Читать книгу Sprachliche Kommunikation: Verstehen und Verständlichkeit - Steffen-Peter Ballstaedt - Страница 10
2.2 Verständigung als KooperationKooperation
ОглавлениеNachdem das Umfeld der Kommunikation, in dem Verstehen stattfindet, skizziert ist, steuern wir nun auf den Begriff der Verständlichkeit zu. In der Alltagssprache bezeichnen wir einen Text – z.B. eine Rede oder einen Aufsatz – als leicht verständlich, wenn wir ihn spontan und mühelos verstehen. Ein Text, bei dem wir uns um das Verstehen bemühen müssen, bezeichnen wir als schwer verständlich, wenn wir daran scheitern als unverständlich. Scheinbar ist dabei Verständlichkeit eine Eigenschaft eines Textes mit mehr oder weniger großer Ausprägung. Dabei vergessen wir aber, dass jeder Text Teil eines Kommunikationsprozesses ist, in dem eine Person sich mündlich bzw. schriftlich in einer Mitteilung äußert, die eine andere Person hört bzw. liest und zu verstehen versucht. In diesem störanfälligen Kommunikationsprozess entsteht Verständlichkeit erst in einer konkreten Kommunikation. „Der Text als Artefakt hat keine Verständlichkeit an sich, sondern erhält Zuschreibungen von Verständlichkeit erst durch seine Einbettung in einen kommunikativen Zusammenhang“ (Lutz, 2015, S. 188). Das kann man daran erkennen, dass ein Adressat einen Text leicht verständlich findet, ein anderer Adressat aber denselben Text schwer verständlich. Wie kommt Verständlichkeit in der Kommunikation zustande?
AdressatenorientierungAdressatenorientierung
Verständlichkeit ist zunächst eine Aufgabe für einen kooperativen Absender, der sich bemüht, dass seine Mitteilung für den Adressaten zu verstehen ist, indem er dessen Intentionen und Vorverständnis berücksichtigt und adressatenorientiert formuliert. Verständliche Kommunikation ist immer adressiert, d.h. auf eine bestimmte Person oder eine bestimmte Adressatengruppe ausgerichtet. Der Absender sucht dabei einen Kompromiss zwischen Verständlichkeit und sprachlichem Aufwand. Er formuliert gerade so ausführlich, dass er vom Adressaten mit einem Minimum an Verarbeitungsaufwand verstanden wird. Der Absender befolgt die Maxime: „Sorge dafür, dass dein Adressat dich versteht!“ Aber er versucht das selbst mit möglichst wenig Ressourcen beim Formulieren zu erreichen: „Wende dafür nicht zu viel Energie auf.“1
Ein schönes Beispiel ist der Baby Talk, mit dem ein Vater oder eine Mutter ein Kleinkind anspricht. Die Formulierungen werden automatisch an das VorwissenVorwissen und die kognitiven Fähigkeiten des Kindes angepasst: Vokabular nur für Basisbegriffe, syntaktisch einfache Sätze, überzeichnete Artikulation, langsames Sprechtempo, Betonung wichtiger Wörter, sprechbegleitende Gesten.
Die Adressatenorientierung wird besonders bewusst bei persönlichen Texten, z.B. einem Liebesbrief oder einem Bewerbungsschreiben, die inhaltlich und sprachlich auf ihre Adressaten ausgerichtet sind und unbedingt überzeugen sollen. Hier erlebt der oder die Schreibende die mentale Wirkung eines „model of the other person“ deutlich: Was soll ich schreiben? Wie soll ich es schreiben?
Die Adressierung einer Äußerung verlangt vom Absender ein Verstehen anderer Personen, ihres Vorwissens, ihrer Intentionen, ihrer Mentalität, ihrer sprachlichen und kognitiven Kompetenzen (Newen, 2015). Zu diesem Erfassen der Persönlichkeit ist Empathie erforderlich, dabei geht der Absender teilweise vom eigenen Denken und Erleben aus.
RelevanzannahmeRelevanzannahme
Die Hauptverantwortung für Verständlichkeit trägt zwar der Absender, aber auch der Adressat muss sich um Verstehen bemühen. Dabei geht er davon aus, dass das Gesagte bzw. Geschriebene grundsätzlich verstehbar und für ihn auch relevant ist, dass für ihn etwas Wichtiges aus der Mitteilung herauszuholen ist. Diese Unterstellung als Voraussetzung für sprachliche Verständigung taucht bereits in der frühen Hermeneutik als „principle of charity“ auf: Es besagt, dass ein Adressat dem Absender zunächst mit Wohlwollen begegnen soll, er soll ihn als rationales Gegenüber akzeptieren, dessen Äußerungen einen Sinn machen. Die schreibende Person genießt somit einen Vertrauensvorschuss.
Das Prinzip der wohlwollenden InterpretationInterpretation war in der Scholastik eine Absicherung, da heilige Texte oft unklar und widersprüchlich sind. Ein wohlwollender Lesender verwirft sie aber trotzdem nicht. In verschiedenen Varianten taucht das Nachsichtigkeitsprinzip in der Philosophie immer wieder auf (Scholz, 2016). Dahinter steht ein Motiv des aktiven Verstehenwollens auch schwieriger Texte (Kap. 4.3).
Diese Ausrichtung auf Bedeutung in einer Mitteilung ist von verschiedenen Autoren betont worden. Bereits Frederic Bartlett (1932, S. 44) sprach vom „effort after meaning“ als einem kognitiven Grundbedürfnis. Hans Hörmann (1976, S. 179) prägte dafür das nur für Wahrnehmungspsychologen verständliche Wort „Sinnkonstanz“. Deidre Wilson & Dan Sperber (2004, S. 608) sprechen von „expectations of relevance“: „the search of relevance is a basic feature of human cognition, which communicators may exploit.“ Unser Gehirn ist sozusagen immer auf Sinnsuche in mündlichen Äußerungen wie in schriftlichen Texten, man könnte von einem kognitiven Basismotiv sprechen.
Diese kommunikative Vorannahme kann den AdressatenAdressat eines Textes dazu bringen, erheblichen Verarbeitungsaufwand zu betreiben, um ein Verständnis zu konstruieren. Er befolgt die Maxime: „Strenge dich an, den Absender zu verstehen!“ Das bedeutet oft ein wiederholtes Lesen und zusätzliche Anstrengungen, die über das spontane VerstehenVerstehenspontan hinausgehen, wir bezeichnen sie als InterpretationInterpretation. Eine Interpretation setzt ein, entweder weil sich kein Verständnis einstellt, oder weil der Adressat mit dem Verständnis nicht zufrieden ist (Heringer, 1984; Scholz, 2016). Während die Interpretation noch im Text verankert ist, entfernt sich eine Deutung oder AuslegungAuslegung vom Text, hebt sozusagen ab und ist oft durch den Text nicht mehr vollständig gedeckt. Hier taucht die Gefahr der unterstellenden Spekulation auf (Sontag, 2016). Bei Sachtexten ist diese Gefahr allerdings deutlich geringer als bei literarischen Texten.
Vom spontanen VerstehenVerstehenspontan über die InterpretationInterpretation zur AuslegungAuslegung oder Deutung steigert sich der Verarbeitungsaufwand. Interessant bleibt die Frage, unter welchen Bedingungen diese Bemühungen um Verständnis abgebrochen werden. Jeder geht an einen Text mit der Einstellung heran, dass er grundsätzlich verstehbar ist, und ist deshalb auch frustriert, wenn er ihn nicht versteht. Jede nicht verstandene Äußerung ist eine Kränkung des Intellekts, der ein Betroffener mit Abbruch der Lektüre aus dem Weg gehen kann (dazu Kap. 4.4).
Bild 2:
Textverständlichkeit als Kooperation zwischen einem adressatenorientierten Absender und einem relevanzorientierten Adressaten.
KooperationKooperation und VertrauenVertrauen
Verständlichkeit ist das Ergebnis einer gemeinsamen Bemühung, wobei allerdings der Absender in Vorleistung geht. Verständlichkeit ist „nicht nur eine Frage der Bringschuld des Autors, sondern auch der Holschuld des Lesers: So wie sich der Autor auf den Leser zubewegen muß, muß sich auch der Leser auf den Autor zubewegen“ (Biere, 1996, S. 292). In Anknüpfung an die Tradition kann man von einer rhetorischen Aufgabe des Absenders und einer hermeneutischen Aufgabe des Adressaten sprechen. Der eine muss sich um die Formulierung, der andere um das Verstehen bemühen. Für dieses Zusammenspiel wird gern das Wort KooperationKooperation verwendet. „In general, a theory of comprehension must account for interpretations the listener comes to based on the assumption that the speaker is cooperating with him“ (Clark & Haviland, 1977, S. 3). Hans Jürgen Heringer (2004) hat darauf aufmerksam gemacht, dass Kooperation hier etwas anderes meint als der übliche Begriff der Kooperation. Unter Kooperation wird gewöhnlich das arbeitsteilige Zusammenwirken mindestens zweier Personen mit geteilter Intention verstanden. Sie stimmen ihre nichtsprachlichen und sprachlichen Handlungen aufeinander ab, um ein gemeinsames Ziel jenseits der Kommunikation zu erreichen, zum Beispiel in einem Projekt. Bei der Verständigung ist Kooperation jedoch allein darauf angelegt zu verstehen, was mit mündlichen oder schriftlichen Äußerungen in einer kommunikativen SituationSituationkommunikative gemeint ist, sie betrifft die Kommunikation selbst, kein Ziel außerhalb der Kommunikation. Als Basis dieser Kooperation dient ein wechselseitiges VertrauenVertrauen der Kommunikanten.
Der Absender äußert sich im Vertrauen darauf, dass der Adressat seine Äußerungen ernst nimmt und sich um ein Verstehen bemüht.
Der Adressat vertraut darauf, dass der Absender etwas für ihn Relevantes zu sagen hat, ihn nicht belügt und sich verständlich auszudrücken versucht.
Vertrauen ist eine wichtige Kategorie in der zwischenmenschlichen Kommunikation, darauf hat vor allem Johann Juchem (1988) aufmerksam gemacht. Vertrauen bleibt immer ein riskantes Gefühl, es kann enttäuscht und missbraucht werden, vor allem da es gerade in Situationen notwendig ist, in denen nur ein fragmentarisches Wissen über das Gegenüber besteht (Wertheimer & Birbaumer, 2016). Vertrauen in den Partner reduziert gerade bei Unsicherheit zunächst die Komplexität möglicher Interpretation. In der mündlichen Kommunikation zeigt sich kooperative Kommunikation am Einsatz verschiedener Methoden der VerständnissicherungVerständnissicherung wie Rückfragen, Wiederholen, Paraphrasieren (ausführlich Kap. 3.2). Vertrauen wird im Verlauf der Kommunikation durch positive oder negative Hinweisreize im Verhalten bestätigt oder widerlegt.
Wem „VertrauenVertrauen“ ein zu gefühliges Wort ist, der kann nüchterner von wechselseitigen HintergrunderwartungenHintergrunderwartung oder stillschweigenden Annahmen sprechen, die jede Kommunikation begleiten und erst thematisiert werden, wenn eine Person nicht kooperativ kommuniziert, wenn sie sich keine Mühe gibt, adressatenorientiert zu formulieren und absenderorientiert zu verstehen.
Es bleibt die interessante Frage, wie lange Kooperation und Vertrauen aufrechterhalten werden, wenn der Adressat zahlreiche unverständliche, schwer verständliche und widersprüchliche Aussagen liest. In der Linguistik wird die abwartende Haltung des Adressaten als Akzeptabilität bezeichnet (de Beaugrande & Dressler, 1981). Sie ist von der Frustrationstoleranz und der Motivation des jeweiligen Adressaten abhängig.
Fallibilität
Grundsätzlich ist ein letztgültiges oder vollständiges Verstehen einer Mitteilung nicht erreichbar oder überprüfbar. Der Adressat ist sich nie sicher, ob er auch das versteht, was der Absender meint. Umgekehrt kann sich auch der Absender nie sicher sein, ob seine Mitteilung verstanden wurde. Kommunikation ist deshalb prinzipiell fehlbar, Gerold Ungeheuer (2017) spricht von FallibilitätFallibilität. Der amerikanische Kognitionspychologe David Rumelhart (1981, S. 30) beschreibt die Situation so: „… the problem facing a comprehender is analogous to the problem that a detective faces when trying to solve a crime. In both cases there are a set of clues. The listener’s (or reader’s) job is to find a consistent interpretation of these clues.“ – „The speaker’s (or writer’s) problem is to leave a trail of clues which, in the opinion of the speaker, will lead the reader to make the inferences that the speaker wishes to communicate“.
Es gibt einige Denker, die von einem starken Misstrauen in die sprachliche Kommunikation geprägt sind. Sie verneinen eine sprachliche Verständigung zwischen Menschen grundsätzlich:
„Ein Hauptmittel des Nichtverstehens ist die Sprache. Wir wissen voneinander bei den einfachsten Begriffen nicht, ob wir bei einem gleichen Worte die gleiche Vorstellung haben. […] Durch die Sprache haben es sich die Menschen für immer unmöglich gemacht, einander kennen zu lernen“ (Mauthner, 1982a, S. 56).
„Ich begriff, dass Menschen zwar zueinander sprechen, aber sich nicht verstehen, dass ihre Worte Stöße sind, die an den Worten der anderen abprallen, dass es keine größere Illusion gibt als die Meinung, Sprache sei ein Mittel der Kommunikation zwischen Menschen. Man spricht zum anderen, aber so dass er einen nicht versteht. Man spricht weiter, und er versteht noch weniger. […] Selten dringt etwas in den anderen ein, und wenn es doch geschieht, dann etwas Verkehrtes.“ (Canetti, 1981, S. 48)
Für den Soziologen Niklas Luhmann (1981) ist nicht die gelingende Kommunikation der Normalfall, sondern eine Unwahrscheinlichkeit: „Die Sprache ist […] darauf spezialisiert, den Eindruck des übereinstimmenden Verstehens als Basis weiteren Kommunizierens verfügbar zu machen – wie brüchig immer dieser Eindruck zustandegekommen sein mag.“ (Luhmann, 1981, S. 32)
Zum Schluss ist auch Karl Valentin zu nennen, in dessen Gesprächen mit Liesl Karlstadt die Verständigung mit Sprache regelmäßig scheitert und sich die Beteiligten in Mehrdeutigkeiten, unscharfen Begriffen, Metaphern, Wortspielen verheddern (Valentin, 1990).
Kommunikative KompetenzenKompetenz
Adressatenorientierung und Relevanzannahme können als Bestandteile einer kommunikativen KompetenzKompetenz gesehen werden, die sowohl Absender als auch Adressat für eine angemessene und effektive Kommunikation einbringen müssen (Rickheit, Strohner & Vorwerg, 2008).
Formulierungskompetenz. Vom Absender wird die Fähigkeit verlangt, sich auf die jeweiligen Adressaten auszurichten. Diese AdressatenorientierungAdressatenorientierung ist nicht selbstverständlich, einige Autoren gehen davon aus, dass wir zunächst egozentrisch formulieren und egozentrisch verstehen (Keysar, Barr & Horton, 1998). Erst bei Störungen der Kommunikation setzten Bemühungen um adressatengerechtes Formulieren ein.
Verstehenskompetenz. Vom Adressaten wird die Fähigkeit verlangt, sich auf den Absender einzustellen und seine Äußerungen als grundsätzlich relevant aufzufassen. Auch wenn er Äußerungen spontan nicht gleich versteht, muss er sich unter Einsatz mentaler Ressourcen um eine Interpretation bemühen. Dazu gehört auch der bewusste Einsatz von Lerntechniken, die ein aktives Erschließen des Textes ermöglichen (Schnotz & Ballstaedt, 1995; Mandl & Friedrich, 2006).
Das kooperative Schaffen von Verständlichkeit nennen wir Verständigung! Sie gelingt in der mündlichen Kommunikation leichter (Kap. 3) als in der schriftlichen Kommunikation (Kap. 4).