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Kapitel 11 Im Vilsthal, Jahreswechsel anno 1427/1428

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Ulrich hatte seinem Vater alles von der erfolglosen Suche erzählt. Inklusive, dass er den Sattlerssohn aus dem Dorf damit beauftragt hatte, nach Mathilda zu suchen. Allerdings verschwieg er seinem Vater, warum dieser Jemand nach ihr suchte. Friedrich dachte, Ulrich hätte diesem Geld angeboten. Dass dabei unchristliche Reden im Spiel waren und zusätzlich eine unausgesprochene Todesdrohung damit zusammen hing, das wusste der Graf nicht. Für ihn war diese Tatsache, dass gesucht wurde, ein kleiner Hoffnungsschimmer, fand Friedrich, der Mathilda abgöttisch liebte, obwohl sie nicht ganz so feines Benehmen hatte und doch eher Interessen wie ein Junge zeigte, als andere Mädchen von adligen Stand. Aber es war ihm egal. Das Geschwätz des einfachen Volkes wurde ihm bald lästig, so unterband er es. Immerhin ging es dabei um seine Tochter. Und dieses Gerede war eine glatte Lügerei.

Aber das konnten sie auch. Ein paar Wochen später ließ der Graf das Gerücht verbreiten, dass Mathilda gefunden worden war. Dass Sie vom Pferd gestürzt war und jemand von Türkheim sie gefunden und gepflegt hatte. Erst später hätte diese gute Seele mitbekommen, wo Mathilda hingehörte und die Grafen über ihren Verbleib informiert. Sie, Friedrich, Ulrich und der Burgvogt hatten daraufhin beschlossen, dass Mathilda durch den Sturz immer noch schwer krank sei und das Bett hüten müsse. Erst wenn es ihr wieder besser ging dürfe sie aufstehen und sich sehen lassen. Sollte sie nicht mehr auftauchen, konnte man einfach sagen, dass sie an den Folgen der Krankheit und des Sturzes gestorben sei. Was Daras Verletzungen anbetraf, so wurden Sie heruntergespielt und darauf geschoben, dass das Pferd in seinem Wahn an mehreren herausstehenden Ästen entlanggeschrammt war und sich dadurch die tiefen Verletzungen zugezogen hatte. Der geschwärzte Dolch verschwand unauffällig. Hans von Berlingen, der ihn auch gesehen hatte, wurde für sein Stillschweigen gut bezahlt.

So erschien alles in bester Ordnung.

Ulrich ließ Korvin jedoch wissen, dass es eine erdachte Lüge war, bevor er durch seinen Beruf als Reisiger wieder abberufen wurde und dass dieser keineswegs seine Suche abbrechen durfte. Im Gegenteil. Korvin geriet nun vermehrt unter Druck, Mathilda tatsächlich zu finden und zurückzubringen. Entweder lebendig, oder aber ihren Leichnam. Kein leichtes Unterfangen. Korvin bekam von dem Helfensteiner ungehinderten Zugang zur Burg mit der Auflage, nur ihm oder Ulrich direkt Bericht erstatten zu dürfen.

Ulrich war also wieder fort, schließlich war er momentan einem der süddeutschen Fürsten verpflichtet und musste seiner Arbeit wieder nachkommen. Auch Friedrich konnte nicht permanent auf der Hiltenburg verweilen, sondern musste seinen Geschäften nachgehen. Die Pflicht verlangte, dass er sich am kaiserlichen Hof sehen ließ.

Seiner Frau und seinen Kindern hatte er eingebläut, dass sie das üble Spiel besser mitspielten und sich nicht anmerken ließen, dass es nicht der Wahrheit entsprach. Sie taten es. Alles war besser als dass sich das Gerücht mit dem Teufel in der Bevölkerung festigte und die Familienehre dadurch irreparabel beschädigt wurde. Schließlich fürchteten sie um den guten Ruf des Helfensteiner Geschlechts.

Mathilda war mürrisch. Äußerst mürrisch. Es war tiefster Winter. Aussicht auf Rettung sah sie immer noch nicht. Sie war im Drachenloch und dessen Umgebung gefangen, wer weiß, wie lange dies ihr Schicksal sein würde. Bei dem Wetter allerdings hegte sie keine großen Ambitionen, die Höhle zu verlassen. Es war eisig draußen. Und sie hatte schlechte Laune. Ragnor'rok seufzte. Schon seit einer halben Stunde rannte Mathilda schimpfend durch das Drachenloch. Unleidige Weiber waren auch für einen Drachen schwer zu ertragen. Und warum? Wegen...

"Du dummer Riesenklops eines Feuerdrachen!", gab Mathilda von sich und blieb vor Ragnor'rok stehen. "Du hast mich entführt und dir nicht mal vorher Gedanken gemacht, wie das alles danach werden soll? Sieh mich doch mal an! Meine Kleidung ist vollkommen untauglich!" Dabei zupfte sie an dem Stoff, der sie umhüllte. Er sah mehr als verschlissen aus und stand vor Dreck. Ragnor'rok sah sie grummelig an. "Und nicht nur das", ging es weiter. "Ich bin noch nicht mal eine tolle Näherin, um aus dem was Brauchbares zu schneidern, was du mir ständig anschleppst! Tolle Stoffe, ja, aber ich habe nicht mal eine vernünftige Nadel, geschweige denn einen Faden um was draus zu fummeln", schimpfte sie weiter und stemmte die Arme angriffslustig in die Hüften. Die anfängliche Scheu und Angst vor Ragnor’rok hatte sie mit der Zeit verloren.

"Und was glaubst du, soll ich bitteschön dagegen tun? Eine Näherin fressen und dir ihre Sachen bringen?", antwortete er mit gereizter grollender Stimme. Mathilda lachte bitter auf.

"DAS wäre schon mal ein Anfang. Aber Nein. Ich will nicht, dass du Leute frisst. Und es ändert auch nichts daran, dass ich nicht nähen kann! Ich bin eine Grafentochter, ich muss sowas nicht können. Mann, ich hab das Sticken schon gehasst", grollte Sie weiter. Nach einer kleinen Pause änderte sie ihre Haltung und streckte ihm einen Finger entgegen.

"Ah, dafür übrigens danke, dass ich das nicht mehr tun muss", fügte sie in Bezug auf das Sticken noch an. Sie drehte sich um neunzig Grad und tigerte quer durch die Höhle. Ragnor'rok grinste. Es sah bedrohlich aus. Aber Mathilda hatte diese Geste schon mehrmals gesehen.

"Gut. Dann raube ich dir eben Kleider. Eine Wäscheleine finde ich irgendwo sicherlich. Sie werden allerdings nicht so hübsch sein, wie deine alten. eher... bäuerlich."

"Hmpf", grummelte sie ob dieser Vorstellung. " Aber das ist noch lange nicht alles, Drache!", fing sie wieder an.

"Ragnor'rok. Zum hundertsten Mal, mein Name ist Ragnor'rok, nicht Drache!", fauchte er zurück. Sein Zorn war jedoch nur noch gespielt. Ihm gefiel Mathildas Temperament. Sie war so... unverblümt. Um nicht zu sagen hübsch, wenn sie so sauer war wie jetzt gerade.

"Ja, ja, wie auch immer... dann eben Ragnor'rok. Sieh dir das mal an, du Schuppenvieh!" Dabei streckte sie ihm nicht nur den einen Finger, sondern gleich beide Hände entgegen. Ragnor'rok sah darauf, konnte aber auf Anhieb nicht erkennen, was diese Geste ihm sagen sollte.

"Was siehst du da?", forderte sie ihn auf.

"Zwei Hände." Er schnupperte leicht. "Sie riechen nach dir."

Mathilda verdrehte die Augen.

"Habe ich was von daran riechen gesagt? Sehen sollst du. Sieh gefälligst genauer hin!" Dabei drehte sie ihm die Handflächen entgegen.

"Ehm... nichts? Es sind Hände. Sehr schöne Hände von meinem Hort", kommentierte er mit einem wilden Grinsen. Jedenfalls glaubte Mathilda, dass es ein Grinsen sein sollte. Auf Drachenart vermutlich. Er verstand aber offenbar nicht, was Mathilda von ihm wollte. Sie wurde ärgerlich.

"Mathilda! Nicht Hort, dass das klar ist. Wenn ich dich Ragnor'rok nennen soll, dann nennst du mich auch beim Namen, verstanden?", korrigierte sie ihn diesmal. Mathilda hatte alle Angst vor dem Drachen verloren nachdem sie herausgefunden hatte, dass er ihr niemals etwas tun würde. In gewissem Sinne konnte sie ihn sogar beeinflussen. Immerhin fraß er aufgrund eines Versprechens ihr gegenüber keine Menschen mehr. Und wie sie ebenfalls erfahren hatte, hielt sich ein Drache immer an sein Wort.

Mathilda schnaufte verächtlich, während sie dem Lindwurm weiter ihre Hände entgegen streckte.

"Sie sind rot, siehst Du das denn nicht?", jammerte sie.“ Sie zittern und sind rot von der Kälte. Rot von dem eiskalten Wasser mit dem ich mich waschen soll! Dir mit deinem dicken Schuppenkleid mag das nichts ausmachen, sich im kalten Bergfluss zu suhlen, aber mir schon! Ich hab das Gefühl, ich bin schon selbst Eis! Da, ich habe Dauerfrost! Siehst du das?"

Ganz so schlimm war es natürlich nicht. Hätte sie Erfrierungen, würden ihr zuerst die Zehen oder Finger abfrieren. Trotzdem empfand sie es als eisig. Da konnte selbst das Feuer nicht viel helfen.

"Ah. Soll ich dich vielleicht wärmen, Mathilda?", schnurrte Ragnor'rok sanft, nachdem er verstanden hatte und rutschte näher an sie heran. Er hob eine Klaue und strich damit über Mathildas goldbraunes Haar. "In meinem Innern brennt Drachenfeuer, das nie erlischt. Ich könnte dir Wärme geben, damit...“

"Lass das", unterbrach sie ihn rüde und schlug ärgerlich die Drachenklaue von sich. "Das ist nicht das, was ich will, du dummer Klotz. Ich will ein BAD! Jawohl, das will ich! Sieh dir nur meine Haare an! Strohig, zottelig, einfach... bäh! So... igitt! Und riechst du das nicht? Ich stinke wie ein... wie ein... wie ein ganzer Drachenhort!"

"Aber das bist du doch...“, sagte er verständnislos und sog die Luft um sie herum ein. Dieses Aroma. Phantastisch. Er jedenfalls mochte ihren Geruch, was hatte sie nur daran auszusetzen? Er war so intensiv wie nie zuvor. Einfach oberlecker.

"Ach, halt die Schnauze. Du verstehst das einfach nicht." Resigniert setzte sich Mathilda auf einen mit Fell bedeckten Holzklotz. Selbst der stank. Süßlich, nach Verwesung. Mathilda schnaubte. Nun ja, Drachen konnten nun mal keine Felle gerben wie Menschen.

Umso schlimmer, dass sie hier festsaß! Mathilda packte die einzige Waffe aus, die sie hier besaß und die Ragnor'rok ihr nicht wegnehmen konnte: Sie begann zu schluchzen.

Als sie nun auch noch anfing zu heulen, wurde es Ragnor'rok zu viel und er lenkte schnell ein, bevor es noch schlimmer wurde. Ein trauriger Hort war kein guter Hort.

"Also gut. Ein Bad“, seufzte er. “Schon irgendwelche Vorstellungen, wie das von statten gehen soll?", erkundigte er sich entgegenkommend. Mathilda hörte sofort auf und hob den Kopf.

"Lass dir was einfallen, du bist schließlich der Gastgeber hier", knurrte sie.

"Na danke", knurrte er unwillig zurück. "Dass ich dir das Wasser im Fluss unten erhitze kannst du schon mal vergessen, Hort."

"Nenn mich nicht so!", giftete sie.

"Ich nenne dich, wie ich will! Schließlich bin ich doch der Gastgeber hier, nicht wahr?"

"Ich fang gleich wieder an zu heulen."

Ragnor'rok zuckte zusammen. Mathilda quittierte das mit Genugtuung.

"Also? Warum geht das nicht?", sagte sie süffisant.

"Weil es verdampfen würde! Ich bin zwar ein magisches Wesen, aber Wunder vollbringen kann ich nicht für ein dämliches Bad! So einfach dosiert sich kein Feuerstrahl", antwortete er unwillig.

"Tja dann.." Mathilda machte Anstalten, wieder mit schluchzen anzufangen.

Alles, nur das nicht, dachte Ragnor'rok. Wenn sie wütend war, war sie süß. Wenn sie losheulte war das Folter für seine empfindlichen Drachensinne. Sie hatte seinen wunden Punkt recht schnell herausgefunden. Allerdings wusste sie auch schon, dass sie mit dieser Methode bezüglich einer Freilassung nicht durchkam. Bei anderen Dingen allerdings... war er durchaus bereit, nachzugeben. Sie war sein Hort. Natürlich tat er alles, um sie nach Möglichkeit zufrieden zu stellen. Und es gab die Möglichkeit eines heißen Bades durchaus. Ragnor'rok erinnerte sich an die heiße Quelle, die den Menschen bisher durch die Magie der hier lebenden magischen Wesen verborgen geblieben war. Sie lag unterhalb des Galgenberges von Tizimbach, gegenüber der Burg Hiltenburg in ihrem Jagdgebiet. Gefährlich nahe ihrer magischen Heimat.

Aber ja. Das war seine Chance, ihren Wunsch zu erfüllen. Er würde aufpassen, dass sie keine Dummheiten machte. Der Drache zögerte.

Aber es war verboten, oder? Kein Mensch durfte das Geheimnis der Quelle kennen. Sie würden in Massen dort einfallen und sämtliche Magie durch ihre bloße Anwesenheit vernichten. Ein Mensch dagegen, der es nicht weiter erzählen konnte, war ungefährlich, oder? Das bisschen Magie, das dabei verloren ging... darauf konnte er verzichten. Magie, von der er, Ragnor'rok, durchdrungen war. Die die Quelle seiner magischen Fähigkeiten war.

Hm. Sie war sein Hort. Im Grunde gehörte sie zu ihm, sie wollte es nur noch nicht wahr haben. Und... keiner würde es von den andern magiebegabten Wesen erfahren, oder? Er musste sich nur vergewissern, dass keiner von denen, seien es Zwerge, Greife oder anderes minder magisch begabtes Gewürm dort war. Er betrachtete Mathilda eingehend. Nein, von ihr ging diesbezüglich keine Gefahr aus. Sie war sein.

Er fasste einen Entschluss. Ragnor'rok erhob sich langsam und ehrgebietend.

"Stopp! Hör auf damit", zischte er nun gebieterisch und meinte damit ihr Geheul. "Ich habe eine Lösung, sofern du deinen Schnatterschnabel hältst, bis wir dort sind", grollte er.

"Abgemacht", konnte Mathilda gerade noch hervorbringen bevor Ragnor'rok nach vorn aushakte und Mathilda mit einem Ruck in seine Vorderklauen einfing. Mit dem Maul schnappte er nach ein paar Fellen, die in der Höhle herumlagen.

Mathilda wusste nicht, wie ihr geschah und schrie panisch auf, doch Ragnor'rok ignorierte es, drehte sich behände im Drachenloch herum und ließ sich fallen, während er seine riesigen Schwingen öffnete, als der Platz außerhalb der Höhle dafür ausreichte. Mathilda sah rasend schnell die Baumwipfel im Tal auf sich zukommen. Ihr wurde schlecht. Doch im letzten Moment riss Ragnor'rok seinen Körper nach oben in die Höhe, schlug ein paar Mal mit den Flügeln und wandte sich Richtung Vilsthal, auf den Weg zum magischen, heißen Quell.

Mathilda konnte es nicht fassen, dass solch ein zauberhafter Ort in unmittelbarer Nähe zu ihrer Heimat existierte! Auf der gegenüberliegenden Talseite, nicht mal eine halbe Meile Luftlinie entfernt, ragte der Schlossberg empor. Hier, am Fuße des Brunnbühls versteckte sich diese wahre Kostbarkeit! Das Fleckchen Erde leuchtete wie ein übergroßer wunderschöner Smaragd um Mathilda herum. Sie stand in saftigem, grünem Moos! Um sie herum blühten kleine blaue und weiße Glockenblumen, auch Elfenglöckchen genannt, wie ihr Ragnor'rok erklärte. Sie waren sehr selten und hatten ihren Namen von Lebewesen, Elfen, die ausschließlich in der magischen Welt existierten. Damit konnte Mathilda zwar nichts weiter anfangen, sie fragte aber auch nicht weiter nach. Im Gegenteil, sie staunte weiterhin. Grün! Blumen! Wärme! Und das alles mitten im Winter! Ein Ort, durchzogen und geschützt von Magie, verborgen vor den Augen der Menschen.

Sie war ziemlich durchgefroren von dem Flug, aber das hier hätte sie sich nie träumen lassen. Das war einfach so unwirklich! Und doch war es wahr.

Vor ihr dampfte der Quell einladend und ihr Herz machte einen Sprung. Sie hatte sich verliebt. In diesen wundervollen Ort. Ein Gefühl der Wärme machte sich schon in ihr breit, bevor sie auch überhaupt das Wasser vor sich berührt hatte.

Mathilda hatte die Stiefel bereits ausgezogen und spielte mit den Zehen im Moos. Es war weich und kühl, aber nicht unangenehm. Ihre Glieder begannen schon Wärme zu tanken. Es war einfach phantastisch!

Die Quelle glich einem drei auf drei Meter großen Teich. Auf einer Seite ging es flach hinein, dann wurde es so tief, dass man nicht mehr darin stehen konnte, vermutete Mathilda, denn das Wasser schimmerte dunkelbraun und war nicht durchschaubar bis auf den Grund. Auf der anderen Seite durchbrach in unregelmäßigen Abständen heißes Wasser und kleine Luftblasen die Oberfläche, die von unten heraufstiegen. Ein leichter Salzgeruch lag in der Luft. Erfrischend, fand sie. Die Quelle selbst war von saftigem Grün umringt. Man konnte meinen, dass es nicht gerade tiefster Winter war, sondern Frühling. Sogar die am nächsten zur Quelle stehenden Bäume trugen grüne Blätter. Je weiter man wegging, wurden sie zuerst bunt, dann kahl und letztlich mit Schnee bedeckt. Die gerade herrschende weiße Winterlandschaft schloss sich, gerade noch in Sichtweite, dahinter an.

Ragnor'rok hatte ihr erklärt, dass dieser Ort von Menschen unberührt war, da er durch die dort vorhandene Magie vor ihren Augen geschützt wurde. Keiner der nahe wohnenden Tizimbacher kannte dieses von den Fabelwesen gut gehütete Geheimnis. Es war eine Ehre, dass er sie hergebracht hatte, weil sie zu ihm gehöre. Mathilda war nicht dumm. Sie wusste diesen Vertrauensbeweis durchaus zu würdigen.

Ragnor'rok selbst lag halb im Schnee, halb auf der grünen Lichtung, die vorderen Pranken übereinander gelegt. Sein Gesichtsausdruck war für einen Drachen friedlich. Innerlich lobte er sich gerade selbst, dass er an diesen Ort gedacht hatte und ihn ihr zeigen konnte.

"So, Dicker. Dreh dich um, ich möchte jetzt baden", erläuterte Mathilda feierlich. Ragnor'rok sah sie verwundert an.

"Dazu sind wir hier. Herumdrehen? Aber warum sollte ich?"

"Arg, so groß und doch so... lassen wir das", begann sie genervt. Doch ohne eine Erklärung würde sie nicht davonkommen. Woher sollte ein Drache auch die menschlichen Gepflogenheiten bei einem Bad kennen?

"Wenn sich eine Dame auszieht, dann ist es unhöflich dabei zuzugucken. Deshalb."

"Ach so. Und wenn ich nicht will? Hier ist es ziemlich eng."

"Dann... dann schließ wenigstens die Augen, verdammter Lindwurm", forderte sie ihn auf und warf die Hände in die Luft.

Ragnor'rok schnaubte. Er war ein Drache. Ein ausgewachsener, waschechter Drache und kein Lindwurm. Die waren wesentlich kleiner und unansehlicher als er. Aber was brachte es, ihr das jetzt erklären zu wollen? Okay, er war streng genommen ein großer Lindwurm, wenn man die menschliche Einordnung in eine Kategorie zugrunde legte. Also beließ er es dabei. Vorerst. Für weitreichende Vorträge blieb den halben Winter noch Zeit genug dafür.

"Bitte", bettelte sie weiter, als sie die geschlitzten Pupillen immer noch auf sich gerichtet sah. Ragnor'rok grunzte mürrisch und tat ihr den Gefallen. Seine Lider senkten sich langsam.

"Wehe, du guckst", drohte sie ihm mit dem Finger und begann schließlich, sich zu entkleiden, als er endlich die Augenlider schloss.

"Ich gucke nie", brummte er. Aber Ragnor'rok dachte natürlich nicht daran, dauerhaft die Augen geschlossen zu halten. Also lugte er mit einem Auge unter einem Augenlid hervor. Drachen guckten nicht. Drachen sahen.

Der Anblick, der sich ihm bot, gefiel ihm. Mathilda stand mit dem nackten Rücken zu ihm und ließ sich gerade eben langsam in den Quell hinein gleiten. Immerhin sah er Mathildas Körper gerne. Genauso, wie er ihn gerne roch. Aber das band er ihr nicht auf die Nase. Als es leise plätscherte, öffnete er auch das andere Auge.

Mathilda sah es und seufzte.

"Du hast geguckt, sonst würdest du nicht wissen, wann du sie wieder aufmachen darfst", stellte sie fest. War ja klar gewesen. Sie spritzte ihm Wasser entgegen und der Drache gluckste.

"Ich hatte nichts versprochen", kommentierte er seine Tat.

"Das merk ich mir. Ich lasse dich ab jetzt auf alles schwören, was du tun oder auch nicht tun sollst."

"Versuch es. Aber ich glaube nicht, dass es funktioniert."

Mathilda zog eine Augenbraue hoch, drehte sich dann um und schwamm mit einem Zug zum anderen Ufer hinüber. Sie hielt sich an der Uferseite fest und drehte den Kopf.

"Das ist einfach herrlich, weißt du das?"

Ragnor'rok legte den Kopf auf seine Vorderpranken und schnaubte wohlwollend.

"Schön, dass es dir gefällt. Ich hoffe, es hebt deine Laune ein wenig."

"Sogar sehr", juchzte Mathilda, ließ das Ufergras los und tauchte unter. Als sie wieder hoch kam, begann sie mit den Fingern, ihr Haar von Knötchen und anderem Gewirr zu befreien. Es tat Not. Sie hatte schon wie ein räudiger Köter ausgesehen. Danach schrubbte sie sich mit einem Stückchen Moos den Dreck und Gestank von der Haut. Dabei fiel ihr Blick eher zufällig in das grüne Dickicht, welches sich zwischen einigen der grünenden Bäume in einigen Metern Entfernung vor ihr befand. Dort war es dunkel, das Sonnenlicht des Winters kam nicht bis dorthin durch. Mathilda war es, als ob dort etwas schimmerte, aber sie war sich nicht ganz sicher. Sie hielt inne mit ihrer schrubbenden Tätigkeit und sah angestrengt in die diesige Dunkelheit des Waldes.

Sie blinzelte. Nichts war zu sehen. Unschlüssig sah sie sich kurz zu Ragnor'rok um, doch der Drache lag immer noch am Uferrand und döste vor sich hin. Wenn etwas in ihrer Nähe war, was dort nicht hingehörte, dann würde der Drache sicherlich reagieren, dachte sie.

Sie musste sich geirrt haben, ihre Sinne spielten ihr schon Streiche. Vermutlich war sie schon zu lange mit dem Drachen allein, sinnierte Mathilda und schrubbte sich weiter mit dem zarten Moos den Dreck von ihrer Haut.

Bald fühlte sie sich wieder rundum sauber. Und vor allem: warm. Die Quelle schien sie nicht nur von außen zu wärmen.

Sie fühlte sich einfach toll. Doch nichts hielt ewig.

Wenig später musste sie dieses Paradies wieder verlassen. Mathilda quengelte daraufhin so lange, bis ihr der Drache versprach, dass sie hin und wieder mit ihm dorthin kommen durfte, um das heiße Wasser zu genießen. Das war ihr genug und ein gewisser Sieg, den sie errungen hatte dem Drachen gegenüber. In dicke Felle eingehüllt nahm Sie Ragnor'rok wieder mit zurück zum Drachenloch.

Neruun hatte genug gesehen und wandte sich, ohne das geringste Geräusch zu machen, von dem Geschehen ab, das er gerade in aller Heimlichkeit beobachtet hatte. Er hatte die ganze Zeit über im Dunkel des Waldes gestanden und hatte sich nicht gerührt. Der Drache Ragnor'rok war viel zu sehr mit dem beschäftigt gewesen, was ihn hierher getrieben hatte, als dass er Neruuns Anwesenheit bemerkt hätte. Einmal hatte der Greif kurz den Eindruck, dass die Menschenfrau, in deren Gesellschaft sich der Drache befand, ihn bemerkt hätte. Daraufhin hatte er die Augen geschlossen und war weiterhin ruhig stehen geblieben. Als er sie das nächste Mal öffnete, war die Frau schon ins Wasser gestiegen.

Der Greif konnte es nicht fassen.

Wie konnte man nur so dumm sein!

Ein Mensch! Besser gesagt, eine Menschenfrau, wobei das Geschlecht hier wahrlich keine Rolle spielte. Mensch war Mensch, egal, ob Mann oder Frau.

Und das Ganze auch noch IM magischen Quell! Zugelassen hatte dies doch tatsächlich der Drache selbst! Nein, er hatte es nicht nur zugelassen, er hatte den Quell der Menschenfrau in voller Absicht gezeigt und sie hierher gebracht!

Das war eindeutig Verrat.

Verrat an den hier beheimateten magischen Wesen, welche allesamt geschworen hatten, den Quell vor den nichtmagischen Menschen geheim zu halten. Bisher hatten sich alle daran gehalten, denn jedes magische Wesen wusste, was passieren würde, wenn die Quelle entdeckt würde: die Magie würde aus dieser Gegend verschwinden und könnte von ihnen nicht mehr genutzt werden. Sie würden ihre Heimat verlieren. Selbst der Drache konnte doch nicht so dumm sein, er wusste das doch auch!

Neruun schüttelte verächtlich seinen Adlerkopf, während er eine Tatze seines Löwenkörpers vor die andere setzte. Die magische Quelle ließ er mit jedem Schritt ein Stück weiter hinter sich. Seine großen gefiederten Schwingen waren eingeklappt und standen wie bei einem Schmetterling nach oben. Sie streiften nun die winterlich mit Schnee bedeckten, unteren Zweige der kleineren Waldbäume, so dass hinter ihm der Schnee in Flocken herabfiel.

Die Drachen waren überheblich. Das waren sie schon immer gewesen, wusste Neruun. Allen voran Ragnor'rok, wie es schien.

Zugegeben, das Verhältnis zwischen Drachen und Greifen war von Natur aus miserabel. Sie waren, um es genau zu sagen, schon immer Feinde gewesen, dachte er. Keiner konnte jeweils die Art und Handlungsweise des anderen verstehen. Nun ja. Man konnte die wenigen Momente in den vergangenen Jahrhunderten, in denen Greife und Drachen einer Meinung waren, an einer Klaue abzählen. Also gut, vielleicht im Ansatz, in ganz, ganz seltenen Fällen, gestand er sich ein. Sie waren zu verschieden, wie Hund und Katz eben, um es einfach auszudrücken. Meist lebten Greife und Drachen daher nicht so eng beieinander wie es Neruun und seine Sippe und Ragnor'rok taten. Bisher hatte diese Koexistenz auch nur funktioniert, weil der Drache lange Zeit geschlafen hatte. Kaum war er wieder wach, stellte er unglaublich dämliche Dinge an.

Den Quell an einen Menschen verraten! Das ging mal gar nicht, fand der Greif.

Seltsam.

Der Drache hatte seinen Eid gegenüber der magischen Bevölkerung gebrochen, dachte Neruun, obwohl Drachen sonst immer zu ihrem gegebenen Wort standen.

Eidestreue, eine der wenigen guten Eigenschaften eines Drachen. Das einzig Gute, was sie hatten, fügte der Greif für sich noch in Gedanken hinzu. Sonst waren sie gewieft und hinterhältig.

Was den Drachen wohl zu diesem fatalen Schritt bewogen hatte? Neruun konnte ja nicht wissen, dass Ragnor'rok in dieser Menschenfrau seinen Hort sah und die Offenbarung der Quelle nicht als Wortbruch wahrnahm, sondern als Erweiterung seiner selbst. Schließlich gehörte der Hort eines Drachen zum Drachen selbst, aus Drachensicht natürlich. Für einen Greifen höchst unverständlich.

Der Grund war unwichtig, schnaubte Neruun deshalb auch in sich hinein.

Es war Verrat!

Krieg? - Nein. Das war sicherlich nicht die Art der Greifen. Greife gingen nicht so plump wie Drachen vor. Von brutaler Zerstörungswut hielten sie nicht viel. Sie waren wesentlich sorgsamer und intelligenter in ihrem Vorgehen. Zuerst einmal galt es, die Greifensippe und die anderen magischen Wesen darüber zu informieren, was Neruun gesehen hatte.

Egal, was der Drache damit bezweckte oder vorhatte, von nun an würde jedenfalls Neruun alles daran setzen, Ragnor'rok einen Strich durch dessen Rechnung zu machen und diese verräterische Tat des Drachen an den Fabelwesen zu sühnen. Mit diesem Gedanken zeichnete er mit den Krallen ein Ornament in den Waldboden und überschritt es anschließend. Nebel perlte um den Greifen auf und verschluckte ihn buchstäblich. Zurück blieb der kalte Winterwald.

Steineid

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