stimme und setzte sich neben mich ins Laub. Ich dachte nicht weiter darüber nach und nickte.

Böser Fehler.

Die Kopfschmerzen stachen wie ein Speer in mein Hirn und erschwerten mir das Denken und auch die korrekte Wahrnehmung meiner Umgebung. Die Unbekannte legte ihre Hand beruhigend auf meine Schulter und bedeutete mir, mich nicht anzustrengen. Der Schmerz ließ langsam wieder etwas nach.

"Bewegt euch nicht. Es wird alles gut werden. Das verspreche ich euch. Ihr müsst nur wach bleiben. Damit ihr nicht einschlaft, werde ich euch mit einer Geschichte unterhalten. Ihr müsst aufmerksam zuhören, versprecht ihr mir das?"

Ich nickte ganz sachte, wegen der Kopfschmerzen. Und bereute es sofort. Die junge Frau setzte sich neben mir zurecht und schob den Stein, den ich vorhin in der Hand gehalten hatte, noch ein kleines Stück weiter von uns beiden weg.

"Sie handelt von großer Liebe und bitterem Hass, von Recht und Unrecht, ewiger Treue und schrecklichem Verrat. Sie ist aus den Tagen, als die Burg über euch in ihrem vollen Glanze erstrahlte", sagte sie sanft. Dabei war ihre Stimme mit einem leicht bitteren Unterton versehen, der kaum herauszuhören war.

"Von der Hiltenburg? Ich würde sie sehr gerne hören", antwortete ich leise und neugierig.

"Nicht einschlafen", mahnte sie mich noch einmal. "Lauscht aufmerksam meinen Worten...“

Und dann begann sie, aus den alten Tagen dieser Gegend zu erzählen. Die Müdigkeit war mit einem Mal verflogen und ich hörte die ganze Nacht zu, was diese Fremde mir zu erzählen hatte...









Steineid

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