Читать книгу Steineid - Stefanie Wenz - Страница 12
Kapitel 8 Oberbergfels, am selben Tag, Anfang November anno 1427
ОглавлениеRagnor'rok lag auf der Lauer. Wieder einmal, wie so oft. Der Tag war trüb und neblig. Eigentlich sollte es heute nicht sonderlich spannend werden. Bei dem Wetter war sowieso nichts los um die Hiltenburg. Aber was sollte er denn sonst tun? In seiner Höhle liegen? Da konnte er genauso gut hier herumliegen, hier, unterhalb des Oberbergfelsens und seiner Lieblingsbeschäftigung der vergangenen 3 Jahre nachgehen. Warten. Lauern. Auskundschaften. Faul sein in gewissem Sinne. Vielleicht würde er heute Mathilda sehen.
Ma-thil-da.
Sein Hort, sein Schatz, den er gedachte, sich bald einzuverleiben. Langsam wurde er unruhig, je länger es andauerte, seinen Instinkt zu unterdrücken. Sie sich einfach zu holen. Egal, wer ihn dabei zu sehen bekam, egal, wie viele er dafür töten müsste. Die letzten drei Jahre waren kaum auszuhalten gewesen. Aber er musste Geduld haben. Seine Zeit würde kommen...
Und sie kam eher, als er es sich je erträumt hatte. Nämlich jetzt.
Mehrere Schreie auf der Burg gegenüber erregten seine Aufmerksamkeit. Ragnor'rok hob den massigen Kopf an, um besser spähen zu können. Leider verdeckte der Nebel die Burg und deren Umgebung. Um ihn selbst waberten die feuchten Schwaden ebenfalls. Aber ein Drache hatte mehrere Sinnesorgane, die er einsetzen konnte. Er war auf seine scharfen Augen nicht angewiesen. Ohren besaß er schließlich auch noch. Und eine feine Nase.
Immerhin stimmte die Windrichtung, nicht umsonst hatte er sich diesen Platz für sich ausgesucht.
Der Lindwurm schnupperte. Viele Eindrücke eroberten dabei sein empfindliches Geruchsorgan. Wachholder, Laub, ein paar Herbstblumen und Kräuter aus der direkten Umgebung. Unwichtig. Er blendete sie aus und konzentrierte sich auf die Ferne. Noch mehr Gerüche drangen von dort in seine Nase. Es waren nur Nuancen, nichts intensives. Er sortierte sie aus. Eines, nach dem anderen, wie er es gerade schon getan hatte. Heu. Feuer, vermischt mit etwas, das nach gekochtem Gemüse roch. Menschen und deren Exkremente und Ausdünstungen. Ragnor'rok verzog sein Antlitz zu einer Grimasse. Na lecker. Er schnüffelte weiter. Getier. Schafe, Kühe und sowas.
Doch dann geriet der Drache in helle Verzückung. Unter anderem war da, zwischen Kuhdung und Ochsengestank... da war doch darunter... SIE. SIE war da. Er roch es jetzt ganz deutlich. Vorher konnte er es kaum von den anderen Gerüchen unterscheiden, doch jetzt... Wie eine Droge sog er die Luft gierig in seine Nüstern. Der Geruch wurde deutlicher und kam näher. Zusätzlich roch er die schwachen Ausdünstungen eines Pferdes, welches sich mit IHREM Geruch vermischte. Was auch immer der Gestank nach Mist zusätzlich zu bedeuten hatte, er ignorierte es. Sie ritt von der Burg!
Allein, wie er zufrieden feststellte, als er weiter schnüffelnd die Luft einsog.
Ragnor'rok erhob sich geschmeidig. Nun war seine Zeit gekommen. Nun würde er aktiv werden. Endlich!
Und so begann auch er sich in die Richtung ihres Duftes zu bewegen und verließ seinen bisherigen Ruheplatz.
Kochend vor Wut über die Umstände, die über sie hereingebrochen waren, trieb Mathilda ihre Stute Dara die Wiesen des Schlossbergs hinunter, um möglichst großen Abstand zur Hiltenburg und ihrer Familie zu gewinnen. Der Nebel, der sich um die Bergspitze ballte, war von Vorteil, um nicht gesehen zu werden.
Gut so, dachte sie. Sie wollte nämlich niemanden um sich haben. Gar keinen. Sie war ziemlich wütend, vor allem auf ihren Vater. Wie konnte er ihr nur so etwas antun? Spanien! Und das nur, um mit dem Geld ihres Ehemanns seine doofe Grafschaft zu vergrößern! Das war einfach nur fürchterlich, fand sie.
Die junge Frau lenkte ihr Reittier in den an die Wiesen grenzenden Laubwald hinein. Dabei vermied sie den eigentlichen Weg. Wie von selbst schlug sie die Richtung zu ihrem Lieblingsplatz ein, um in Ruhe über alles nachdenken zu können. Was sie zum Beispiel nun tun sollte. Das alles einfach akzeptieren und sich in ihr Schicksal fügen? Keine gute Vorstellung, fand Mathilda. Es musste einen anderen Weg geben. Es musste einfach!
Daras Hufe raschelten leise durch das Laub. Mathilda hatte das Pferd in einen langsamen Tritt fallen lassen, damit es nicht noch über herumliegendes totes Holz stolperte.
Bald darauf konnten die beiden schon ein leises Gurgeln hören, das von dem kleinen Waldbach stammte, auf den sie zuhielt.
Als sie angekommen waren, der Findling ragte wie üblich starr in die Höhe, stieg Mathilda von Daras Rücken und band das Tier mit den Zügeln an einem Baum fest. Das Plätzchen war einfach genial, fand das Mädchen. Von den wenigen Wegen war es nicht einzusehen, und trotzdem war es durch Wildwechselwege gut erreichbar, auch mit der großen Dara unter sich. Büsche und Farne tarnten die kleine Lichtung zusätzlich. Kurz, ein Ort, an dem man seine Ruhe hatte. Genau das, was Mathilda jetzt brauchte.
Sie setzte sich auf einen Stein und bohrte mit den Fingern im umliegenden Moos herum. Stießen ihre Finger dabei auf einen Kiesel, so puhlte sie ihn aus dem Erdreich und warf ihn ins Wasser. Dann beobachtete sie die dabei entstehenden kreisförmigen Linien, die mit der Zeit ans Ufer zurückschwappten. Das Leben war so ungerecht! Niemand verstand sie. Niemand. Niemand, außer... außer Korvin, fiel ihr spontan ein. Ja, Korvin war wohl der Einzige, der sie überhaupt verstand. Und der sie einfach so akzeptierte, wie sie war. Der Junge, der sie einst verprügeln wollte, als sie ihn über den Haufen gerannt hatte und besonders frech zu ihm gewesen war. Mathilda musste bei dem Gedanken daran schmunzeln. Vor allem, als sie sich sein Gesicht ins Gedächtnis rief, als er erfahren hatte, wer sie war. Ihre kleinen Wortgefechte. Ihre gegenseitigen Kleinigkeiten, die sie hier an diesem Ort untereinander ausgetauscht hatten. In diesem Augenblick ging ihr auf, dass sie sich vielleicht doch verliebt hatte. Dass sie schon lange heimlich in ihn verliebt war, aber es der Einfachheit halber geleugnet oder abgestritten hatte. Oder nicht hatte wahrhaben wollen, weil der Gedanke daran zu sehr schmerzen würde. Vor allem, weil ihr bewusst war, dass es keine Zukunft hatte. Das war ja genau das, was ihr alle anderen einreden wollten! Könnte sie doch nur ausbrechen aus dem ganzen Adelsgehabe und mit Korvin fortgehen. Aber das ging ja nicht. Korvin war nicht frei. Genauso wenig wie sie. Nur, wie sie einst schon festgestellt hatten, auf zwei unterschiedliche Arten.
Außerdem... Wer sagte, dass Korvin genauso empfand? Sicher nicht. Vermutlich hielt er sie nur für irgendein Mädchen, dem er nicht weiter Beachtung schenkte. Nicht mehr, als anderen.
Mathilda wischte sich eine Träne weg, griff in ihre Manteltasche und beförderte den kleinen Ball daraus ans Tageslicht hervor, der darin geruht hatte. Korvins erstes Geschenk an sie. Die Farben waren schon etwas verblasst. Hie und da hatte sie das Spielzeug schon reparieren müssen, weil über die Jahre hinweg an einigen Stellen die Nähte aufgebrochen waren. Trotzdem konnte sie sich nicht davon trennen, es war ihr lieb und teuer. Wenn sie ihn in der Hand hielt, war es für sie, wie wenn Korvin hier bei ihr wäre. Sie drückte ihn leicht. Langsam verflog ihr Ärger und sie konnte wieder klarer denken. Aber eine Lösung fand sie vorerst nicht.
Ein Geräusch ließ sie aufhorchen. Ihre Stute Dara spitzte plötzlich die Ohren und scharrte mit den Hufen im Laub. Dann legte sie die Ohren flach nach hinten und schnupperte nervös. Mathilda beobachtete sie dabei. Ein flaues Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit.
Irgendetwas stimmte nicht. Hatten die Wachen sie so schnell gefunden und schleppten sie zurück in die Hiltenburg zu ihrem Vater? Möglich, dachte sie bitter. Mathilda sah weiter auf Dara. Das mulmige Gefühl verstärkte sich. Sie kam sich beobachtet vor. Mathilda sah sich suchend um.
Da war nichts.
Hatte sie sich geirrt? Vermutlich. Musste wohl so sein, denn sie sah nichts Auffälliges.
Aber da war immer noch die nervöse Dara. Tiere waren bekanntlich empfindsamer in diesen Dingen als Menschen. Mathilda stand auf und ging zu ihrem Reittier hinüber. Sorgsam strich sie über ihre Mähne.
"Dara! Ruhig meine Kleine, hier ist doch nichts", versuchte sie die Stute und damit auch sich selbst im Flüsterton zu beruhigen, doch es gelang ihr nicht. Nicht mal bei sich selbst.
Dann, auf einmal, begann Dara langsam rückwärts zu gehen, wie wenn etwas, das ihr nicht geheuer war, auf sie zukam. Doch die festgebundenen Zügel spannten sich bis zum Zerreißen an und hinderten sie daran. Ängstlich wieherte das Pferd auf, begann sich plötzlich panisch aufzubäumen und kämpfte gegen seine Fessel an. Die junge Frau daneben brachte sich mit ein paar Schritten in Sicherheit, bevor Dara sie mit ihren Vorderhufen verletzen konnte. Sie wollte etwas sagen, doch ein Geräusch hinter ihr ließ sie inne halten. Ein tiefes Grollen war zu hören gewesen.
Mathilda hörte es wieder. Diesmal war es ein Stück näher. Viel näher. Ihr Kopf ruckte herum in die vermeintliche Richtung. Dann sah sie es. Oder besser gesagt, etwas. Die Luft flimmerte zwischen den Bäumen, es schien als ob der Wald persönlich auf sie zukommen würde. Die Konturen waren so verschwommen, dass Mathilda nicht recht erkennen konnte, was das war. So etwas hatte sie noch nie gesehen! Aber egal was es war, es war furchteinflößend. Sie musste hier weg! Auf der Stelle!
Sie hechtete zu Daras Zügeln und fummelte fieberhaft daran herum, um sie vom Baum zu lösen, ungeachtet der Hufe, die das Pferd in die Lüfte warf. Das Tier gebärdete sich nun wie toll. Mathilda versuchte, Dara vom Baumstamm los zu binden, doch durch die wilden, panischen Bewegungen des Pferdes gelang es ihr nicht auf Anhieb. Ein Blick über ihre Schulter ließ es Mathilda eiskalt über den Rücken schaudern. Dieses seltsame Ding war hier, hier gegenüber dem Bachlauf angekommen. Das Flimmern hatte aufgehört, stellte sie erschrocken fest. Die Konturen verfestigten sich langsam. Was sie dort einen Augenblick später auftauchen sah, jagte ihr Todesangst ein. Und dem Pferd hinter ihr ebenso.
Dunkle, schwarz-grau mit grünem Schimmer überdeckte Schuppen wurden sichtbar, ein riesiger, hässlicher Kopf mit Dornen daran kristallisierte sich aus der Umgebung heraus. Schwingen, die größer als alles waren, was sie in diesem Moment noch ersinnen konnte, dolchartige Zähne und scharfe Klauen blitzten auf, schärfer, als jedes ihr bekannte Schwert. Ein wildes Schnauben entrang sich der Kehle des... Drachen!
Mathilda war starr vor Schreck. Sie hatte es nicht für möglich gehalten, solch einem Tier jemals zu begegnen. Sie hatte die alten Erzählungen alle für Ammenmärchen abgetan. Drachen gab es doch nicht. Doch jetzt...
Erst, als das riesige Wesen einen Schritt vor und auf sie zuging, kam Bewegung in das Mädchen. Das leise Platsch, als die Klaue in das kleine Bächlein eintauchte, hörte sie in ihrer Panik nicht mehr. Sie warf sich herum und wollte zuerst fliehen. Doch die wildgewordene Dara versperrte ihr den Weg. Auf der anderen Seite war es der große Fels und der Bach, die eine Flucht verhinderten.
Sie drehte sich wieder um. Wenn sie schon sterben sollte, dann würde sie dem Tod wenigstens ins Auge blicken. Außerdem konnte sie Dara nicht alleine lassen.
Der Anblick war so scheußlich, fand sie. In diesem Moment kam ihr Korvins Ball wieder in den Sinn, den sie krampfhaft in der Hand hielt. Die Knöchel waren schon weiß vom Zudrücken. Er spendete ihr ein wenig Trost in diesem Moment, was Mathilda seltsam vorkam. Aber er erinnerte sie an etwas, das sie in der anderen Tasche mit sich herum trug. Wie von selbst glitt ihre Hand hinein und beförderte ein kleines Messer zutage, das sie von ihrem großen Bruder Ulrich einst zu ihrem Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Die Lederscheide, in der es ruhte, war mit einem Handgriff abgestreift. Sie hob abwehrend die Hand.
Ihr unheimliches Gegenüber betrachtete ihre Bemühungen amüsiert. Ragnor'rok fand es niedlich, dass Mathilda offensichtlich vorhatte, sich und ihre Stute mit diesem... diesem Zahnstocher zu verteidigen! Er lachte amüsiert, was sich für Mathilda wie ein Schlachtruf anhörte. Nicht einmal die langen scharfen Schwerter der Ritter konnten ihm normalerweise etwas antun, wenn sie nicht gerade auf seinen weicheren Bauch mit den kleineren Schuppen draufhielten, so wie der Letzte es einst getan hatte. An den großen Schuppen prallte selbst ein Zweihänder oder eine Axt einfach ab und wurde auf Dauer stumpf dabei.
Das lachende Grollen, das er zu Mathildas Verhöhnung dabei ausstieß, ließ sie ihre Hand fester um den Messergriff schließen. Dara indes war halb verrückt vor Angst. Wie wild zerrte die Stute an ihrer Fessel. Kein Wunder, denn ein Drache war der Inbegriff eines Todfeinds für sie.
Mathilda hatte alle Mühe aufzupassen, um nicht in Daras Umkreis zu kommen, wo die Stute sie niedertrampeln würde.
"Verschwinde! lass uns in Ruhe!", brüllte sie.
Doch der Drache tat nichts dergleichen. Im Gegenteil, er kam näher auf sie zu.
Ragnor'rok triumphierte.
Sein Schatz war zum Greifen nahe. Gleich würde er sie berühren...
Ragnor'rok hob eine Pranke und griff nach Mathilda aus. Diese schwenkte ihre lächerliche kleine Waffe und stieß nach vorn. Sie spürte einen harten Widerstand, dann glitt die Klinge ab und fand gleich darauf ein Ziel.
Ragnor'rok zuckte kurz zurück. Ungläubig betrachtete er die kleine Stichwunde, die Mathilda ihm an seinem Vorderlauf zugefügt hatte. Erstaunlich. Das Ding war so klein, dass es sich doch tatsächlich unter seine Schuppen schieben konnte. Eine war durch den Stoß abgebrochen. Das hatte er nicht bedacht. Diese Unachtsamkeit erhitzte sein Drachenblut und schaltete seinen Instinkt an. Der Schmerz war gering, doch ein Drache hasste es von Natur aus, verletzt zu werden. Denn in seinen Augen war er schließlich unverwundbar!
Lauthals brüllte er seine Verärgerung hinaus, spannte automatisch die Hinterläufe an und machte einen bedrohlichen Satz nach vorn. Dabei hob er die Pranke und holte zu einem Schlag aus.
Mathildas Augen weiteten sich. Ihr letztes Stündlein hatte geschlagen, dachte sie. Ausweichen würde sie diesem Schlag nicht können. Entsetzt schloss sie die Augen und erwartete den Tod, der unweigerlich gleich eintreten musste, da half ihr auch das kleine Messer in ihrer Hand nichts mehr. Sie ließ es achtlos fallen, ging in die Knie und versuchte, ihren Kopf mit den Armen zu schützen.
Die Drachenpranke sauste hinab. Ragnor'rok führte den Schlag mit voller Kraft. Erst im allerletzten Moment hielt ein Quäntchen Vernunft ihn davon ab, Mathilda aus einer Laune heraus einfach zu zerschmettern. Er konnte doch unmöglich seinen zukünftigen Hort töten! Der Drache lenkte seine Wut kurzerhand auf das Pferd. Die Stute sah den Schlag nun auf sich zukommen und ein unheimlicher Schrei entfuhr ihrer Kehle.
Dann, ein peitschenartiger Knall. Die Zügel hatten der Kraft des Pferdes nachgegeben und waren endlich gerissen. Die Stute warf sich herum und gab Fersengeld. Dann traf sie ein harter Schlag in die Flanke. Ein weiterer tierischer Aufschrei. Daras Hinterläufe knickten kurz ein, doch genauso schnell war sie wieder auf den Hufen und jagte in blinder Panik davon. Mathilda hörte nur noch das gedämpfte Trommeln der Hufe auf dem Waldboden. Dann kehrte plötzlich Ruhe ein.
Mathilda blinzelte. Sie... sie lebte noch!
Sie konnte es kaum glauben.
Warum war sie noch am Leben? Langsam hob sie den Blick. Wie ein großer schwarzgrüner Fels ragte der Drache vor ihr auf und betrachtete sie mit seinen mystischen, geschlitzten Augen, die so unendlich wie die Zeit selbst auf die verängstigte junge Frau herabsahen.
Sie lebte. Und der Drache war noch da und sah sie an. Keine weitere Bewegung, damit er nicht noch einmal zu einem Hieb ausholte. Und jetzt?
Ein Zittern durchfuhr Mathilda. Die Klauen vor ihren Augen senkten sich langsam. Drei davon waren an ihren Spitzen blutverschmiert. Daras Blut, dachte Mathilda bekümmert.
Nun demonstrierte Ragnor'rok seine überlegene Kraft vor dem Mädchen. Ein Brüllen erfüllte die Luft um sie herum. Es drang durch Mark und Bein. Der Drachenschwanz peitschte umher und traf den aufragenden Findling. Ein hässliches Knacken erfüllte die Luft, Steinchen flogen umher. Dann brach der Fels in der Mitte entzwei. Die obere Hälfte rutschte schabend über den unteren ab und bohrte sich knackend und krachend in den dunklen Waldboden hinein.
Zeitgleich schlossen sich die Klauen um Mathildas Leibesmitte. Vorsichtig, um sie nicht zu zerquetschen, wie sie feststellte. Der Drachenkopf rückte näher und beschnupperte Mathilda in Zeitlupe von Kopf bis Fuß. Sie roch nach Angst. Gut. Kuhmist. Weniger gut. Und darunter roch er... ihren ganz eigenen Geruch, der ihn so sehr betörte. Er sah dabei sehr andächtig aus.
Ragnor'rok war am Ziel und mehr als verzückt. Jetzt kostete er es auch aus. Mathilda kam sich in diesem Moment wie eine seltene Blume vor, die von einer Hummel auf Nektar begutachtet wurde. Zugegeben, einer Riesenhummel. Einer ziemlich hässlichen Riesenhummel. Einer hässlichen Riesenhummel mit rasiermesserscharfen Zähnen! Ihr wurde schlecht.
Panik ergriff Mathilda. Sie versuchte sich aus dem Drachengriff herauszuwinden, doch vergeblich. Er hielt sie eisern fest. Wandte er einen Deut mehr Kraft auf, wäre es aus und vorbei mit ihr. Mathilda hatte unglaubliche Angst. Schreckliche Angst. Es war so eng. Sie bekam keine Luft! Sie wollte um sich schlagen, doch das ging nicht. Ragnor'rok hielt sie fest umklammert, ihre Arme wurden an ihren Körper gepresst.
"Nun gehörst du endlich mir", murmelte der Drache sanft in ihr Ohr, was Mathilda gerade noch mitbekam, kurz bevor sie spürte, wie sie angehoben wurde. Ihre Gegenwehr erstarb. Kurz darauf lockerte sich der Griff um sie ein wenig, was Mathilda aber nicht mehr wirklich wahrnahm. Die Arme der Ohnmacht umschlangen die junge Frau. Die aufkommende Dunkelheit verschluckte Mathilda.