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4.4 Probleme der Verständlichkeit

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„Nichts ist leichter, als so zu schreiben, dass kein Mensch es versteht; wie hingegen nichts schwerer, als bedeutende Gedanken so auszudrücken, dass jeder sie verstehen muss“, so ein Diktum von Arthur Schopenhauer (1986, S. 552). Warum gibt es schwer verständliche Texte? An dieser Stelle ist ein kurzer Blick auf die Kehrseite des Verstehens notwendig, auf die Fälle, in denen die Verstehensbemühungen scheitern. Drei Störfälle des Verstehens und der Verständlichkeit lassen sich unterscheiden: UnverständlichkeitUnverständlichkeit, SchwerverständlichkeitSchwerverständlichkeit, MissverständlichkeitMissverständlichkeit.

UnverständlichkeitUnverständlichkeit

Ein völliges Unverstehen ist z.B. der Fall, wenn man einen Text in einer fremden Sprache (fehlendes Kodewissen) oder über eine völlig unbekannte Wissensdomäne (fehlendes Weltwissen) liest. Ob es in der mündlichen Kommunikation einen „complete communicative breakdown“ geben kann, lässt sich bezweifeln, da über paraverbale Zeichen immer eine teilweise Verständigung möglich ist. Meist haben wir es mit einem partiellen Nichtverstehen zu tun, denn nur ein Teil der Mitteilung bleibt unverständlich oder nur eine Ebene des Verstehens ist betroffen.

MissverständlichkeitMissverständlichkeit

Dies ist der kommunikativ heikelste Fall, denn der Adressat glaubt verstanden zu haben, aber der Absender hat es anders gemeint. Marcus Friedrich (2017, S. 24) spricht treffend von einem Scheinverstehen. Im Alltag kann man aneinander vorbeireden. In der mündlichen Kommunikation wird Scheinverstehen entdeckt, wenn ein manifestes Missverständnis auftaucht: „So habe ich das doch gar nicht gemeint!“ Durch Rückmeldungen kann es schneller ausgeräumt werden als in der schriftlichen Kommunikation (Falkner, 2007). Tückisch ist das unbemerkte Missverstehen, weil es als vermeintliches Verstehen getarnt ist (Hinnenkamp, 1998). Die Grenzen zwischen Verstehen und Scheinverstehen sind fließend.

SchwerverständlichkeitSchwerverständlichkeit

In vielen Fällen verläuft das Verstehen spontan und automatisch. Kommt es aber ins Stocken, müssen wir Verstehensarbeit leisten, d.h. mentale Ressourcen einsetzen. In diesem Fall sprechen wir von schwer verständlichen Mitteilungen. SchwerverständlichkeitSchwerverständlichkeit resultiert aus der KomplexitätKomplexität der Sache oder der Art der Formulierung. Das Letztere ist dann ein Fall für die Praxis der TextverständlichkeitVerständlichkeitText-.

Es gibt auch Verteidiger schwer verständlicher Texte, deren Argumente in unserem Kontext durchaus interessant sind. Es werden in verschiedenen Variationen drei Argumente vorgebracht (Ballstaedt, 2016):

Das inhaltliche Argument. Die Wirklichkeit ist so komplex, dass sie sich nicht mit einfachen Wörtern und einfachen Satzkonstruktionen ausdrücken lässt. Mit diesem Argument verteidigt der Philosoph Johann Hamann (1730-1788) seine dunkle Prosa, hier theologisch eingefärbt: Da die Welt nur Gott und nicht dem Menschen verstehbar ist, kann ein Mensch über sie auch nicht verständlich schreiben. Die Texte spiegeln sozusagen die Nichtverstehbarkeit der Welt für den Menschen. UnverständlichkeitUnverständlichkeit wird hier als Protest gegen die Aufklärung und deren Forderung, sich klar auszudrücken, verstanden. Denn Aufklärer fordern eine klare und verständliche Sprache, z.B. Jean Lerond d’ Alembert (1717-1783) für die Enzyklopädie. Auch die deutschen Aufklärer fordern einen verständlichen Schreibstil, der auch außerhalb des akademischen Elfenbeinturms verstanden wird. Friedrich Nicolai (1773, S. 121), ein Vertreter der Berliner Aufklärung, beklagt, dass die Schreibenden in Deutschland nur auf sich selbst und „auf den gelehrten Stand“ bezogen sind und die übrigen Menschen verachten. Noch schärfer geht Christian Garve (1796, S. 343) mit den Schreibenden ins Gericht. Er verlangt „Klarheit und Leichtigkeit des Styls“ und lässt das beliebte Argument nicht gelten, dass Tiefe und Gründlichkeit mit Unverständlichkeit erkauft wird, im Gegenteil: „Man kann also mit Recht sagen, daß der höchste Grad der Vollkommenheit und Ausbreitung philosophischer Ideen dann erst erreicht ist, wenn sie sich allen Menschen von gebildetem Verstande, auf eine leichte Art, mitteilen lassen.“ In dieselbe Kerbe schlägt Georg Christoph Lichtenberg (1971, S. 157): „Die simple Schreibart ist schon deshalb zu empfehlen, weil kein rechtschaffener Mann an seinen Ausdrücken künstelt und klügelt.“ Er spottet über Autoren, die ihre „gelehrte Notdurft auf Papier verrichten.“ Dies sind klare Worte gegen einen schwer verständlichen akademischen Imponierstil, der insbesondere in Deutschland bis heute gepflegt wird und zur Sozialisation in einige Disziplinen gehört (Groebner, 2012). Bei den Adressaten wird eine unverständliche Sprache als Ausdruck von Expertise oder Intelligenz aufgefasst. Doch KomplexitätKomplexität ist nicht Kompliziertheit!

Das didaktische Argument. Dieses Argument wird gern mit pädagogischem Zeigefinger vorgetragen: Man darf es den Lesenden nicht zu einfach machen, schwierige Texte führen zu tieferer Verarbeitung. So wünscht sich Hamann Adressaten, die wiederkäuend lesen und sich durch den Text zum Denken anregen lassen. Lesen wird hier zwar als ein kreativer, kein rezeptiver Akt gesehen, aber die Verantwortung für das Verstehen wird völlig auf die Seite der Lesenden abgeschoben. Der oder die Schreibende braucht sich nicht um Verständlichkeit zu bemühen, im Gegenteil: UnverständlichkeitUnverständlichkeit wird geradezu als Voraussetzung für Verstehen gesehen, sozusagen als produktiver Trigger für eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Text (Schumacher, 2000). Unter bildungspolitischem Aspekt ist dieses Argument indiskutabel, vor allem, da es oft nur ein kleiner Schritt dazu ist, die Adressaten als unverständig oder dumm abzustempeln (Pogarell, 1999).1

Das ästhetische Argument. SchwerverständlichkeitSchwerverständlichkeit bereitet intellektuell anspruchsvollen Adressaten einen ästhetischen Genuss. Dies betrifft vor allem literarische Texteliterarischer Text, da bietet sich dieses Argument an. Keiner wird von Thomas Mann oder Thomas Bernhard einfordern, dass sie verständlich schreiben sollen. Norbert Groeben (1982, S. 152) nennt Verständlichkeit ein „Un-Kriterium für literarische Texte“. Für Verstehensprobleme werden gern rhetorische StilmittelStilmittel wie Metaphern, Ironie und Allusionen (= Anspielungen) verantwortlich gemacht, die eben manchen Lesenden überfordern. Das ästhetische Argument gilt aber sicher nicht für Sachtexte.

Alle drei Argumente haben eine gewisse Plausibilität, aber sie verschweigen die dunkeln Seiten der SchwerverständlichkeitSchwerverständlichkeit, diese dient oft der Verschleierung und Abschottung.

AbschottungAbschottung. SchwerverständlichkeitSchwerverständlichkeit kann als Mittel der sozialen Abgrenzung eingesetzt werden. So schreibt Friedrich Nietzsche im 381. Aphorismus der „Fröhlichen Wissenschaft“: „Es ist noch ganz und gar kein Einwand gegen ein Buch, wenn irgend jemand es unverständlich findet: vielleicht gehörte eben dies zur Absicht seines Schreibers – er wollte nicht von ‚irgend jemand‘ verstanden werden. Jeder vornehmere Geist und Geschmack wählt sich, wenn er sich mitteilen will, auch seine Zuhörer; indem er sie wählt, zieht er zugleich gegen die anderen seine Schranken.“ (Nietzsche, 1981, S. 256) Schwerverständlichkeit ist hier eine elitäre Strategie, sich nur Gleichgesinnten mitzuteilen und andere auszuschließen. Eine vergleichbare sektiererische Einstellung findet man in den „Schwarzen Heften“ von Martin Heidegger (2014): „Künftig muss das Unverständliche gewagt werden: jedes Zugeständnis an Verständlichkeit ist schon Zerstörung.“ Noch ein Zitat: „Das Sichverständlichmachen ist der Selbstmord der Philosophie“. Hiermit wird Kommunikation bewusst verweigert und nur Eingeweihte dürfen in den Elfenbeinturm des Philosophen eintreten. Schwerverständlichkeit wird zum Statussymbol.

VerschleierungVerschleierung. Immer wieder wurde der Verdacht geäußert, dass schwer verständliche Texte nur eine Schwäche der Argumentation verdecken sollen. Wer klar denkt, der kann sich auch klar ausdrücken. Wer verschwurbelt schreibt, der denkt auch so. Es gibt die „intendierte SchwerverständlichkeitSchwerverständlichkeitintendiert“ (Göpferich, 2002, S. 226), bei der durchaus gewollt ist, sich unverständlich auszudrücken, weil man eigentlich wenig zu sagen oder etwas zu verschweigen hat. Schwer verständliche Texte benötigen dann Vermittler wie Exegeten, Pressesprecher, Übersetzer, Kommentatoren usw., die eine Interpretationshoheit beanspruchen. Schwerverständlichkeit haftet oft etwas Esoterisches und Sektiererisches an.

Machtausübung. UnverständlichkeitUnverständlichkeit verweist auf eine verdeckte Machtausübung in Politik, Religion oder Recht, denn schwierige Texte führen zu einem Deutungsprivileg einer sozialen Gruppe (Enzensberger, 2004). SchwerverständlichkeitSchwerverständlichkeit von theologischen, philosophischen oder juristischen Texten führt zu Berufen, die für die InterpretationInterpretation bzw. AuslegungAuslegung zuständig sind, Juristen, Theologen oder Philologen (hermetische Hermeneutik). Ausgerechnet in der Politik dienen schwer verständliche Texte oft dazu, Interessen zu verschleiern und sich vor konkreten Äußerungen zu drücken: Schwerverständlichkeit begründet eine Abhängigkeit von Experten und Ratgebern.

Auf Seiten des Adressaten gibt es allerdings auch den Fall, dass er nicht verstehen kann oder will: „Doch was, wenn mein Gesprächspartner mich nicht verstehen kann, aus intellektuellen oder psychischen, aus kulturellen oder gesundheitlichen Gründen oder weil ihm einfach ein paar Informationen über mich fehlen? Was, wenn ich mein Gegenüber nicht verstehen will, weil mich kulturelle Vorurteile leiten, ich die Person nicht ausstehen kann oder sie dominieren will, weil mir der gute Wille zum Verstehen einfach fehlt?“ (Schulte, 2013). In der schwarzen RhetorikRhetorik wird sogar empfohlen, den Absender absichtlich misszuverstehen, z.B. empfiehlt Arthur Schopenhauer (2009, S. 61) diesen Kunstgriff: „Man erzwingt aus dem Satze des Gegners durch falsche Folgerungen und Verdrehung der Begriffe Sätze, die nicht darin liegen und gar nicht die Meinung des Gegners sind.“

Sprachliche Kommunikation: Verstehen und Verständlichkeit

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