Читать книгу Steineid - Stefanie Wenz - Страница 14
Kapitel 10 Tizimbach, Korvins Elternhaus, anno 1427
Оглавление"Weißt du, wo Korvin schon wieder steckt?", fragte Korvins Mutter Alfrida ihren Ehemann, der in eine Decke gehüllt am Esstisch saß. Dieser brummte nur unwillig.
"Also Nein. Der Junge ist schon wieder verschwunden", sagte sie ärgerlich.
"Ich glaub, ich habe ihn in Richtung Osten davon laufen sehen", schaltete sich Kilian hilfreich ein.
"In den Wald? Schon wieder?" Unwille schwang immer noch in Karls Stimme mit. Draußen war es kalt. Der erste Schnee war gefallen und hüllte die Wiesen und Wälder in eine glitzernde weiße Decke ein. Karl selbst plagten in dieser Jahreszeit die Gelenke. Manchmal war es so stark, dass er es kaum aus dem Bett heraus schaffte.
"Dieser Nichtsnutz! Ständig streunt er in der Gegend herum anstatt hier seinen Aufgaben nachzukommen! Ich dachte, er sei erwachsen, dabei verhält er sich immer mehr wie ein kleines Kind!", platzte es aus ihm heraus. "Ein Taugenichts ist er, jawohl! Nur Bälle und dummes Zeug hat er im Kopf. Nehmt euch ja kein Beispiel an eurem Bruder", herrschte er daraufhin die jüngeren Geschwister an, die betroffen schwiegen. Ihr Vater hatte öfters solche cholerischen Ausbrüche. Da war es nicht gut, ihm als Kind oder Jugendlicher zu widersprechen.
"Karl!", wies ihn seine Frau zurecht. "Du weißt, dass das nicht stimmt. Korvin ist ein guter Junge. Wir haben zu essen und genug Geld, um uns das nötigste zu kaufen, was wir sonst so zum Leben brauchen."
Der Sattler schnaubte.
"Ja, noch. Ich finde, seit der Geschichte mit dem Pferd der Grafentochter ist er ein wenig... abwesend. Und dabei meine ich nicht nur seine körperliche Abwesenheit. Bei der Arbeit trödelt er, oder, noch schlimmer, macht etwas falsch und muss von vorn anfangen. Das kostet zusätzlich Zeit und Material. Wusstest du, dass Korvin verliebt in das Mädchen ist? Er hat es mir zwar nicht ausdrücklich unter die Nase gerieben, aber ich bin nicht dumm. Oder blind. Um die Aufträge auf der Burg hat er sich immer gerissen. Außerdem habe ich gesehen, wie er sie angesehen hat", erklärte Karl seiner Frau seine Beobachtungen. Die Mutter fiel aus allen Wolken.
"Nein, woher denn! Ist das wahr? Aber dann hast du doch den Grund, warum er so komisch ist. Wenn er in sie verliebt ist, dann trauert er bestimmt um sie, nicht wahr?" Ihr Ärger auf Korvin war durch diese Erkenntnis schon verflogen, da sie nun seine Schwermut nachvollziehen konnte. Alfrida wusste ja nichts von Ulrichs Forderung an ihren Sohn und dem Unheil, was geschehen würde, wenn Korvin bis zum Ultimatum erfolglos blieb.
"Ach, papperlapapp. Liebe. Das ist doch keine Liebe, Alfrida. Das kann gar keine sein. Solche Schwärmereien sind einfach nur kindisch", tat der Sattler die Erklärung seiner Frau ab. Dabei betonte er das Wort Liebe recht abfällig. Diese sah ihn eigentümlich an.
"So, so. Kindisch also." Sie stemmte herausfordernd ihre Arme in die Hüfte. "Karl Sattler, ich hoffe für dich, dass du deine Schwärmerei von damals in dem Alter nicht vergessen hast. Du warst auch mal 20, vergiss das nicht."
"Aber ich habe mir jemanden ausgesucht, der allein schon von Standes wegen zu mir passte. Und ich habe diese Person, namentlich dich, bei der erstbesten Gelegenheit vom Fleck weg geehelicht, so wie das eben sein soll", konterte er und zog seine Frau auf seinen Schoß. Diese juchzte kurz erschrocken auf.
"So, so, hast Du das. Ich erinnere mich, dass ich dich ein wenig habe zappeln lassen. Arno wäre auch ganz niedlich gewesen." Sie küsste ihm die Nasenspitze. Karl verzog bei dem Namen seines alten Nebenbuhlers nur das Gesicht.
"Was ich damit sagen will, ist, dass er nur ein wenig Zeit braucht, sich zu fangen. Gib sie ihm bitte. Mir zuliebe. Und wenn er dafür ein wenig öfter spazieren gehen muss, dann ist es eben so. Solange er nicht fort bleibt und wir gar nichts mehr zum Leben haben, ist es doch halb so wild." Alfrida strich ihrem Mann über die Wange. Er kniff sie in den Allerwertesten, was ihr ein Kichern entlockte.
"Lass das."
Karl grummelte in seinen Bart. Für ihn war das essentiell. Nicht das Necken seiner Frau natürlich, sondern die Sache mit Korvin. Wenn Korvin so weiter machte wie bisher, dann würden sie als Familie bald ernsthaft Probleme haben. Die anderen Jungen waren noch zu jung um richtig mitzuarbeiten. Jedenfalls redete Karl sich das ein, dass die anderen noch zu jung waren. Obwohl Martin bereits 15 war und Kilian 13. Ihn selbst plagten die Gelenke, also musste Korvin ran. Korvin war der Erstgeborene und alle Hoffnung seines Vaters lag deshalb auf ihm, nicht auf seinen Brüdern. Und das Schlimme an der Sache war, dass er es seinem Vater unmöglich recht machen konnte.
Alfrida stand wieder auf und wischte ihre Hände an ihrer Schürze ab. Es war Zeit, weiter ihre Hausarbeit zu machen. Auf ihre Art und Weise wusste sie, wie sie ihren Ehemann ablenken konnte, so dass seine cholerische Art in Zaum blieb und nicht wie ein Vulkan ausbrach. Außerdem waren die Kinder in der Nähe. Karl mummelte sich tiefer in die Decke ein.
"Ich habe mich nur gefragt, wo Korvin wieder abgeblieben ist. Das ist alles", sagte sie leise. "Kein Grund, sich deshalb aufzuregen, Brummbär." Mit einer Bewegung füllte sie Tee in einen Becher und drückte ihn Karl in die Hand. Zwei weitere Becher mit dem heißen Inhalt wanderten vor Kilian und Martin. Ebenso der Teller mit Käse, Brot und gekochte Eier.
"Aber er wird schon wieder auftauchen", sagte sie letztendlich.
"Und wenn er nicht in den nächsten fünf Minuten auftaucht, dann bleibt schon mehr vom Abendessen für uns", warf Martin glücklich ein und sondierte schon mal vorab mit Blicken, was er sich gleich zusätzlich vom Abendessen einverleiben konnte.
Und so war es. Korvin kam wie so oft nicht zum Abendmahl, sondern erst sehr viel später nach Hause.
Korvin stapfte müde in der Dunkelheit zurück. Sein Ausflug heute war erfolglos geblieben, wie den ganzen letzten Monat auch.
Wo war Mathilda nur? Hoffentlich ging es ihr gut. Denn je fester der Winter Einzug hielt, desto mehr machte sich Korvin Sorgen. Was ihn am meisten plagte, war, dass er überhaupt nicht wusste, wo er eigentlich mit seiner Suche beginnen sollte. Aber er würde nicht aufgeben. Er würde nicht müde werden, herauszufinden, was wirklich passiert war, wo Mathilda steckte. Er rief sich den Eid ins Gedächtnis, den sie sich gegenseitig geschworen hatten. Korvin erinnerte sich jeden Tag daran, nämlich dass sie füreinander einstehen würden. Egal, was kommen würde. Damals hatte er das Versprechen in kindlichem Leichtsinn gegeben, doch nun war es ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Und das nicht nur, weil Ulrich ihn in der Hand hatte, sondern weil Mathilda etwas ganz besonderes für ihn war. Und das würde immer so bleiben. Mit jedem Schritt wirbelte er ein wenig der dünnen Schneedecke auf, die den Erdboden bedeckte. Er hatte die Hände tief in die Hosentaschen vergraben. Kleine Wölkchen kamen aus seinem Mund, wenn er atmete. Es war kalt und im Dorf sah man überall Rauch aus den Kaminen der Häuser aufsteigen. Der Winter hatte begonnen.
Dies war nicht Korvins erster Ausflug gewesen seit Mathildas Verschwinden. Gleich am Tag nach der Suchaktion war er zu dem nun unheilvollen Ort zurückgekehrt. Die einst schönen Erinnerungen daran begannen schon zu verblassen. Korvin konnte nur noch das Grauen spüren, das dort Einzug gehalten hatte. Der zerbrochene Findling würde noch viele weitere Jahrzehnte davon zeugen. Er hatte nochmal alles gründlich abgesucht, aber beim ersten Mal nichts weiter gefunden, nicht einmal dunkle, schwarze Blutstropfen auf die er gehofft hatte, um eine Spur zu erhalten.
Die darauffolgenden Tage waren ebenfalls von Hoffnungslosigkeit geprägt gewesen. Vielleicht hatten die anderen Recht und Mathilda war tatsächlich dem Teufel zum Opfer gefallen? Korvin weigerte sich, das zu glauben. Auch weigerte er sich zu glauben, dass Mathilda tot war. Solange er ihre Leiche nicht gefunden hatte, war sie für ihn am Leben.
Zwei Wochen später allerdings war er nochmals zum Findling zurückgekehrt. Der Herbst mit seinen Windböen hatte mittlerweile Einzug gehalten und auch die herabgefallenen Blätter dieses Ortes aufgewirbelt, ein Spielzeug des Windes. Jedenfalls hatte er sich gesagt, dass es das letzte Mal wäre, dass er hierher kam. Das allerletzte Mal. Er war belohnt worden. Er hatte etwas gefunden, was wichtig war.
Korvin zog seine Faust aus der Hosentasche. Er öffnete sie langsam, ja, fast bedächtig. Darin lag ein Puzzleteil, das zweite nach dem schwarzen Blut, das an dem Dolch geklebt hatte. Er betrachtete den Gegenstand zwischen seinen Fingern und drehte es vor seinen Augen hin und her. Es handelte sich um eine münzgroße, durch den Mondschein angestrahlte, schimmernde, grüngraue Schuppe. Korvin konnte sie keinem bekannten Tier zuordnen. Für eine Schlange oder Eidechse war sie zu groß, und andere Reptilien gab es hier nicht.
Zu wem gehörte also dieses Ding?
Oder war es gar keine Schuppe?
Es bestand jedenfalls nicht aus Metall. Es wies auch keine Schnitzkerben auf. Also war es nicht von Menschenhand gemacht worden. Korvin ahnte, dass dieses Ding mit Mathildas Verschwinden zusammenhing. Nur der letzte Groschen war noch nicht bei ihm gefallen. Er könnte es Ulrich zeigen, wenn er diesen um eine Audienz bat. Aber was sollte das bringen? Außerdem mochte er ihn nicht.
Auf der Burg selbst hielt man sich sehr bedeckt, was Mathildas Verschwinden anbelangte. Niemand wollte, dass herauskam, dass die Grafentochter wie vom Erdboden verschluckt war. Ein hervorragender Nährboden für Gerüchte, in dem der Teufel eine Rolle spielen sollte, das durfte man, nebenbei bemerkt, nicht laut aussprechen.
Friedrich von Helfenstein hatte offiziell verlauten lassen, dass jeder, der dieses Gerücht weitererzählte und zu seiner Verbreitung beitrug, gehängt werden würde. Die Helfensteiner seien bis auf das letzte Mitglied eine ehrenhafte und vor allem gottesfürchtige Familie. Der Teufel hätte keinen Grund, einen von ihnen zu holen, denn Gott hielt seine starke Hand über die Familie. Jeder, der etwas anderes behauptete, wäre ein Lügner und würde ohne Gnade zum Tode verurteilt.
Das hatte das Gerede der Leute abrupt verstummen lassen, denn niemand wollte deshalb sterben. Unter der Hand glaubten aber alle daran, dass es trotzdem so war, auch wenn sie keinen Grund für eine solche Tat anführen konnten.
Nur Korvin glaubte es nicht.
Er steckte das Ding wieder in seine Tasche. Er brauchte dringend Schlaf, damit er wieder klarer nachdenken konnte, wie es weitergehen sollte. Langsam war er verzweifelt. Je länger er keinen Anhaltspunkt fand, desto kälter würde die Spur werden, der er folgen musste. Korvin hatte es sich mittlerweile so eingerichtet, dass er, ausgehend von dem Findling immer größer werdende Kreise darum herum ablief. Als das nichts brachte, wanderte er in der Gegend um Tizimbach alle Wege ab, die es gab. Mittlerweile hatte er seine Suche bis nach Deckingen ausgedehnt. Von dort kam er gerade her. Morgen, am Sonntag, würde er die andere Richtung ausprobieren, nach Gosbach hin. Es war nur dumm dabei, dass er überhaupt nicht wusste, nach was er suchen sollte. Und noch schlimmer war: Er war allein und das Gebiet riesengroß. Es war zum Heulen.
Traurig steuerte Korvin das Haus seiner Eltern an. Seine Mutter hatte ein kleines Talglicht ins Fenster gestellt. Vermutlich, dass er besser heim fand. Dafür liebte er sie.
Als er das Häuschen betrat, schliefen die anderen schon. Korvin zog sich aus und schlüpfte leise in sein Strohbett. An Schlaf war jedoch nicht zu denken, denn seine Gedanken kreisten um das, was er heute Abend noch erfahren hatte und ihn jetzt grübeln ließ. Auf seinem Weg nach Deckingen hatte er sich zwei anderen Männern angeschlossen, die auf dem Weg in das dortige Wirtshaus waren.
"Habt ihr schon das Neueste gehört?", hatte der eine angefangen. Der andere und Korvin hatten mit dem Kopf geschüttelt. Korvin hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich für das Gespräch der beiden interessiert. Aber was dann kam, hatte ihn aufhorchen lassen.
"Nein? Dann erzähl ich's euch. Hab's von nem Schäfer, der's wiederum von nem Wachmann der Burg hat, welcher es direkt vom Burgvogt höchstpersönlich gehört hat, als der sich mit dem Grafen darüber auf der Hiltenburg unterhalten hatte."
"Ja, ja, jetzt spann uns nicht so auf die Folter, sondern spuck's endlich aus. Wen interessiert's schon, von wem du's hast."
"He, nicht hetzen, ja? Also, bevor das junge Ding, weißt du, das vom T... ich meine natürlich das verschwundene junge Fräulein vom Grafen verschwunden ist, hat man endlich einen Ehemann für Sie gefunden gehabt. Eine richtig gute Partie, die viel Geld für die Grafschaft eingebracht hätte. Und dann, dann ist das Mädel einfach abgehauen und verschwunden. Jetzt sitzt der Graf natürlich in der Bredouille, ob und wie er ihr Verschwinden erklären soll. Sein ältester Sohn hat ihm wohl geraten, es vorerst dabei zu belassen, vielleicht würde sie, bis es kritisch wird, wieder auftauchen. Und wenn's soweit is, kann man sich immer noch ne gute Ausrede überlegen, warum die Heirat nich zustande kommt.
Also ich würd's ja mit der Pest begründen oder so was ähnlichem. Oder was meinst du, Sepp?"
Doch dieser hatte nur gelangweilt gegrunzt und gemeint, er würde was Interessanteres zu hören kriegen als das hier. Was interessierte ihn schon das Burgfräulein und die Sorgen der Grafen von Helfenstein? Ihn plagte eher die Frage, wie er im Wirtshaus zu einem kostenlosen Bier kommen könnte. Korvin hingegen war ins Gespräch eingestiegen, hatte aber leider nichts weiter aus dem Bauern herausbekommen. Die Tatsache allerdings, dass Mathilda jemandem versprochen war, ließ ihn keine Ruhe finden. Auch jetzt nicht. Hatte er überhaupt irgendeine Chance, sie zu finden? Und wenn ja, was dann? Wie würde es weitergehen? Er hatte es sich fest vorgenommen, ihr seine Gefühle zu gestehen und um ihre Hand anzuhalten.
Würde sie ihn zurückweisen? Oder ihr Vater? Nun, wenn er sie rettete, konnte er dann überhaupt abgewiesen werden? Oder sollte er besser mit ihr fliehen? Diese und andere Fragen beschäftigten ihn. Auf die meisten wusste er keine Antwort. Und so wurde dies eine lange, schlaflose Nacht.
Mathilda lag in dieser Nacht ebenfalls wach. Sogar nicht allzu weit entfernt von der Hiltenburg, ihren Eltern oder Korvin. Gerade einmal eine Stunde Gehzeit trennten sie von dem, was sie kannte, wo sie aufgewachsen war, sich sicher und geborgen gefühlt hatte. Allerdings war sie nicht in einem warmen, angenehmen Haus, sondern im Drachenloch Ragnor'roks. Das lag unterhalb vom oberen Dorfteil von Trackenstein in einem bewaldeten Steilhang, zu dem keiner, der einen guten geistigen Gesundheitszustand hatte, freiwillig hinkam. Die Trackensteiner mieden diesen Ort schon seit Jahrzehnten. Nicht nur wegen der unheimlichen Ausstrahlung, den dieser Ort umgab.
Mathilda kuschelte sich tiefer in die Felle, die ihr Ragnor'rok gegeben hatte. Sie befand sich im hintersten Teil dieser tief in den Fels führenden Karsthöhle. Der Drache hatte ein kleines Feuer für sie entfacht. Mit seinem massigen Leib lag er zum Höhleneingang und verdeckte den Feuerschein nach außen hin. Den Rauch davon sog er einfach ein, damit auch dieser ihre Anwesenheit nicht verraten konnte. Es war Mathilda verboten, Feuer zu machen, wenn er nicht da war. Und es war besser, sich daran zu halten. Ein zorniger, wütender Drache war unberechenbar und konnte ihren Lieben jederzeit etwas Schreckliches antun, so wie er ihr bereits am ersten Tag unmissverständlich klar gemacht hatte.
"Wenn es sein muss, werde ich sie alle fressen, deine Mutter, deinen Vater, deine Brüder und Schwestern, ja, die ganzen verdammten Burgbewohner, wenn du auch nur ein Mal versuchst, meinen magischen Kreis zu durchbrechen", hatte er sie angeknurrt. Mathilda hatte also keine Wahl gehabt und sich gefügt.
Sie war seine Gefangene und er gedachte nicht, sie jemals wieder frei zu lassen, weil er ein Faible für sie hatte. So viel hatte Mathilda schon herausbekommen. Ragnor'rok sah sie als seinen Besitz an.
Was sie auch schnell gelernt hatte, war, dass er sie zwar nicht fesselte und sie sich frei bewegen konnte, jedoch nur innerhalb der Grenzen, die er ihr abgesteckt hatte. Er brachte ihr Essen und Kleidung, wenn sie es brauchte. Die Mahlzeiten waren karg und meist bestanden sie aus Ziegen- oder Schaffleisch. Nur manchmal bekam sie Brot oder Obst. Woher der Drache das bekam ließ er ihr gegenüber offen. Zu Mathildas damaliger Verwunderung konnte der Drache immerhin reden, auch wenn seine Aussprache rau und grollend klang und sie genau zuhören musste, was er von sich gab. Sie durfte sogar die Höhle verlassen. Auch, wenn er nicht da war. Ragnor'rok hatte ihr aber zu verstehen gegeben, dass sie sich nicht weiter als 300 Meter vom Drachenloch entfernen durfte. Zwei Mal hatte sie es versucht, doch der Drache hatte es mitbekommen und sie unsanft zurückgeholt. Sie konnte sich das nur durch einen Zauberbann erklären, den er um die Höhle herum gelegt hatte. Bisher hatte der Drache ihr nichts getan. Wenn er hier war, fühlte sie sich unwohl und beobachtet. Denn genau das tat er: er starrte sie unentwegt an. Ein paar Mal hatte er versucht, ihr Haar mit seinen Krallen zu berühren, doch sie hatte ihn dreist abgewehrt. Er hatte nur gelacht. Und wartete ab. Vermutlich rechnete er damit, dass sich das mit der Zeit ändern würde. Anscheinend wollte er mehr von ihr, als ihr lieb war. Aber Mathilda schwor sich, dass das nie der Fall sein würde. Niemals würde sie sich einem Drachen hingeben! Sie hatte schon viele junge wie alte Männer abgelehnt, was kam es da auf einen Drachen mehr oder weniger an, dachte sie grimmig. Allerdings, wenn Ragnor'rok es darauf anlegte, hätte sie keine Chance. Wie auch, gegen einen Drachen! Allerdings wusste Sie auch nicht, wie so etwas körperlich möglich sein könnte, und das beunruhigte und beruhigte sie zugleich. Mathilda wusste ja nicht, dass der Drache die Möglichkeit hatte, Menschengestalt anzunehmen, wenn er es wollte. Ragnor'rok würde dies aber erst tun, wenn er sich ganz sicher war, dass Mathilda ihm nichts antat. War er in menschlicher Gestalt doch verwundbar. Natürlich hätte er einen großen, starken menschlichen Körper wählen können, um sie sich zu nehmen. Aber das machte keinen Spaß. Er wollte aus einem ihm unbekannten Grund ihr Vertrauen und ihre Liebe gewinnen. Deshalb tat er dies nicht. Und wartete eben. Er hatte Zeit. Er war die Zeit.
Mathilda zitterte.
Ihr war trotz des Feuers und der Decken kalt. Aber nicht, weil es von der Temperatur her kühl war, nein, sondern Sie hatte immer noch Angst. Große Angst.
War das ihr Schicksal? Würde Sie für ewig hier bleiben müssen? Oder würde Rettung kommen?
Wer würde Sie retten wollen? Wollte Sie überhaupt zurück? Daheim würde sie an diesen unbekannten Horche verheiratet werden und fast nach Afrika hinunter abgeschoben werden.
Wollte Sie das überhaupt? War es hier nicht besser?
Definitiv nicht, dachte sie bestimmt. Alles war besser, als bei einem Drachen leben zu müssen! Sollte sie jemals gerettet werden, dann würde sie sich mit Handkuss dem Willen ihres Vaters beugen...
Unwillkürlich tauchte Korvins Gesicht vor ihrem geistigen Auge auf und ihr Entschluss kam plötzlich stark ins Schwanken, den sie gerade beschlossen hatte. Korvin. Glaubte er auch, dass sie tot war?
Oder, wie der Drache ihr belustigt erzählt hatte, dass sie vom Teufel geholt worden war, wie sich die Dorfbewohner von Tizimbach untereinander erzählten?
Tränen quollen aus Mathildas Augen bei diesem Gedanken. Keiner glaubte, dass man ihr helfen konnte. Der Teufel war es jedenfalls nicht gewesen, aber so etwas ähnliches, dachte sie bitter und wischte sich eine Träne von der Wange. Worte, die vor langer Zeit gesprochen worden waren kamen ihr in den Sinn. Ausgesprochen zwischen zwei Kindern, die sich gegenseitig Unterstützung zugesichert hatten, wenn einer von ihnen in Schwierigkeiten gelangen würde.
Hoffentlich fiel Korvin sein Versprechen ein. Hoffentlich würde wenigstens einer nach ihr suchen und diesen schrecklichen Gerüchten keinen Glauben schenken! Sie wünschte es sich. Sie wünschte es sich so sehr! Aber warum sollte der Sattlerssohn sein Leben für sie riskieren? Für ein Versprechen, das sich einst zwei Kinder gegeben hatten, dachte sie weiter. Ihr fiel kein guter Grund ein. Die Hoffnung, die in ihr aufgekeimt war, erlosch so schnell, wie sie gekommen war. Weitere Tränen rollten über ihr Gesicht. Sie konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken. Mathilda schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass es irgendeinen Menschen auf dieser Erde gab, der sie noch nicht aufgegeben hatte. Sie wünschte sich sehnlich, dass es Korvin sein würde. Korvin, für den sie offenbar mehr übrig hatte, als sie bisher geglaubt hatte. Der ihr wichtig war, stellte sie fest. Vielleicht war es besser, es wäre nicht Korvin, der sie suchte.
Eigentlich hatte sie sich vorgenommen, dem Drachen ihre Verzweiflung nicht zu zeigen. Es gelang nur mäßig. Tagsüber, ja. Nachts jedoch... selten. Jetzt kam auch noch eine unbestimmte Angst um einen anderen hinzu, ein völlig irrsinniges Gefühl. Sollte sie sich nicht lieber um sich selbst Sorgen machen? Seltsamerweise tauchte diese Angst nur auf, wenn sie an Korvin dachte. Diese Angst überdeckte sogar ihre Fragerei um ihr Schicksal. Das war dämlich, oder? Korvin war schließlich nicht in Gefahr. Sie schon. Aber so unberechtigt war das nicht, fand sie. Was wenn er doch auf die Idee kam, sie zu suchen? Denn, sollte wirklich irgendjemand nach ihr fahnden, wie sollte dieser Jemand an dem Drachen vorbeikommen ohne von ihm getötet zu werden? Korvin würde sicherlich nicht nach ihr suchen, versuchte sie sich einzureden. Einerseits wünschte sie sich das, andererseits wünschte sie sich aber, dass er es tat. Und dann fühlte sie sich wieder schlecht, dass sie so egoistisch war, gerettet werden zu wollen- von ihm.
Mathilda rollte sich unter ihren Decken zu einem Ball zusammen. Erst, als keine Tränen mehr kamen und sie in ihrem Gram den alten Ball fest in ihrer Hand als Trost hielt, schlummerte sie endlich ein.