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Kapitel 1 Tizimbach am Dorfrand, anno 1414

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"Korvin! Kooorviiin! Verflixt, wo steckt denn der Junge nur schon wieder?", rief Alfrida, seine Mutter, ärgerlich. Dazu hatte sie ihre Hände zu einem Trichter geformt und damit in Richtung Waldrand gerufen.

Keine Antwort.

Der Junge war nun acht Jahre alt. Alt genug, um in der kleinen Sattlerei und Schneiderei der Familie seinen Teil beizutragen. Aber der Lümmel hatte nichts anderes im Kopf als Unfug zu treiben anstatt ordentlich zu arbeiten. Er trieb sich lieber in den Wäldern um die Hiltenburg herum oder spielte mit den Jungen aus dem Dorf Ball. Die Frau seufzte leise.

Vielleicht würde sie ihn ja dort finden.

Alfrida raffte resigniert ihre Röcke und drehte sich um, um an anderer Stelle nach dem Knaben zu suchen. Das würde sicherlich wieder Ärger mit seinem Vater geben, wenn sie ihn nicht innerhalb der nächsten halben Stunde fand.

Wo steckte der Bursche nur wieder?


Korvin indessen, der seine Mutter durchaus gehört hatte, aber keinerlei Anstalten machte, auf den Ruf zu reagieren, kicherte leise und streunte tiefer in den Wald hinein, damit er nicht vorzeitig gefunden wurde.

Noch hatte er Zeit. Noch war es nicht so weit, seine Zeit als Handlanger bei seinem Vater totzuschlagen. Es gab hier viel Interessanteres zu entdecken. Jedenfalls, wenn es nach ihm ging.

Sicherlich, er würde bald heimgehen müssen, bevor sein Fortbleiben richtigen Ärger verhieß. Korvin hatte es nämlich sehr gut heraus, die Grenze zwischen nur verbalem Ärger und körperlich spürbarem Schmerz gut abschätzen zu können. Er hatte noch ungefähr 20 Minuten. Und die würde er bis zuletzt für sich nutzen.

Leise vor sich hin pfeifend wanderte er etwas tiefer in den Wald hinein. Korvin kannte sich hier aus wie in seiner Westentasche. Nicht weit von hier gab es einen kleinen Bachlauf, den er nun ansteuerte. Ein kleiner Wildpfad schlängelte sich durch das Unterholz, welchem der Junge folgte, bis er an einer großen Fichte vorbei kam. Dann bog er links ab, quer durch das Gehölz und stiefelte bergan. Während seiner Tour warf er einen kleinen, mit Korn gefüllten Ball aus Stoff von der einen in die andere Hand und wieder zurück. Korvin hatte eine Vorliebe für Bälle. Sie waren einer der wenigen Gründe, warum er versuchte, nicht allzu spät zu seiner Arbeit zu gelangen. Wenn er mithalf, durfte er Stoff oder Lederreste, die übrig waren, am Ende des Tages einsammeln und für sich und seine Ideen verwenden. Dieser Ball war sein stolzer Besitz, der Erste, den er selbst geschneidert hatte und mit dem er auch hervorragend umzugehen wusste. Dementsprechend bunt zusammengewürfelt war sein Spielzeug auch, da es aus lauter Flicken bestand. Er konnte ihn nicht nur von einer Hand in die andere werfen, nein, oftmals setzte er dazu auch andere Körperteile wie Knie, Knöchel, Ellbogen oder auch den Kopf ein, um den Ball in Bewegung zu halten. Wenn man Korvin dabei zusah, sah es manchmal so aus, als ob der Ball wie eine lebendige Maus über ihn hinwegsauste.

Korvin konnte nun das Plätschern des Bächleins hören. Er warf gerade seinen bunten Ball wieder in die Höhe, als es im Gebüsch neben ihm knackte und krachte. Erschrocken riss er die Augen auf, doch ausweichen konnte er nicht mehr, als etwas, oder, wie er im Nachhinein feststellen musste, als jemand durch den Schlehdorn hindurchbrach und ihn schlichtweg umrannte. Er wurde unsanft von den Füßen geholt.


Korvin fiel auf seinen Hosenboden und sein Ball flog unaufgefangen an ihm vorbei. Er traf ein kleines Mädchen von vielleicht 5 Jahren, das in vollem Tempo versucht hatte, durch Korvin hindurch zu rennen. Heilloses Durcheinander war entstanden.

Zappelnd lag sie über seinen Beinen auf dem Rücken, das Haar wirr durcheinander, der Umhang halb um ihre Beine verschlungen. Sie kämpfte sich strampelnd und kratzend frei und rutschte von ihm halb herunter. Fluchend drückte er sie weiter von sich und zog einen Fuß nach dem anderen unter dem strampelnden Bündel über ihm hervor. Das Mädchen, das sich in der Zwischenzeit von ihrem Umhang befreit hatte, machte Anstalten, gleich weiter zu rennen, ohne ein Wort der Erklärung. Doch bevor sie verschwinden konnte, hielt er sie blitzschnell am Ärmel fest. Der Stoff straffte sich und das Kind stoppte abrupt.

"Halt, hiergeblieben du kleine Kröte, das hat gerade verdammt wehgetan!", fauchte er sie an, doch sie riss sich mit einem Ruck von ihm los und wollte sich gerade umdrehen, als er sie nochmals anrief und sie ein weiteres Mal einfing.

"He, hiergeblieben hab ich gesagt!"

Doch dafür kassierte er einen Tritt gegen sein Schienbein. Schmerz durchzuckte ihn. Seine Hände fuhren reflexartig an die Stelle, die das Mädchen soeben getroffen hatte. Das Kind entwand sich wie von selbst seinem Griff, als er das tat.

"Au verdammt, na warte, du kleines Gör, das zahl ich dir heim...!", schrie er, doch das Mädchen rannte bereits von ihm weg. Und Korvin rannte wie der Blitz hinterher, nachdem er seinen Ball gesucht und vom Boden aufgehoben hatte. Seinen Schatz konnte er nicht hier liegen lassen, auch wenn das hieß, dass die kleine Kröte einen kleinen Vorsprung bekam. Vermutlich hätte er ihn später nicht mehr gefunden. Naja, er war schließlich älter und schneller, dachte er grimmig und nahm mit der kurzen zeitlichen Verzögerung die Verfolgung auf.

Sie war schnell, das musste er ihr lassen. Aber er war schneller, stellte er zufrieden fest. Nach weiteren 3 Minuten Hetzjagd durch den Wald schrie er ihr hinterher:

"He du kleine Kröte, was machst du hier überhaupt so allein im Wald? Wissen denn das deine Eltern?", rief er, um sie zu provozieren. Vielleicht lenkte es sie ja vom Rennen ab und er konnte dadurch ein Stück aufholen. Und tatsächlich, es klappte. Jedoch nicht so, wie er ursprünglich gedacht hatte. Das Kind vor ihm rammte die Fersen in den Waldboden und drehte sich angriffslustig zu ihm um.

"Was weißt du denn schon von meinen Eltern? Ich bin immerhin schon 5! Und ich kann sehr gut alleine auf mich aufpassen. Du ja offensichtlich auch. Wissen das denn DEINE Eltern, dass du hier bist?", sagte sie frech zurück und stellte sich kerzengerade hin, damit sie noch ein wenig größer wirkte. Korvin bremste mit Mühe seinen Schwung ab und blieb vor ihr stehen. Sein Herz raste und schnaufend zog er Luft in seine Lungen. Seine Überraschung darüber, dass sie so plötzlich angehalten hatte, überspielte er mit Worten:

"Tatsächlich?", sagte er belustigt, und stellte sogleich klar, mit wem sie es zu tun hatte. "Ich bin immerhin drei Jahre älter als du und kenne mich hier bestens aus, was man von dir wohl nicht behaupten kann."

Die Kleine verschränkte die Arme vor der Brust.

"Angeber", postulierte sie schlicht.

Das Grinsen fiel ihm regelrecht aus dem Gesicht und Ärger machte sich in ihm breit. Korvin verschlug es fast die Sprache. So klein, und schon so aufmüpfig und frech. Er ballte die Hände zu Fäusten. Als er sich halbwegs wieder gefasst hatte, erwiderte er:

"Selber Angeber. Wer hat denn damit angefangen? Das warst ja wohl du!"

Anstatt einer verbalen Antwort streckte sie ihm kurzerhand die Zunge heraus, eine Beleidigung, die er so nicht auf sich sitzen lassen wollte. Dieses Gör hatte es faustdick hinter den Ohren und bettelte förmlich um eine Abreibung. Korvin knirschte mit den Zähnen. Die konnte sie gerne haben. Korvin spürte, wie er darüber errötete, was ihn nur wütender machte. Eigentlich prügelte er sich nicht mit Mädchen. Gerade als er sich auf sie stürzen wollte, machte sie einen kleinen Schritt zurück und stoppte ihn mit dem Satz:

"Rühr mich an, und ich schreie, so laut ich kann!"

"Und? Dich wird hier keiner hören, wenn ich dich übers Knie lege und dir den Hintern weichklopfe!"

"Glaubst du, ich hab Angst vor dir?? Versuchs doch mal", forderte sie ihn keck heraus und reckte das Kinn vor.

Aber etwas an ihr ließ ihn zögern. Die Kleine sagte das mit so viel Selbstvertrauen und Überzeugung in der Stimme, dass er ihr glaubte. Er musterte sie genauer. Vorhin bei der Verfolgung war ihm das gar nicht aufgefallen, doch jetzt... Ihre Kleidung entsprach nicht gerade der Gewandung der einfachen Dörfler. Sie trug kein grobes Tuch wie andere Kinder, die er so kannte. Ihr Kleid war von feinerer Webart. Auch ihr Umhang bestand nicht aus ungefärbter Wolle, sondern beides hielt sich in einem dunklen Grünton. Wenn man genau hinsah, konnte man um ihren Kopf sogar einen geflochtenen Haarkranz unter den vielen zerzausten blonden Strähnen und dem Laub erkennen, das sich darin verfangen hatte. Sie war hübsch, keine Frage. Aber unglaublich frech.

Dennoch konnte er sich gerade keinen Reim darauf machen, wer da vor ihm stand und ihn herausforderte.

"Du spuckst ganz schön große Töne für einen Zwerg.“

Langsam ging er auf sie zu. Sie plusterte sich wieder auf.

"Pass auf, was du sagst. Ich bin kein Zwerg, ich bin Mathilda von Helfenstein, nur, damit du's weißt! Und jetzt geh mir aus dem Weg, du stehst mir in der Sonne", schleuderte sie ihm trotzig entgegen. Korvin blies lautstark die Luft aus seinen Backen. Er zuckte kurz, dann sackten seine angespannten Schultern nach unten bei der Erwähnung des Namens. Urplötzlich passte alles Gesehene und Gehörte zusammen. Na super.

Fast hätte er die Tochter seines Leibherren verprügelt, was ihm sicherlich nicht gut bekommen wäre. Und zu allem Überfluss hatte ihn dieses Geplänkel wertvolle Zeit gekostet. Waren die 20 Minuten schon vorbei, die er zur Verfügung gehabt hatte? Sicher. Was sollte er nun also machen?

"Na Danke. Weißt du was? Verschwinde einfach. Ich hab schon viel zu viel Zeit mit dir verplempert. Ich muss los", brummte er, wischte sich eine blonde Haarsträhne aus den Augen und machte Anstalten, sich herumzudrehen und Mathilda von Helfenstein einfach im Wald stehen zu lassen. Er fing wieder an, mit seinem Flickenball zu spielen.

Das Mädchen selbst stand unschlüssig hinter ihm. Irgendwie hatte sie eine andere Reaktion von ihm erwartet, als dass er sie einfach hier stehen ließ. Außerdem hatte sie seine Gedanken ja nicht mitbekommen.

"Hey, lass mich nicht allein!", rief sie plötzlich.

"Warum? Du findest dich doch hier allein zurecht, hab ich gedacht?"

"Das schon, aber... naja, Ich bin nicht sehr oft hier. Und bevor ich geschnappt werde, will ich wenigstens ein Abenteuer erleben", nuschelte sie nun verlegen.

"Ach, so ist das also. Aber weißt du was? Nicht mein Problem." Mit diesen Worten ließ er sie endgültig stehen.

Nach drei, vier getanen Schritten Korvins erklang eine Stimme im Wald. Sie war noch fern, kam aber eindeutig in ihre Richtung näher.

Er durfte mit Mathilda nicht erwischt werden, das war klar. Und Mathilda wusste das auch. Sie gedachte durchaus, dieses Wissen auszunutzen, wie er feststellen musste.

"Wenn du jetzt gehst, schreie ich."

Wie bitte? Das konnte doch nicht ihr Ernst sein.

Korvin stoppte. Dieses kleine Miststück hatte ihn doch tatsächlich in ihrer Hand. Er hasste es, dass sie ihn so einfach erpressen konnte. Wenn er hier blieb, würde ihm daheim eine Ohrfeige sicher sein, das war gewiss. Ging er weiter, könnte er große Probleme kriegen, weil sie ihn einer Untat bezichtigte, die er gar nicht begangen hatte. Es war nicht gut, wenn ihn jemand von den Wachen der Burg hier direkt bei Mathilda antraf. Es schickte sich nicht, dass ein Junge von niederem Stand mit einem Mädchen von höherem Stand allein war. Und das wusste das kleine Gör ebenfalls. Aber wenn sie schrie, hätte er keine Chance. Auch wenn sie ihn zuerst über den Haufen gerannt hatte, bevor er sie verfolgt und gestellt hatte, würde er als Gemeiner dafür sicherlich büßen müssen. Sie nicht.

Dazu hatte er keine Lust. Er brummte unwillig und warf ihr einen giftigen Blick zu. In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft.

Was soll's, dachte Korvin. Zu spät war er sowieso schon. Ob er nun 10 Minuten oder eine Stunde zu spät kam machte den Braten auch nicht mehr fett.

"Was willst du überhaupt von mir? Und viel wichtiger, wie krieg ich dich je wieder los?"

"Oh, das ist ganz einfach. Zeig mir deinen Lieblingsplatz hier im Wald und danach bringst du mich einfach zu meiner Picknickstelle bei den Apfelbäumen zurück, von wo ich fortgelaufen bin", antwortete Mathilda mit unschuldigem Augenaufschlag und einem siegesgewissen Grinsen. Ihr Gegenüber seufzte, duckte sich aber noch mehr hinter die Büsche, als er in einiger Entfernung eine Bewegung im Wald sah. Jemand rief wiederholt nach dem Mädchen.

"Also gut", flüsterte er. "Wenn ich dich nur dadurch loswerden kann... dann komm mit. Erst mal bring ich uns von hier weg, bevor uns eine der Wachen schnappt", flüsterte er. Für Mathilda wäre das nicht schlimm, für ihn jedoch umso mehr.

Mathilda lächelte verschmitzt, wie wenn sie etwas wusste, von dem er nichts wusste. Aber sie schwieg und Korvin verdrängte diesen seltsamen belustigten Blick ihrerseits, mit dem sie ihn gerade bedachte.

"Super, dann mal los", gluckste sie fröhlich und klatschte voller Erwartungen die Hände.

"Schscht", machte Korvin und unterstrich sein Zischen mit einer Geste seiner Hand, damit sie leise war.

Mit einem Kopfnicken bedeutete er ihr, ihm zu folgen. Und sein Blick sagte ihr, dass sie dabei überaus leise sein sollte. Mathilda zog ihr Kleid bis über die Knie, damit es nicht über das Laub des Waldes schliff und durch ein Rascheln ihren Standort verriet. Es schien ihr ziemlich egal zu sein, ob das standesgemäß war oder nicht.

Korvin schlug einen großen Bogen um die suchende Person, die er erspäht hatte. Es war eine Frau, wie der vorige Ruf ihm schon verraten hatte. Aber das hieß nicht, dass die Dame allein hier unterwegs war. Irgendwo waren sicherlich auch Burgwachen am Suchen. Besorgt sah er sich um, entdeckte aber sonst niemanden. Korvin schlug einen Weg ein, der erst einmal weg von der Dame führte. Die Beiden huschten dabei von einem dicken Baumstamm zum nächsten.

Jede noch so kleine Deckung ausnutzend, entfernten sie sich immer mehr von ihrem vorigen Platz, wo der Sattlerjunge das kleine Burgfräulein gestellt hatte.


Korvin führte Mathilda quer durch das Unterholz des Waldes. Er wählte nicht gerade den einfachsten und leichtesten Weg, weil er Mathilda ärgern wollte. Doch das kleine Mädchen war taff. Weder murrte sie, noch jammerte sie diesbezüglich. Im Gegenteil, es schien ihr sogar zu gefallen, dachte er grimmig. Ab und an blieb sie mit ihrem Umgang oder dem Saum ihres Kleides in den Büschen hängen, die sie durchquerten. Dann befreite sie sich wortlos daraus und ging weiter hinter Korvin her. Ihre Kleidung jedoch litt beträchtlich. Während sie so gingen, stiegen, sich durch Gesträuch hindurch drückten, verflog Korvins Ungemach auf Mathilda immer mehr. Neugier machte sich stattdessen in ihm breit. Denn Mathilda war nicht wie die anderen Mädchen, die er so aus dem Dorf kannte. Die Mädchen dort waren... eben Mädchen. Der Junge konnte nicht genau sagen, was Mathilda von ihnen unterschied. Am Stand lag es sicherlich nicht. Es war vielmehr ihre lockere Art und Weise, die er mehr und mehr als angenehm empfand. Sie hatte keine Angst, jedenfalls nicht vor ihm oder dem Wald. Und auch ihre Spitzfindigkeit war irgendwie faszinierend.

Als sich der Junge sicher war, dass sie weit genug von den Suchenden entfernt und allein waren, führte er Mathilda zu einem riesigen Findlingsstein, der im Wald neben einem kleinen Bachlauf aufragte. Der Bachlauf hier unten war an dieser Stelle gemächlich, doch noch weiter oben stieg er steil an und floss aus dem Fels heraus über viele kleinere Kalkfelsen hinunter.

"So, jetzt haben wir eine Weile Ruhe, würde ich denken", sagte der Junge zufrieden. "Hier sind wir abseits von den Wegen. Die Sträucher sind dicht und durch das Wasser sehr zahlreich und der Bachlauf übertönt mit seinem Geplätscher unser Gerede."

"Klasse. Ich danke dir", antwortete Mathilda aufrichtig. Dann, nach einer Weile fügte Sie hinzu:

"Ist das dein Lieblingsplatz?"

"Jap." Korvin nickte. "Gefällt er dir?"

Mathilda sah sich um. Es war traumhaft, fand sie. Sie drehte sich dabei im Kreis, um die ganze Pracht dieses Ortes wahrzunehmen. Alles war so schön! Die kleinen weißen Blumen, die den Bachlauf ein Stück weiter unten säumten, der große Stein vor ihr, der an seinem Fuß mit Moos und kleinen Farnen überwachsen war. Das klare Wasser, das fröhlich vor sich hin gluckerte.

"Es ist... einfach... wunderbar hier", freute sie sich und lachte dabei. Mathilda suchte sich eine Sitzgelegenheit. Ein weiterer Stein, der eine Elle entfernt vom Bachufer lag, war ihr dann recht. Sie schlüpfte aus ihren Schuhen und ließ die nackten Füße ins Wasser gleiten. Während sie mit den Zehen im kühlen Nass planschte, versuchte sie, Korvin ihre Situation näher zu erklären.

"Weißt du, ich schaff‘s leider nicht allzu oft mich aus der Burg rauszuschleichen. Manchmal hab ich das Gefühl, etwas erdrückt mich. Es ist ganz schön anstrengend, die Tochter des Grafen zu sein, das kann ich dir sagen. Ich wünschte, ich könnte mit dir tauschen", sinnierte sie vor sich hin und ruderte mit den Füßen im Wasser hin und her.

"Glaub mir, das willst du nicht." Seine Antwort fiel etwas schroffer aus als ursprünglich geplant.

"Warum? Du bist frei zu tun, wozu du Lust hast. Ich will das auch können."

"Ganz so einfach ist es nicht, Mathilda. Ich bin ein Leibeigener. Weißt du, was das heißt? Ich erklär's dir: ich und meine ganze Familie gehören deinem Vater. Ich darf diese Region nicht ohne Erlaubnis verlassen. Tue ich es trotzdem, werde ich schwer bestraft. Meine Eltern müssen viel und schwer arbeiten, damit wir Geld haben, um uns Lebensmittel oder Stoff kaufen zu können.

Du dagegen... dir steht alles offen. Du hast Geld, schicke Kleidung und keine Sorge, wo du das nächste Abendessen herbekommst. Und du kannst reisen. An jeden großen Ort, egal, wohin du möchtest. An den Kaiserhof, wenn du das willst, zum Beispiel!" klärte er sie auf.

"Aber du bist doch frei. Hier! Du kannst machen, was du willst, hierher an deinen Lieblingsort gehen zum Beispiel, wann immer du willst! Ich dagegen... ich bin unfrei, irgendwie. Tu dies nicht, tu das nicht, das schickt sich nicht für ein Mädchen... verstehst du? Mach dich nicht schmutzig, drück dich gewählt aus...ich hab das so satt. Ich dürfte vermutlich nicht mal mit dir reden, geschweige denn allein hier mit dir sitzen ohne dass jemand dabei ist. Das ist doch alles Quatsch...“, fauchte sie verdrossen. Sie zog einen Fuß aus dem Wasser. Die Haut war gerötet, denn das Wasser war sehr kalt. Sie stützte das Kinn auf ihr Knie, bevor sie das Gespräch weiterführte.

Die beiden erwogen noch eine ganze Weile, wer von ihnen besser davonkam, doch auf einen gemeinsamen Konsens kamen sie dabei nicht.

"Jeder Stand hat seine Vor- und Nachteile. Einigen wir uns doch einfach darauf", versuchte es Korvin.

"Fein. Aber weißt du was? Lass uns doch die Vorteile beider Seiten nutzen", schlug die kleine Mathilda plötzlich vor und streckte sich.

"Und wie, bitte schön, soll das gehen?", fragte Korvin überrascht.

"Wir sind doch Freunde, oder?", fragte sie ihn im Gegenzug. Korvin nickte zögerlich. So Freunde, wie man eben sein konnte, wenn man sich seit knapp einer Stunde kannte, dachte er.

Doch für Mathilda schien diese Stunde schon wie eine kleine Ewigkeit. Sie rutschte aufgeregt hin und her.

"Lass uns was machen, was nur Freunde tun. Nur zwischen uns beiden. Das macht mein Vater auch immer mit den anderen, er nennt das ein Bündnis.

Aber unser Bündnis bleibt geheim, nur unter uns." Mathilda setzte sich aufrecht hin und sah Korvin mit einem feierlichen Gesichtsausdruck an. Vermutlich kopierte sie dabei den Gesichtsausdruck ihres Vaters. Und im Folgenden nahm sie sogar den Tonfall des Grafen an, so kam es Korvin jedenfalls vor.

"Ich verpflichte mich hiermit mein Leben lang und sofern es in meiner Macht steht, dir zu helfen, wann immer du mich brauchst. Außerdem werde ich versuchen, dich so oft wie möglich zu sehen. Schwörst du dasselbe?" Erwartungsvoll schaute sie ihm in die Augen. Sie wirkte dabei so verschwörerisch, dass Korvin unwillkürlich schmunzeln musste.

Der Junge überlegte kurz. Viel gab er darauf ja nicht. Denn vermutlich würde Mathilda ihn schon wieder vergessen haben, sobald sie durch die Tore der Hiltenburg schritt. Sie war ja erst 5. Also, was sollte man da auf einen solchen Schwur schon geben? Und so oft würden sie sich danach sicher nicht sehen. Dazu war er von zu niederer Herkunft.

Aber schaden konnte das Bündnis sicherlich auch nicht. Zumindest würde er dabei nichts verlieren. Es war sehr unwahrscheinlich, dass sie sich nach diesem Tag nochmal über den Weg laufen würden. Korvin öffnete den Mund und Worte, die das Mädchen verzückt aufjauchzen ließen, sprudelten daraus hervor.

"Also gut. Ich schwöre, dass ich dir helfe, solltest du mich ebenfalls brauchen." Mathilda klatschte vor Freude in ihre kleinen Hände.

"Fein, das ist toll! Jetzt sind wir miteinander verbündet! Aber mal so richtig.

Vergiss bloß nicht, das Bündnis ist unauflösbar", sagte sie voller Überzeugung und strahlte über das ganze Gesicht. Ihre Bäckchen hatten sich dabei vor Aufregung gerötet. Es sah süß aus, fand Korvin. Dann zog sie ihre Füße aus dem Wasser, schlüpfte wieder in ihre Schuhe und stand auf.

"Weißt du was? Ich mag dich." Dabei schlang Mathilda kurz die Arme um Korvins Bauch und drückte ihn an sich. Korvin war peinlich berührt. Außer seiner kleinen Schwester hatte das noch kein Mädchen getan. Und die kleine Evi war gerade mal 3 Jahre alt.

"Aber jetzt lass uns gehen. Tante Lisbet wird sicher bald aufhören zu suchen, und dann sollte ich wieder bei den Apfelbäumen sein."

Schon stapfte sie los. Korvin hielt sie mit einem Griff an den Arm auf.

"Zur Apfelwiese geht's da lang."

Er deutete in die andere Richtung. Anscheinend kannte sich das Mädchen hier überhaupt nicht aus, auch wenn sie etwas anderes behauptet hatte.

"Oh, okay. Dann...geh du eben voran", meinte sie keck und überspielte geschickt ihre Unwissenheit.

Der Junge schüttelte nur den Kopf und seufzte leise. Niedlich war sie ja, aber er wurde einfach nicht aus ihr schlau. Er stapfte voran. Mathilda folgte ihm dichtauf, wieder mit dem Kleid bis über die Knie gezogen.

"Wer sucht dich denn überhaupt alles? Nur damit ich weiß, wie sehr ich aufpassen muss, dass wir niemandem Ungebetenen in die Arme laufen", fragte er auf einmal einer Eingebung folgend.

"Oh, nur Tante Lisbet, meine Amme."

Korvin bekam große Augen.

"Niemand sonst?"

"Nein, niemand sonst. Warum?", bestätigte sie leise flüsternd und sah ihn unschuldig an.

"Ach, nur so."

Korvin begann plötzlich zu lachen. Nur ihre Amme! Und er hatte gedacht, dass mindestens noch drei oder vier der Burgwachen nach ihr suchten, wenn nicht sogar die halbe Burgbesatzung! Sie hatte ihn ganz schön aufs Kreuz gelegt! -schon wieder. Das kleine Ding hatte echt Nerven und war mehr als gewieft. Das würde keiner dieser unschuldig dreinblickenden 5-Jährigen zutrauen. Aber irgendwie konnte er Mathilda auch nicht mehr böse sein, seit er eine Weile mit ihr da am Bach gesessen und sie miteinander geredet hatten.

Als Korvin außer dem Lachanfall nichts weiter sagte, versuchte Mathilda sich zu erklären:

"Weißt du, wenn herauskommt, dass sie mich verloren hat, dann kriegt sie den Ärger. Also... sucht sie lieber selber nach mir, als dass sie die Wachmannschaft der Burg informiert, hihi. Außerdem...hättest du mich mitgenommen, wenn du gewusst hättest, dass nur Tante Lisbet nach mir sucht?"

Korvin verdrehte nur die Augen und stapfte weiter. Nein, natürlich hätte er das nicht, also schüttelte er den Kopf. Ganz schön clever, diese Mathilda. Ihre Tante hatte offensichtlich alle Hände voll zu tun, sie in Zaum zu halten. Lisbet war, wie Korvin erfuhr, nicht Mathildas leibliche Tante, sondern ihre einstige Amme und jetzt Kindsmagd. Sie nannte sie nur Tante, weil ihr das besser gefiel.

Aber irgendwie machte es ihm gar nichts mehr aus. im Gegenteil, sie war so gar nicht, wie er sich eine Adlige immer vorgestellt hatte. Er mochte sie und das sagte er ihr auch frei heraus ins Gesicht.

"Du bist... ich weiß nicht, was ich von dir halten soll. Aber ich mag dich auch."

Korvin duckte sich unter einem Ast hindurch, drückte einen anderen zur Seite, so dass ihm Mathilda ungehindert folgen konnte.

"Tatsächlich?" Sie kicherte verlegen und schlüpfte an ihm vorbei. "Das ist schön."

Der Junge ließ den Ast wieder los. Dieser schnellte zurück an seinen ursprünglichen Platz und Korvin übernahm wieder die Führung. Mathilda folgte ihm dicht auf.

"Du tust so, als ob das was Besonderes wäre."

"Ist es auch. Ich dachte, alle finden mich schrecklich, weil ich nicht auf sie horche. Aber wenn du mich so magst, dann magst du mich wirklich, so wie ich wirklich bin."

Korvin erwiderte nichts darauf. Sicherlich war es für Mathilda schwer, all die vielen Regeln einzuhalten, die ein Mädchen dieses Standes erfüllen musste. In seinen Augen hatte sie aber immer noch die bessere Lebensvariante erwischt. Immerhin musste sie nicht bis zum Umfallen arbeiten, nur um am Ende des Jahres doch hungernd in den Winter zu gehen.

Die beiden durchbrachen das Dickicht am Waldrand. Vor ihnen eröffnete sich ein weiter Blick ins Tal.

Mathilda hüpfte an Korvin vorüber, schlüpfte an einem Wachholderbusch vorbei in Richtung einer Obstwiese, welche sich an den kleinen Heidestreifen anschloss. Unter einem Apfelbaum lag eine Decke und ein Korb stand daneben. Korvin folgte ihr. Auf der Decke lagen zwei verlassene Handarbeiten. Eine Stickerei und ein Spitzendeckchen, das geklöppelt wurde und schon zur Hälfte fertig war.

Von Mathildas Kindsmagd war keine Spur zu sehen. Das Mädchen ließ sich auf die Decke plumpsen. Korvin stand daneben, unschlüssig, was er jetzt tun sollte.

"Und, welches der beiden Sachen ist deines?", fragte er, um seine Unsicherheit zu umgehen. Mathilda verzog das Gesicht.

"Das da", sagte sie abfällig und zeigte dabei auf die Stickarbeit.

"Das ist hübsch." Seine Worte sollten als ehrliches Kompliment gemeint sein. Er fand es wirklich hübsch. Aber Mathilda zog eine Schnute.

"Ja, vielleicht. Aber langweilig." Mathilda hob es mit Verachtung in der Stimme auf und drehte es in ihrer Hand. Sie hasste Handarbeiten.

Korvin zuckte die Schultern, jede Arbeit, die man machen musste, war im Grunde für ein Kind langweilig. Apropos Arbeit...

In dem Moment hörte man einen leisen Ruf aus dem Wald. Tante Lisbet.

"Ich geh dann jetzt besser, hab noch zu tun", sagte er verlegen.

"Ja...“, murmelte Mathilda leise, legte die Stickerei wieder ab und sah Richtung Waldrand. Die Rufe kamen näher.

"Nun geh schon, bevor Tante Lisbet dich sieht."

Sie blickte traurig drein, neigte sich ihr kleines Abenteuer mit Korvins Weggang doch unweigerlich dem Ende zu.

"Genau." Korvin rieb sich die schwitzigen Hände an den Oberschenkeln ab. “Ja dann... leb wohl, Mathilda."

Automatisch zog er den kleinen Ball aus seiner Hosentasche, drehte sich um und ging. Doch irgendwie fehlte noch was. Er drehte sich wieder zu Mathilda hin, die ihm mit traurigem Blick immer noch nachsah.

"Hier." Er streckte die Hand aus und hielt ihr spontan den selbstgemachten Ball hin. "Schenke ich dir. Als Erinnerung."

Mathilda war sichtlich überrascht und griff zögernd nach dem dargebotenen Spielzeug.

"D-danke", stotterte sie verlegen, hatte sie damit doch gar nicht gerechnet.

"Ich... ich hab aber nichts für dich", antwortete sie unglücklich dreinschauend, weil sie sich für seine Geste gerne revanchiert hätte.

"Das macht nichts, Prinzessin", antwortete er mit einem Grinsen. Es stand ihm gut, fand sie. Wenn er grinste, dann hatte er so hübsche kleine Grübchen an den Wangen, das sah gut aus. Auch die blonden Haare, die ihm in kleinen Strähnchen ins Gesicht hingen, fand sie bezaubernd. Allerdings sagte sie das auf keinen Fall laut.

"Ich bin nicht...“, wollte sie protestieren, doch er unterbrach sie mit einem Funkeln in den Augen.

"Ich weiß. Aber es klingt so schön", schmunzelte er und drehte sich wieder um, und ging fort. Es wurde auch allerhöchste Zeit. Lisbets Rufe wurden immer lauter. Bald würde sie durch das Gebüsch hindurchtreten, und wenn er dann noch da war, wäre das sehr unangenehm für sie beide. Korvin hob zum Abschied noch einmal die Hand, dann stapfte er einfach los. Nach ein paar Metern rief ihm Mathilda unvorsichtig hinterher:

"Wie heißt du überhaupt?"

Er drehte sich nochmals um und legte die Hände zu einem Trichter zusammen.

"Korvin!"

Dann sah er eine Bewegung am Waldesrand und schlüpfte pfeilschnell hinter einen Apfelstamm, um nicht gesehen zu werden.

Korvin.

Das klang wundervoll. Sie schenkte ihm ein letztes Lächeln und drehte sie sich zum Wald hin um. Auch sie hatte bemerkt, dass jemand kam und schon ziemlich nahe war.

Im selben Moment trat eine kleine gedrungene Frau aus dem Gebüsch. Mathilda stand auf und eilte der Person entgegen, die sichtlich außer Atem war. So wie sie selbst Krach gemacht hatte und schnaufte, hatte die Frau Korvins letzten Ruf überhört. Oder? Hoffentlich.

"Tante Lisbet! Da seid ihr ja endlich! Wo wart ihr denn so lange?", rief sie freudig, die Amme ablenkend. Außerdem, dessen war sie überzeugt, war Angriff die beste Verteidigung in diesem Fall. Die Amme stemmte erbost die Hände in die Seiten, schnappte dabei nach Luft und antwortete säuerlich:

"Mathilda! Was heißt hier, wo ICH war? Die Frage müsste eher lauten, wo IHR die ganze Zeit gewesen seid?"

"Ja, aber ich war doch hier." Dabei deutete sie auf die Decke. "Ich hab auf euch gewartet. Schon eine ganze Weile."

"So, so." Lisbet stemmte die Hände in die Hüften. "Wenn ihr nicht verschwunden wäret, hätte ich euch doch gar nicht suchen müssen. Ihr wart plötzlich verschwunden, als ich mich einmal umgedreht hatte. Also?" Die Frau wartete auf eine Erklärung. Und Mathilda würde ihr eine passende geben. Sie tat unschuldig bestürzt, mit einem unauffälligen Seitenblick zu dem Baum, hinter dem Korvin sich versteckte.

"Aber... ich war doch HIER. Die ganze Zeit, nachdem ich kurz im Wald war, um auszutreten", erklärte sie voller Überzeugung, setzte sich auf die Decke zurück und klopfte zur Untermauerung ihrer Worte mit den Händen darauf.

"Wenn das so war, warum habt ihr dann nicht auf meine Rufe reagiert, als ich euren Namen geschrien habe?" Die Frau kam zu der Decke und setzte sich ebenfalls. Ihre Suche war anstrengend gewesen.

"Ach, nachdem ich damit fertig war, habe ich einen Kaninchenbau entdeckt. Eines davon war draußen. Es hat so nett seine Nase und die Ohren bewegt, Tante Lisbet." Mathilda versuchte zu zeigen, wie das Kaninchen dabei ausgesehen hatte. Mit den Händen bildete sie die Hasenohren nach, den Mund zog sie dabei zu einer Hasenschnute zusammen.

"Hätte ich geantwortet, hätte ich es damit verjagt. Und ich wollte es doch so gerne beobachten. Es war so süß! Soll ich euch den Bau zeigen? Vielleicht ist es ja noch da?", fragte sie aufgeregt. Die kleine Flunkerei kam ihr ziemlich locker über die Lippen, ohne dass es als solche auffiel. Den Kaninchenbau gab es tatsächlich, sonst hätte sie nicht vorgeschlagen, ihn Tante Lisbet zu zeigen. Allerdings hatte sie dort nichts beobachtet, als sie leise daran vorbei gehuscht war, um allein durch den Wald zu stromern.

Lisbet machte ein skeptisches Gesicht dabei. Sie war noch nicht fertig.

"Und woher hast du das da?" Sie zeigte auf den kleinen, handgroßen Ball in Mathildas Hand.

Mist. Den hatte sie ja ganz vergessen! Verflixt. Aber auch dafür fiel ihr spontan eine Ausrede ein.

"Ach den? Den hab ich gefunden. Da drüben." Sie zeigte in südliche Richtung. "Hübsch, nicht? Den hat wohl jemand verloren. Er gefällt mir, also nehme ich ihn mit", und mit diesen Worten schob sie ihn in die Tasche ihres Kleides.

Als das Kind geendet hatte, verdrehte Lisbet die Augen.

"Natürlich... Das kann doch nicht wahr sein! Ein Kaninchen! Ein herrenloser Ball", zählte die Kindsmagd Mathildas Ausreden auf. "Und das soll ich nun glauben?" Eine kurze Pause entstand, in der Lisbet das kleine Mädchen eingehend musterte. Mathilda schenkte ihr den unschuldigsten Blick, den sie auf Lager hatte.

"Also gut", seufzte sie. "Aber ihr sollt doch nicht allein herumgehen, das gehört sich für eine junge Dame wie ihr es seid nicht. Das nächste Mal gebt ihr mir Bescheid, wenn ihr austreten müsst“, mahnte sie ihren Schützling.

Sie musterte Mathilda immer noch von oben bis unten. Das zerzauste Haar, die Ästchen in Mathildas Umgang und die kleinen Risse in ihrem Kleid entlang des Saums entgingen der Amme keineswegs. Außerdem hatte sie vorhin etwas gehört, kurz bevor sie den Wald verlassen hatte, es jedoch nicht recht verstanden, da sie im Grunde nur sich selbst so laut atmen und ihren trommelnden Herzschlag gehört hatte. Es hatte wie ein Name geklungen. Nur, dass sie keine Person gesehen hatte, obwohl sie sich umgeschaut hatte. Sollte sie Mathilda darauf ansprechen?

Nein. Die Antwort auf die unausgesprochene Frage wollte Lisbet erst gar nicht hören, daher fragte sie nicht und sagte auch sonst nichts weiter. Konnte sie doch Mathilda ihre Lüge nicht nachweisen. Das Mädchen fand für alles eine Erklärung.

Lisbet war eine gutherzige Frau. Auch sie verzieh, genau wie Mathildas Vater, der Kleinen viele Dinge, die sie aus Übermut, Neugier und Wissensdrang anstellte. Mathilda war schließlich noch ein Kind. Und Kinder waren nun mal so. Sie blies die Luft langsam aus ihren Lungen und seufzte tief. Mathilda war nicht einfach. Aber sie liebte dieses Kind wie ihr eigenes.

"Sei es wie es sei, Mathilda. Kommt her, ich richte euch euer Haar, bevor wir wieder zur Burg gehen. Ihr seht aus, als ob ihr euch im Laub gewälzt hättet, anstatt Kaninchen zu beobachten."

Mathilda grinste. Lisbet glaubte ihr zwar nicht hundertprozentig, doch sie beließ es somit bei ihrer Erklärung. Mathilda blickte während der Prozedur wieder zu Korvins Versteck. War er überhaupt noch da? Sie war sich nicht sicher. Gerne hätte sie ihn noch ein letztes Mal gesehen.

Nachdem Lisbet dem Kind das Haar wieder ordentlich geflochten hatte, legten die beiden die Handarbeiten in den Korb zurück. Mathilda tat es ganz unauffällig, damit nicht auffiel, dass ihre Stickarbeit noch auf demselben Stand war wie vor der Suche. Auch faltete sie daraufhin die Decke zusammen, auf der sie gesessen hatten und legte sie darüber.

"Kommt, Mathilda. Man erwartet uns sicherlich schon."

Lisbet griff nach dem Korb und nahm Mathilda an die Hand.

Das Mädchen trottete daraufhin artig neben der Kindsmagd her in Richtung Hiltenburg.

Korvin indes hatte von der Unterhaltung der beiden nichts mitbekommen. Dafür war sein Versteck zu weit entfernt gewesen. Aber weglaufen konnte er auch nicht, sonst würde er gesehen werden. Also hatte er gewartet und immer wieder vorsichtig hinter dem Baumstamm hervorgelugt. Als die Beiden den Rückweg zur Burg antraten, kam er hinter dem Apfelbaum hervor und winkte Mathilda ein letztes Mal zu, als sie sich einmal kurz nach ihm umdrehte.

Dann machte auch er sich auf die Socken um nach Hause zu kommen. Er eilte den Hang hinunter, schlug einen Bogen und gelangte so auf den festgetretenen erdigen Weg, der vom Albabstieg her direkt in sein Dorf führte.

Korvin hatte die erwartete Standpauke für sein zu spätes Erscheinen stoisch über sich ergehen lassen. Im Anschluss daran musste er die fertigen und bestellten Waren noch am selben Abend in Tizimbach und Umgebung bis spät in die Nacht hinein ausliefern und verzichtete dadurch zwangsweise auf das gemeinsame Abendessen. Er ging an diesem Abend hungrig ins Bett.

Trotzdem hatte sich der Tag für ihn gelohnt, fand er.

Steineid

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