Читать книгу Steineid - Stefanie Wenz - Страница 13
Kapitel 9 Tizimbach, am Dorfrand, keine Stunde später, Anfang November anno 1427
ОглавлениеKorvin war noch ein gutes Stück gewachsen, seit Mathilda ihn zum letzten Mal gesehen hatte, wo er noch eher wie ein großer schlacksiger Junge als wie ein erwachsener Mann ausgesehen hatte. Seine Stimme war jetzt tiefer, der Adamsapfel war deutlich zu sehen, die Schultern waren breiter und muskulös geworden. Außerdem sah man schon dichte blonde Bartstoppeln in seinem Gesicht, was ihn sehr männlich wirken ließ. Im Gegensatz zu Mathilda hatte er sein blondes Haar beibehalten. Die Ärmel seines Hemds spannten sich um seine Oberarme, wenn er die Spaltaxt anhob und sie mit Schwung auf das Stück Holz vor sich niedersausen ließ. Bei der Arbeit, die er verrichtete war das auch nicht verwunderlich.
Zwei kleinere Buchenholzkeile kippten wenig später vom Hackblock auf den Boden neben einen seiner bunten Bälle hinab. Holz für den Winter machen und es aufstapeln gehörte nun einmal dazu. Diese kräftezehrende Arbeit hatte sein Vater seit einiger Zeit ihm übertragen, denninzwischen war ein stattlicher, kräftiger junger Mann von 21 Jahren aus ihm geworden. Seine Leidenschaft für die bunten selbstgemachten Bälle allerdings hatte er beibehalten. Auch die Jugend im Dorf profitierte rege davon. Denn er verschenkte sie gerne, damit die Kinder damit spielen konnten. Seine Eltern hielten es für einen dummen Spleen, den er hoffentlich irgendwann ablegte. Möglichst bald. Denn man verdient ja nichts, wenn man alles herschenkte. Spätestens, wenn er für Frau und Kinder zu sorgen hatte, würde das ein Ende haben, so hofften sie.
Korvin stellte den nächsten Klotz an die Stelle, wo der vorige schon gestanden hatte. Dann holte er erneut mit der Spaltaxt aus und ließ sie auf das Stück Holz niedersausen. Genau wie vorhin fielen die beiden Hälften zu Boden.
Der nächste Klotz war an der Reihe. So ging es schon eine ganze Weile. Korvin wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Es war zwar kühl, doch körperliche Arbeit wärmte einen.
Gerade als er zum nächsten Holz greifen wollte, preschten Reiter auf ihn zu. Korvins Zuhause lag nicht direkt im Dorfkern, sondern etwas außerhalb Richtung Schlossberg. Wenn jemand zur Burg oder von der Burg ins Dorf kam, gelangte er unweigerlich hier vorbei.
Er dachte sich nichts dabei. Es kamen oft Berittene von der Burg vorüber. Jagdtrupps zum Beispiel. Diese hier hatten die Kleidung der Burgwachen an, aber das konnte ihm egal sein. Er musste das Holz machen, damit sie im Winter nicht erfroren. Deshalb beachtete er das Szenario nicht weiter und brachte sein Holz in die richtige Position, um es anschließend zu spalten.
Korvin hob die Axt. Einer der Reiter zügelte sein Pferd, als er Korvin sah und hielt in seiner Nähe an. Die anderen ritten weiter.
"He, du!", wurde er plötzlich von der Seite her angerufen. Korvin ließ die Axt hinuntersausen und drehte sich anschließend um.
"Ja?", fragte er zurück, stellte die Axt auf dem Boden ab und lehnte sich auf deren Stiel, während er die Burgwache fragend ansah. Er kannte den Mann. Er kam öfters ins Dorf herunter und war dann in der Dorfschenke zu finden, wo sich Korvin ab und an ein Bier verdiente, indem er bedienen half.
Was konnte dieser von ihm wollen, fragte er sich und bekam sogleich die Antwort auf die stumme Frage.
"Kam ein Reiter hier vor kurzem vorbei, Bursche?"
Korvin schüttelte den Kopf.
"Nein", antwortete er wahrheitsgemäß.
"Sucht ihr jemanden?", fragte er nun den Mann auf dem Pferd, doch die Wache zog ohne ein weiteres Wort die Zügel seines Reittiers an. Der Kopf des Pferdes ruckte hoch, dann gab er ihm die Fersen in die Flanken und galoppierte seinen Gefährten hinterher.
"Na, Danke", murmelte Korvin beleidigt, schüttelte missbilligend den Kopf und machte sich wieder an seine Arbeit. Kurz danach hallte ein unnatürlicher Schrei durch das Tal. Der junge Mann hatte so etwas noch nie gehört. Da es sich jedoch nicht wiederholte, arbeitete er weiter.
30 Minuten später, Korvin war noch immer bei der Arbeit, gab es Geschrei aus dem Dorf, was Korvin diesmal aufhorchen ließ. Er trat von seinem Hackklotz weg, um besser sehen zu können. Etwas kam recht schnell die Straße entlang. Dahinter liefen einige der Dorfbewohner aufgeregt hinterher. Es war offensichtlich, dass dieses etwas aufgehalten werden sollte, selbst aber gar nicht daran dachte, langsamer zu machen, geschweige denn zu stoppen.
Korvin reagierte spontan, ließ seine Axt los und trat auf die Straße und dem Objekt mitten in den Weg. Vielleicht konnte er es ja aufhalten. Jetzt konnte er auch erkennen, dass es sich um ein herrenloses Pferd handelte, hinter dem die Leute herrannten. Auch andere Einwohner hatten mitgekriegt, dass etwas nicht stimmte und waren auf die Straße gelaufen.
Das Trommeln der Hufe drang an seine Ohren. Er machte sich bereit, suchte einen festen Stand.
Das Pferd kam näher. Andere wichen dem tollwütigen Tier aus, doch Korvin nicht. Er würde es kriegen, ganz bestimmt. Irgendwie.
Hm, irgendwie kam ihm der Gaul bekannt vor? Aber im Dorf besaß doch keiner solch ein Tier. Hier hatten die Leute, wenn überhaupt, eher Arbeitspferde als richtige Reitpferde.
Erst, als es keine 50 Meter mehr von dem jungen Mann entfernt war, erkannte er es. Das war doch Dara, Mathildas Reittier! Was war hier bloß los?
Offenbar hatte die Stute vor, ihn zu überrennen, stellte Korvin fest.
"He! Ho!", rief er verwundert, als die Stute fast bei ihm war. Er musste zur Seite springen, sonst würde das Tier ihn niedertrampeln. Dabei versuchte er, die Zügel des vorbeirasenden Pferdes zu erwischen, doch er griff ins Leere, sie waren einfach zu kurz. Gleichzeitig brüllte er und versuchte, neben dem Tier herzurennen, was ihm aber nur die ersten paar Meter gelang.
"Ho, Dara, altes Mädchen, mach langsam! Halt an!"
Doch zuerst dachte Dara nicht daran, Korvins Worten zu folgen. Erst als Korvin langsamer wurde und stehen blieb, weil er die Unsinnigkeit seines Unterfangens erkannt hatte, machte auch das Pferd langsamer. Anscheinend hatte sie Korvins Stimme erkannt, oder es lag an etwas ganz anderem, wer wusste das schon. Dara verfiel jedenfalls zuerst in Trab, dann in Schritt und blieb letztlich mitten auf der Straße am Ortsausgang stehen. Korvin blickte sich um. Hinter ihm stand das halbe Dorf, ebenfalls unschlüssig, was sie tun sollten. Also ergriff er die Initiative und ging ruhigen Schrittes auf die Stute zu. Sie war aufgeregt. Immerzu schlug sie mit dem Schweif, tänzelte unruhig hin und her. Der Kopf ruckte mal hierhin, mal dorthin. Als Korvin ihr so nahe war, dass sie ihn wahrnahm, schnaubte sie warnend. Selbst die Ohren des Tieres standen nicht still. Auch sonst sah das Tier sehr verstört aus. Der Sattel war verrutscht, das Zaumzeug zwar noch da, aber die Zügel waren offensichtlich abgerissen. Das Tier zitterte am ganzen Körper. Schaum stand ihm vor dem Maul. Es musste sich sehr verausgabt haben.
Korvin redete beruhigend auf die Stute ein, eine Hand ausgestreckt, dass sie seinen Geruch aufnehmen konnte. Innerlich machte er sich unheimlich Sorgen um Daras Reiterin. Er wusste, dass nur Mathilda diese Stute ritt, kein anderer kam sonst mit ihr zurecht. Und wenn Dara gesattelt war, dann hieß das, dass Mathilda ebenfalls irgendwo sein musste.
Wo war sie also?
Dara wich ein paar Schritte zurück, blieb dann wieder stehen. Korvin tastete sich schrittweise näher. Dann fiel sein Blick zuerst auf den Boden unter Daras Hinterläufe. Etwas Dunkelrotes, Öliges war zu sehen. Zuerst konnte er es nicht genau definieren, dann wurde ihm klar, was es war.
Blut.
Sein Blick wanderte an dem Tier hoch. Dazwischen bewegte er sich noch näher an die Stute heran. Nur noch ein paar Schritte, dann hatte er die Stute am Zaumzeug...
Korvin erschrak. Jetzt sah er drei hässliche tiefgehende Rillen in Daras Hinterflanke, die Ursache des Blutes auf dem Boden. Es lief in dunkelroten schimmernden Rinnsalen dem Pferd den Hinterlauf hinab und sammelte sich langsam um die Hufe. Korvin fröstelte.
Was war hier passiert?
"Hey, Mädchen, alles klar bei dir? Das sieht schmerzhaft aus. Komm, lass mich dich anfassen, dann kümmern wir uns darum, okay, Dara?", redete er weiter. In Zeitlupe hob er seine Hand an, damit sich Dara nicht erschreckte. Zwei Mal musste er seine Hand zurückziehen, weil die Stute nach seinen Fingern schnappte. Doch Korvin gab nicht auf, redete weiter auf sie ein und rückte dabei immer ein Stückchen näher, bis er seine Finger um die Trense der Stute schließen konnte. Mit der anderen Hand strich er Dara behutsam über die Stirn.
"So ist es gut, altes Mädchen, nicht wahr?", sagte er behutsam und streichelte sie weiter. "Leider hab ich diesmal keine Leckerei für dich, aber wenn du mitkommst, kann ich was für dich holen", flüsterte er weiter. Sein Blick wanderte weiter über das Tier. Dara war schweißgebadet. Anscheinend war die Wunde an der Hinterflanke die einzige Verletzung, sonst war nichts weiter zu erkennen. Diese aber war sehr tief und das Tier verlor viel Blut. Der Sattel allerdings war blutfrei, bis auf ein paar kleine Spritzer, die sicherlich von hinten stammten und von dem wilden Galopp, beziehungsweise von Daras Schweif stammen konnten. Leider gab es keinen Hinweis darauf, was mit Mathilda passiert war. Geschweige denn, wo sie war. Sie war sicherlich abgeworfen worden und lag jetzt irgendwo hilflos im Wald, vielleicht sogar schwer verletzt!
"Wo hast du bloß Mathilda gelassen, Dara?", fragte er das Pferd besorgt. Natürlich erwartete er keine Antwort darauf, aber es half, seine Sorge diesbezüglich in Grenzen zu halten.
Korvin versuchte, Dara dazu zu bewegen, in Richtung Dorf und zu dessen Bewohnern mitzukommen. Die jungen Männer aus der Ansammlung liefen zuerst auf Korvin und Dara zu.
"Gut gemacht, Korvin!" und "Saubere Sache!" riefen sie ihm zu. Als sie heran waren, sahen sie Daras Verletzungen und sogen die Luft scharf ein. Auch die älteren Dorfbewohner lobten Korvin dafür, dass er es geschafft hatte, Dara zu stoppen, auch wenn es nicht wirklich sein Verdienst gewesen war.
"Autsch", entfuhr es einem.
"Ein Eber?"
"Nein, du Dummkopf, ein Eber hat keine drei Hauer!"
"Das waren Wölfe!"
"Quatsch."
"Doch, bestimmt Werwölfe, die so groß wie ein Pferd werden", beharrte der Sprecher.
Dann trat der Dorfschulze vor und betrachtete Daras Flanke kritisch.
"Nein, keine Werwölfe, das sind doch bloß Ammenmärchen, Walter! Das sieht mir eher wie ein Bär aus", sagte er bestimmt. "Armes Tier. Da ist nichts mehr zu machen. Aber wo ist sein Reiter?"
"Gute Frage, Heiner!"
Korvin hatte alle Hände voll zu tun, Dara ruhig zu halten. Das Stimmengewirr um sie herum machte das Tier nervös.
Doch bevor irgendeiner eine schlaue Antwort darauf geben konnte, unterbrach weiteres Hufgetrappel und Hundegebell die durcheinander plappernden Dorfbewohner. Eine Schneise öffnete sich und eine Jagdgesellschaft in Begleitung Ulrichs von Helfenstein wurde sichtbar. Einer davon blieb ein gutes Stück zurück und hielt die Jagdhunde fest. Wie sich herausstellte, hatte jemand sie über das Auftauchen des herrenlosen Pferdes informiert. Ulrich ritt voran, sein Bruder hatte sich zurück fallen lassen und befand sich im Haupttrupp hinter Ulrich, der von den Burgwachen unterrichtet worden war, was oben in der Burg vorgefallen war. Er hatte ihre Jagd unverzüglich abgebrochen und sie unterstützten nun die Suchaktion. Schließlich ging es um Mathilda, ihrer beider Schwester.
Ulrich lenkte sein Reittier auf Korvin zu. Auch er erkannte Dara auf Anhieb. Die braune Stute mit der Blesse auf der Stirn war nicht zu verkennen.
"Was ist hier passiert?", fragte er in das Tohuwabohu hinein. Alle, die sich ziemlich wichtig vorkamen und angesprochen fühlten, redeten plötzlich durcheinander, jeder seine eigene Version erzählen wollend.
Korvin hingegen kümmerte sich weiter um das arme, verletzte Tier. Er hatte Daras zerfetzte Zügel an Richie weitergegeben, ein junger Mann in seinem Alter und ein guter Freund von ihm, der etwas von Pferden verstand. Während dieser Dara festhielt, hatte Korvin sein Hemd ausgezogen und versuchte damit, die Blutungen des Tieres zu stoppen- mit eher mäßigem Erfolg. Ulrich lenkte sein Ross zu den beiden hin und wiederholte seine Frage. Korvin sah hoch, dem Grafensohn direkt in die Augen.
"Ich kenne dich. Du bist doch des Sattlers Sohn, richtig? Kannst du mir den Hergang schildern?", fragte er nach.
"Ja, euer Hochgeboren, der bin ich. Mein Name ist Korvin. Und ehrlich gesagt: ich weiß es nicht. Die Stute kam die Straße entlang galoppiert, wie wenn der Teufel höchstpersönlich hinter ihr her wäre. Sie hielt von alleine an und ich konnte sie daraufhin einfangen und festhalten. Dann erst habe ich gesehen, dass sie verletzt ist. Hier." Er hob kurz sein Hemd an, um die Herren der Jagdgesellschaft einen Blick darauf werfen zu lassen. Friedrich gab seinem Pferd einen Fersenstoß, so dass es sich nach vorn zu Ulrich und Korvin bewegte.
Ulrich nickte währenddessen.
Friedrich beugte sich zu Ulrich hinüber.
"Es ist Dara, Mathildas Pferd", flüsterte er ihm zu.
"Ich bin nicht blind, Friedrich. Was meinst du, ein Bär?", flüsterte er zurück.
"Vermutlich. Allerdings muss es ein sehr großes Exemplar gewesen sein, damit es solche Wunden reißen kann. Ich hege kaum Hoffnung für unsere Schwester."
"Die Hoffnung stirbt zuletzt, Bruder."
Das Gespräch hatte im Flüsterton stattgefunden. Lauter fügte er deshalb hinzu:
"Das sieht wahrlich übel aus. Es ist das Pferd, nach dem wir gesucht haben. Gibt es Hinweise auf den Reiter?", hakte er nach und sah nicht nur Korvin, sondern auch alle anderen Umstehenden eindringlich an. Doch das Ergebnis war dasselbe: überall stummes Kopfschütteln. Nur Korvin sprach es aus.
"Leider Nein, euer Hochgeboren."
Ulrich schwieg. Er dachte nach.
In diesem Moment stieß Dara plötzlich einen grauenhaften Schrei aus, stieg hoch, verkrampfte sich und fiel in den Staub der Dorfstraße. Richie hatte es losgelassen und sich vor den Vorderhufen mit einem Sprung in die Menge in Sicherheit gebracht. Ulrich konnte sein Pferd gerade noch in Zaum halten, bevor irgendjemandem etwas zustieß, ebenso hielten es seine Begleiter. Sie hatten nun mehr Platz um sich, da die Menschenmenge ebenfalls zurückgeschreckt war.
Die Szene war so unwirklich, fand Korvin. Alle sahen erschrocken auf das Pferd am Boden. Es war tot. Einige schlugen sogar das Kreuz, um das Unheil zu vertreiben, das eventuell damit ins Dorf gekommen war. Korvin stand als Einziger bei den Reitern und starrte regelrecht auf Daras Leichnam. Damit hatte er nicht einmal ansatzweise gerechnet. Sein Hemd glitt ihm einfach aus der Hand, es war blutverschmiert und kaum mehr zu retten.
Auch Ulrich sah bestürzt auf das tote Pferd. Doch er hatte sich recht schnell wieder gefasst. Für ihn war es nur zweitrangig. Ihm ging es in allererster Linie um seine widerspenstige Schwester. Er könnte sie in der Luft zerreißen, wenn sie hier wäre! Langsam hatte er ihre Eskapaden satt. Trotzdem fühlte er sich für sie mitverantwortlich. Allerdings sah er nicht, wie er diese Eskapade vor den Dörflern geheim halten sollte, wenn er sie bei der Suche mit einbinden wollte. Und nach diesem Vorfall gerade eben führte kein Weg mehr daran vorbei. Er brauchte alle Mann, denn der Wald und die Umgebung waren zu groß für ihn und sein Gefolge. Alle mussten mithelfen. Ulrich stieg ab und trat zu dem toten Pferd.
"Schafft es weg", befahl er. "Und stellt aus den Männern des Dorfes einen Suchtrupp zusammen. Ich werde indes herausfinden, woher das Tier kam. Dann folgen wir seinen Spuren und finden hoffentlich meine Schwester", bestimmte er. Jetzt wussten auch die anderen Dorfbewohner, zu wem genau das Pferd vor ihren Füßen gehörte. Ein Raunen ging durch die Menge. Ulrichs Leute scheuchten die Leute auseinander, damit sie sich bereit machten. Gemaule wurde nicht akzeptiert.
Ulrich zog seinen Jagddolch aus der Scheide, bückte sich und schnitt ein Stück von Daras Satteldecke ab.
"Hoffentlich reicht das für die Hunde aus, um Mathildas Geruch aufzunehmen", kommentierte er seine Tat. Einen Boten sandte der Grafensohn direkt zur Burg aus, um seinen Vater über alles in Kenntnis zu setzen und um ein anderes Kleidungsstück von Mathilda mitzubringen.
Dann winkte er demjenigen, der mit den Jagdhunden etwas weiter hinten gewartet hatte.
"Hans! Komm her, wir brauchen die Hunde. Sie müssen Mathildas Witterung aufnehmen."
Der Angesprochene eilte geschwind herbei. Es war Hans von Berlingen, ein guter Freund und Geselle von Ulrich, der aus unerfindlichen Gründen etwas für dessen Schwester übrig hatte und sie immer wieder um ihre Hand angehalten hatte. Sie hatte ihn immer wieder abgelehnt, wobei Ulrich fand, dass es jedes Mal aufs Neue ein Fehler ihrerseits gewesen war.
Ulrich hielt den Hunden den Satteltuchfetzen unter die feinen Nasen. Sie jaulten und knurrten abwechselnd.
"Soll ich sie losmachen?", fragte Hans seinen Freund.
Ulrich stieg kopfschüttelnd wieder auf sein Pferd.
"Nein, lass sie nicht los, wir wollen ja nicht, dass sie Mathilda zerfleischen, wenn sie sie gefunden haben."
Hans nickte und schwang sich seinerseits auf sein Pferd, den Hunden etwas mehr Leine lassend, damit er sie nicht strangulierte.
“Ich werde Vater Bescheid geben und mich mit ein paar Männern in Richtung Gosbach aufmachen“; informierte Friedrich seinen Bruder. Dieser bestätigte den Vorschlag mit einem Nicken. Dann galoppierten sie alle los. Friedrich ritt hinauf zur Burg, Ulrich mit dem Rest des Jagdtrupps gen Nordosten, Hans mit den Hunden an der Spitze.
Korvin, sein Vater und sogar seine jüngeren beiden Brüder hatten der Anordnung des Adligen Folge geleistet und waren in einem der Suchtrupps mit unterwegs, nachdem Korvin sich ein neues Hemd besorgt hatte. Mathildas Bruder und seine Jagdgesellschaft hatten Daras Spuren bis in das kleine Ursprungstal der Ditz zurückverfolgt, dann hatte sich die Spur im Laub und den herabgefallenen Nadeln des Mischwalds verloren.
Verschiedene Trupps wurden losgeschickt, um die Gegend abzusuchen. Die Jagdhunde leisteten zusätzlich gute Unterstützung. Korvin hatte sich gezielt in den Trupp einteilen lassen, der die Wälder am Albtrauf in das kleine Tal am Bach entlang durchstöbern sollte. So konnte er an seinem Lieblingsort Ausschau nach Mathilda halten, der auch ihr Lieblingsort gewesen war. Ulrich und zwei seiner Jagdhunde waren ebenfalls mit dabei. Sie hatten sich aufgeteilt, um möglichst viel Fläche in kurzer Zeit abzusuchen. Der junge Grafenanwärter hatte sein Reittier doch noch im Dorf gelassen und war jetzt wie alle anderen zu Fuß unterwegs. Es war praktischer, wenn man durch Gestrüpp und Unterholz hindurch musste.
"Mathilda!" Von überall schien Korvin Mathildas Namen zu hören. Doch bisher kam keine Reaktion darauf. Anfangs wurde auch noch Fräulein von Helfenstein gerufen, aber aufgrund der Länge hatte man das schnell aufgegeben. Die Hunde jagten schnüffelnd über den Waldboden, hielten sich hier und dort auf, um dann doch wieder abzudrehen und eine für Menschen unsichtbare andere Spur aufzunehmen. Korvin hielt sich von den Tieren möglichst fern. Zweimal hatte ihn eines der Tiere angebellt. Ulrich hatte dies nur ein Stirnrunzeln entlockt, er hatte den Hund zurechtgewiesen und weitergeschickt. Man schob es darauf, dass Korvin eine Zwischenmahlzeit, ein bisschen Brot und ein Stück Käse in der Umhängetasche mit dabei hatte. Die Tasche war nach dem unterbrochenen Holzhacken mit auf die Suche gegangen. Außerdem hatte er Dara festgehalten und dadurch sicherlich deren Geruch angenommen. Vielleicht sogar den, der von Mathilda an dem Pferd gehangen hatte.
In seiner Tasche, neben dem Käse befand sich immer noch Mathildas Taschentuch, das sie ihm einst gegeben hatte. Er hatte es sorgsam gehütet. Korvin hatte Bedenken, dass es vielleicht noch immer nach Mathilda roch. Er wusste ja nicht genau, wie lange sich so was hielt.
Das war der eigentliche Grund, warum er sich von den Hunden fern hielt.
Mittlerweile hatte sich der tiefsitzende Nebel verzogen und die Sonne warf ihr goldenes Licht zwischen die kargen Äste des Waldes. Es war ein ausgesprochen schönes Schauspiel, das sich den Suchenden darbot. Gerade in der dunklen Jahreszeit, wenn die Sonne tief stand und es auf den Sonnenuntergang zuging, war es hier im Vilsthal einzigartig. Ja, fast unwirklich. Allein, wenn die Sonnenstrahlen das graugelbe Kalkgestein des Oberbergs oder des Galgenbergs anstrahlten und langsam hinter dem Horizont verschwanden.
Korvin stapfte durch die bereits gefallenen Blätter entlang des kleinen Bachlaufs, der durch dieses Tal führte. Hier war unberührte Natur. Die Köhler befanden sich auf der gegenüberliegenden Talseite Richtung Deckingen. Ebenso die Holzfäller. In diesem kleinen Seitental war es meist feucht und in der dunklen Jahreszeit, dem Winter, unangenehm kalt. Es gab bessere Ecken für die hiesige karge Landwirtschaft. Immer wieder rief auch Korvin nach Mathilda. Seine Rufe verhallten wie die der anderen ungehört.
Woher sollten sie auch wissen, dass Mathilda längst nicht mehr hier war? Woher sollten sie ahnen, dass es kein Bär, sondern ein echter Drache gewesen war, der Mathilda begegnet war und sie mit sich genommen hatte? Korvin besah sich den Boden und die Bäume um ihn herum. Sie hatten vor kurzem Blutspuren gefunden. Aufgrund deren Lage und Anzahl schlossen sie, dass sie von Mathildas Stute Dara stammen mussten. Das Pferd musste völlig kopflos geflüchtet sein. Allein die Spuren an einem Baumstamm ließ sie zu diesem Schluss kommen. Ebenso waren ein paar Tierhaare daran hängen geblieben als das Pferd daran entlang geschrammt war. Der junge Sattler zog gerade vorsichtig ein weiteres Fellstück aus der Borke heraus. Es war, wie erwartet, braun. Sie waren also auf der richtigen Spur. Wo aber war Mathilda? Er machte sich große Sorgen um das wilde, ungestüme Mädchen, das er bei jedem der spärlichen Treffen immer mehr liebgewonnen hatte, als eigentlich gut für ihn war. Korvin rief sich ihr Bild vor Augen, wie sie an dem steinernen Felsen an ihrem Lieblingsplatz stand. Im Übrigen war er von diesem Ort nicht mehr weit entfernt, er musste nur noch eine Windung des Bächleins umlaufen. Trotzdem konnte man den Fleck nicht einsehen, da die Flora um ihn herum den Blick darauf verdeckte. Zwei wunderschöne dunkle grüne Augen materialisierten sich vor seinem inneren Auge, strahlten ihn an und zwinkerten ihm keck zu, während ein unglaublich anziehendes Lächeln über das nun hinzu gekommene Gesicht über ihre Lippen huschten. Wie gern würde er durch ihr schimmerndes braunes Haar streichen. Nur einmal, dachte er, das würde ihm schon reichen. Nur einmal ihre Wange berühren, sie in seiner Handfläche halten können. Wie sehr er sich wünschte, ihre Lippen auf den seinen zu spüren...
Hundegebell weckte den jungen Mann aus seiner träumerischen Vertiefung. Das Bild verschwand und wurde durch einen der braunen Jagdhunde ersetzt. Korvin schüttelte sich. Das Gekläffe erinnerte ihn wieder daran, weshalb sie hier im Wald herumkrochen. Nicht nur Mathildas geistiges Abbild war wieder verschwunden. Mathilda selbst war weg. Oder doch nicht? Wie auch immer. Korvin hastete los. Irgendetwas war entdeckt worden und er wollte wissen, was es war. Jetzt wurden die ersten Rufe laut. Sie klangen nicht freudig, was Korvin automatisch einen Schauder über den Rücken laufen ließ. Er brach durch das Gestrüpp, kleine Ästchen ritzten ihm dabei die Haut. Er beachtete es nicht weiter.
Korvin trat durch das Grün. Er war darauf gefasst, irgendwo eine verletzte, oder noch schlimmer, eine gar tote Mathilda zu sehen, umringt von Ulrichs Mannen. Doch er sah nichts dergleichen, was ihn unterbewusst aufatmen ließ. Keine Mathilda.
War das nun gut oder schlecht?
Korvin erfasste den Rest der herrschenden Situation. Der Ort, so wie er ihn kannte, hatte sich stark verändert. Die Vegetation war zerstört, der Waldboden zum Teil aufgewühlt. Ein Baum war gesplittert. Seine Krone lag unten auf der Erde, sein Stamm etwa zwei Meter über dem Erdboden zersplittert. Wie Stalagmiten ragten die Reste davon traurig in die Höhe. Und der Findling... Korvin konnte es kaum glauben. Er stand nicht mehr so, wie er ihn kannte. Der Stein war gespalten. Die obere Hälfte war heruntergerutscht und lag nun halb über dem unteren Teil im Moos und dem angrenzenden Bachlauf. Die Bruchkante leuchtete ihm weiß entgegen und unterschied sich deutlich vom Rest des Felsens, der durch die langen Jahre unter freiem Himmel graugrün geworden war, bewachsen von Moos, kleinen Farnen und anderen Pflanzen, die sich den Stein als ihre Heimat ausgesucht hatten.
"Mein Gott...“, entfuhr es ihm, während er sich weiter umsah. Ulrich stand am gegenüberliegenden Ufer neben zweien seiner Männer.
Die Hunde vor ihm wurden gerade von einer Stelle am Boden gewaltsam am Hals von Hans zurückgezogen. Ulrich selbst kniete sich daraufhin auf den Boden und hob etwas hoch. Es war ein kleines Messer, dessen Klinge geschwärzt war. Andere wiederum betrachteten den Baum oder den zerstörten Fels. Einige der Männer schlugen das Kreuz und murmelten leise ein Gebet, sobald sie den Ort der Verwüstung betraten und das Chaos erblickten. Korvin trat näher zu Ulrich heran. Er wollte hören, was dort gesprochen wurde.
"Mathildas Dolch. Ich hatte ihn ihr zum Geburtstag geschenkt", sagte Ulrich gerade zähneknirschend. Er hob sich die Klinge vor das Gesicht und betrachtete sie eingehend.
"Schwarzes Blut", stellte von Berlingen leise neben ihm fest. "So etwas habe ich noch nie gesehen."
"Ich ebenfalls nicht. Kein Tier, das ich kenne, besitzt schwarzes Blut", meinte der junge Graf und ließ die Hand wieder sinken. Die beiden jungen Männer sahen sich bestürzt an. Ulrich wusste, dass Hans etwas für seine Schwester übrig hatte. Was Hans an ihr fand, konnte Ulrich allerdings nicht so recht verstehen. Sie war doch bloß seine kleine aufmüpfige und verzogene Schwester.
Das Messer jedenfalls wickelte er in einen Lappen, dem ihm sein Getreuer dazu anreichte.
"Eines steht jedenfalls fest: ein Bär kann dafür sicherlich nicht verantwortlich sein." Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu:
"Aber was dann?"
Mittlerweile waren auch mehrere Dorfbewohner hier eingetroffen und sahen sich erschrocken um.
Ulrichs Herold gab daraufhin Befehl, die Umgebung abzusuchen, um vielleicht eine weitere Spur von dem verschwundenen Burgfräulein zu erhalten.
Korvin besah sich den gebrochenen Findling genauer. Er war sichtlich bestürzt. Wer hatte so viel Kraft, diesen dicken Stein, der schon seit so langer Zeit aufrecht und erhaben zum Himmel aufgeragt hatte, zu zerbrechen?
Der Dorfschuster trat zu Korvin heran und sprach neben ihm das aus, was sicherlich viele bereits gedacht hatten.
"Der Teufel. Also das muss der Teufel gewesen sein. Das kann nur der wahrhaftige Teufel gewesen sein, der das Burgfräulein geholt hat!"
"Ach was. Dazu hätte er keinen Grund", entfuhr es Korvin. Er sah den Schuster böse an. Doch es war bereits ausgesprochen und konnte nicht mehr zurückgenommen werden. Andere Männer horchten auf und redeten dem Schuster nach.
"Ja, genau, der Teufel muss es gewesen sein!"
"Er hat Mathilda geholt!"
"Er muss es gewesen sein. Er hat sie für ihr verfehltes Verhalten bestraft!", riefen die Leute durcheinander. Dabei waren nicht nur die Dorfbewohner bei der Sache, sondern auch Ulrichs Gefolgsleute, die davon angesteckt worden waren. Bald darauf wollte keiner mehr weitersuchen. Aus Angst, dass sie vielleicht die Nächsten wären, die vom Satan geholt wurden. Korvin versuchte noch ein paar Mal, die Leute von diesem Gedanken abzubringen, doch ohne Erfolg. Selbst Ulrichs Reden wurden überhört.
Letzten Endes standen die beiden jungen Männer nebeneinander. Korvin fand, dass Ulrich seiner Schwester ähnlich sah. In seinen Gesichtszügen erkannte er die Mathildas wieder. Die beiden standen außer Hörweite der anderen, als Ulrich sein Wort an Korvin richtete.
"Anscheinend sind wir die beiden einzigen, die nicht an diese wildgewordene Theorie glauben", meinte er trocken zu Korvin und betrachtete dabei die umstehenden Leute mit verschränkten Armen hinter dem Rücken. Ulrich hatte es aufgegeben, seine Leute dazu bewegen zu wollen, weiter nach Mathilda zu suchen. Es hatte keinen Zweck.
"Sieht wohl so aus, mein Herr", stimmte ihm Korvin resigniert zu.
"Was macht euch denn so sicher, dass es nicht der Teufel war, Bursche?"
"Ich... ich habe den Dolch gesehen, Herr. Und mit Verlaub, der Teufel blutet nicht. Jedenfalls glaube ich das. Es wurde von unserem Geistlichen niemals erwähnt. Und wie sollte ein Mädchen ein solch mächtiges Wesen verletzen können, wenn nicht einmal Gott selbst dies kann?", gab Korvin zurück, sich sehr wohl bewusst, dass er sich auf dünnes Eis begab, indem er sich so erklärte. Aber er hatte Vertrauen zu dem jungen Grafen gefasst, warum auch immer. Vermutlich, weil er in ihm Teile von Mathilda sah. Und schlussendlich war dieser auch nicht von der Teufel-These überzeugt. Jedenfalls nahm Korvin dies nach dieser Frage an.
Ulrich zog die Augenbrauen hoch. Sie standen wie zwei Gleichberechtigte nebeneinander und unterhielten sich entsprechend. Korvin war überrascht und stolz gleichermaßen. Er entdeckte hier und jetzt, dass Ulrich gar nicht so verschieden zu Mathilda war.
"Seid ihr euch da so sicher? Sie könnte ihn überrascht haben. Und... habt ihr die Farbe des Blutes gesehen?"
"Nein, glaubt ihr denn, dass ein einfacher Mensch dem Teufel etwas anhaben könnte? Noch dazu eine Frau?" Korvin schüttelte dabei den Kopf. Ulrich tat es ihm gleich. Der junge Sattler hatte sich in Fahrt geredet. Jegliche Vorsicht bezüglich seiner Worte verflog und er wurde immer mutiger.
"Und um eure andere Frage zu beantworten: Ja. Es war Schwarz. Wenn ich davon ausgehe, dass Gott unverwundbar und unsterblich ist, dann muss ich diese Tatsachen auch auf sein Gegenstück anwenden, oder?
Abgesehen davon, wenn... wenn ich einem Baum einen Ast abschlage, blutet er ebenfalls, darüber sind wir uns einig?" Ulrich wiegte leicht den Kopf.
"Sein Blut ist auch nicht rot wie das unsere oder das von Tieren. Also warum soll es also nicht etwas auf dieser Erde geben, das schwarzes Blut besitzt? Zum Beispiel Elfen, Greife oder Zwerge. Es gibt Geschichten über sie. Sie könnten durchaus schwarzes Blut haben, doch das wissen wir nicht, nicht wahr?"
Ulrich sah ihn lange durchdringend an. Er schien über Korvins gewagte Worte nachzudenken. Es verstrich einige Zeit, bevor er antwortete. Ein flaues Gefühl machte sich in Korvin breit. War er über das Ziel hinausgeschossen? Er hätte besser nicht antworten sollen, wurde ihm nun klar. Es war gefährlich, so zu reden. Vor allem vor dem Sohn seines Leibherrn. Reden über Fabelwesen wurden nicht gerne gehört, vor allem nicht von der Kirche und deren Gläubigen.
"Wenn ihr davon ausgeht, dass auch Bäume Lebewesen sind und dass es so etwas wie Zwerge und Elfen gibt... Ich persönlich gebe euch Recht. Ihr solltet diese Äußerungen jedoch niemals einem Pfarrer gegenüber erwähnen. Oder einem der anderen Dorfbewohner, wenn euch euer Leben lieb ist. Niemals, hört ihr! Oder ihr werdet womöglich als Ketzer verbrannt, das ist euch hoffentlich klar."
Korvin presste die Lippen aufeinander. Diesmal nickte er allein. Die Helfensteiner waren allesamt sehr gottesfürchtig und bekleideten daher oftmals kirchliche Ämter beziehungsweise auch weltliche Ämter in der Kirche. Das hatte er glatt vergessen.
Ulrich sah wieder zu den Leuten, die an diesem Platz herumlungerten. Eine Idee schlich sich in seine Gedanken.
Hm. Vielleicht konnte ihm dieser Bursche zu Diensten sein. Bestimmt sogar.
"Gut. Ich werde eure Ansichten nicht weitertragen."
"Danke."
"Freut euch nicht zu früh, Korvin Sattler. Ich werde sie nicht weiter tragen, sofern ihr mir schwört, weiter nach Mathilda zu suchen, verstanden?", sagte Ulrich langsam, aber deutlich.
Korvin atmete innerlich auf. Das war ein einfaches Versprechen. Er hätte es sowieso gemacht, schließlich war ihm Mathilda selbst sehr wichtig geworden. Insgeheim liebte er sie. Aber das wusste ihr Bruder nicht. Zum Glück.
"J-ja. ich... ich verspreche es euch, Herr."
"Gut. ich gebe euch ein dreiviertel Jahr. Danach... werde ich meine Entscheidung erneut überdenken. Seid ihr damit einverstanden?" schob Ulrich hinterher.
Korvin sackten die Schultern herunter. Von einer Zeitangabe war vorhin nicht die Rede gewesen. Weniger als ein ganzes Jahr! Neun Monate. Das war nicht gerade allzu lange, fand er. Aber, wenn er genauer darüber nachdachte, war es immerhin ein dreiviertel Jahr, das ihm gerade zugestanden worden war. Würde er ablehnen, wäre es wohl direkt um ihn geschehen. Ihm blieb nichts anderes, als seine Zusage zu geben.
Warum hatte er auch nicht die Klappe gehalten? Wut stieg in ihm auf. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Am liebsten würde er Ulrich in sein hübsches Gesicht mit dem aufgelegten Lächeln schlagen, das ihn gerade so überlegen anstrahlte. Korvin versuchte, die Kontrolle über seine Gefühle zurückzubekommen. Es gelang.
"Ja. Ich akzeptiere eure Bedingung", brachte er schließlich mit zusammengebissenen Zähnen hervor.
"Ich akzeptiere eure Bedingung, mein Herr", verbesserte ihn Ulrich und verwies den Burschen neben ihm damit auf seinen angestammten Platz, wo er seiner Meinung nach hin gehörte.
Korvin hätte schreien können. Zähneknirschend wiederholte er allerdings seinen vorigen Satz und fügte die gewünschte Anrede noch an. Innerlich kochte er. Er hatte sich bitter getäuscht. Ulrich war ganz und gar nicht wie Mathilda. Nein, die beiden waren grundverschieden. Doch jetzt kam ihm diese Erkenntnis zu spät. Er hatte sich hinreißen lassen und war in eine Falle getappt. Denn sollte er Mathilda nicht finden, war ihm der Tod gewiss. Ulrich hatte es zwar nicht ausgesprochen, doch Korvin las es aus seinen Augen ab.
Ulrich trat von Korvin weg und rief Hans von Berlingen zu, dass er und seine Männer weiter nach seiner Schwester suchen würden.
Die anderen Suchtrupps sollten jedoch darüber informiert werden, dass sie die Suche einstellen sollten. Abergläubische und die damit einhergehenden Gerüchte über Mathildas Verbleib konnten sie nicht gebrauchen. Die Dörfler waren hiermit aus ihrer Pflicht entlassen.
Auch die anwesenden Dorfbewohner rotteten sich zusammen und machten sich auf den Weg zurück ins Dorf. Korvin folgte ihnen wie in Trance.
Einer seiner Brüder schloss zu ihm auf und knuffte ihm in die Seite. Sie waren 15 und 13 Jahre alt.
"Sag mal, träumst du?"
Der andere, der Jüngere, kam von der anderen Seite an ihn heran. Gemeinsam liefen sie jetzt Richtung Mühle.
"Du scheinst ja jetzt ganz dicke mit dem Adelfurz von da oben zu sein, was?", sagte Martin zu ihm.
Korvin riss es aus seinen düsteren Gedanken.
"Nein, und ebenfalls nein", beantwortete er seinen beiden Brüdern die Frage.
"Ich habe nachgedacht, Kilian, Martin. Den Ulrich kann ich nicht ausstehen. Der ist einfach nur... hochnäsig und gemein."
"Das sah vorhin aber ganz anders aus, Korvin."
"Sah es nicht. Wir haben uns nur... unterhalten", presste er zwischen den Zähnen hervor.
"Ach so. Klar. Ach komm schon, Korvin. Ich bin's, Martin, dein kleiner Bruder. Ich kenne dich. Also, um was ging's da? Ihr habt ja heftig miteinander geredet und diskutiert. Also, erzähl schon", versuchte Martin eifrig etwas aus Korvin herauszuholen und ihn zum Sprechen zu bewegen.
Doch vergebens. Korvin war verschlossen wie eine Auster. Und er blieb es auch in den nächsten Wochen und Monaten. Nicht nur seiner Familie gegenüber, sondern auch Richie, seinem Freund und all den anderen Freunden aus dem Dorf.