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4.3 Adressat: RessourceneinsatzRessourceneinsatz

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Switchen wir jetzt auf die Seite des Adressaten, der mit einem Text konfrontiert wird. Seinen Anteil an der Verständlichkeit hat schon die traditionelle Hermeneutik erkannt. Um wichtige – ursprünglich mythologische, religiöse und juristische Texte – zu verstehen und zu interpretieren, hat sich seit der Antike die Wissenschaft der Hermeneutik herausgebildet. Sie hat eine sehr interessante Geschichte hinter sich: als Methode der InterpretationInterpretation, als Grundlegung der Geisteswissenschaft bis zu einer universalen Theorie des Verstehens (Scholz, 2016). Hermeneutische, psychologische und linguistisch-pragmatische Ansätze benutzen zwar eine unterschiedliche Terminologie, aber inhaltlich gibt es viele Überschneidungen, auf die wir im Folgenden aufmerksam machen.Sachtext1 In den aktuellen Theorien des Verstehens spielt die Hermeneutik nur eine marginale Rolle in geistreichen Fußnoten und Exkursen.

Hermeneutische Voraussetzungen

Martin Scholz hat in seiner Aufarbeitung der Frühgeschichte der Hermeneutik aufgedeckt, dass bereits im 18. Jahrhundert Regeln der InterpretationInterpretation aufgestellt wurden. So postuliert der Philosoph und Theologe Christian August Crusius vier PräsumptionenPräsumption, also Voraussetzungen, mit denen ein Interpret an einen Text herangehen soll (Scholz, 2016, S. 49/50, S. 159).

 PräsumptionPräsumption der Konsistenz. Der Adressat geht davon aus, dass der Text in sich konsistent ist und keine Widersprüche enthält.

 PräsumptionPräsumption der Deutlichkeit. Der Adressat unterstellt, dass ein Autor sich Mühe gibt, verständlich zu formulieren, um verstanden zu werden: „daher präsumiret man auch von ihm, daß er mit dem Sprachgebrauch rede, und daß er Dunkelheit und Zweideutigkeit verhüte. Denn es ist der natürliche Zweck der Rede, daß man verstanden sein will“ (zitiert nach Scholz, 2016, S. 49).

 PräsumptionPräsumption der Zweckrationalität. Hier werden das Kooperationsprinzip und die Maxime der Relation bzw. Relevanz von Grice vorweggenommen: Ein Beitrag soll dem allgemeinen Zweck, also den geteilten Intentionen der Kommunikationspartner dienen.

 PräsumptionPräsumption der Zustandsgemäßheit. Diese Unterstellung muss man wohl so verstehen, dass das Geschriebene dem derzeitigen Zustand des Autors entspricht. Das entspricht dem Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit bei Habermas.

Es fällt auf, dass die PräsumptionenPräsumption wieder an die Rationalität gekoppelt sind: Ein vernünftiger Interpret handelt nach einem hermeneutischen „principle of charity“, das dem Autor und seinem Text wohlwollend und nachsichtig entgegenkommt. Der amerikanische Philosoph Donald Davidsons formuliert später ein globales Rationalitätsprinzip: „Interpretiere die fremde Person als rationale Person“ (zitiert nach Scholz, 2016, S. 117). Zwar sind die Präsumptionen grundsätzlich als widerlegbar gedacht, immer wieder wird die Klausel „bis zum Nachweis des Gegenteils“ beschworen. Wer aber an der Rationalität seines Gegenübers zweifelt, bei dem liegt auch die Beweislast. Ein Problem bleibt ungelöst: Welche konkreten Kriterien gibt es, um festzustellen, dass ein Autor sich nicht um Verständlichkeit bemüht, nicht aufrichtig ist und lügt oder gar verwirrt und unzurechnungsfähig ist? Die geforderte Nachsicht hat sicher ihre Grenzen: Zu viele unscharfe Begriffe, Widersprüche, Mehrdeutigkeiten, Fehlschlüsse, Inkonsistenzen, dunkle Passagen, Inkohärenzen usw. wird man auch bei aller hermeneutischen EmpathieEmpathie keinem Textproduzenten durchgehen lassen.

Als methodisches Prinzip ist es sicher sinnvoll, nicht bei jedem unverstandenen Satz sofort an den Fähigkeiten des Absenders zu zweifeln, sondern sich um ein Verstehen zu bemühen. Das Prinzip hat heuristische Funktion, es soll bewirken, unvoreingenommen und offen für neue Einsichten zu bleiben. Die PräsumptionenPräsumption werden als konstitutiv für das Interpretieren angesehen, allerdings wird das Gelingen des Verstehens den Adressaten aufgebürdet, während die Absender mit großem Wohlwollen und Vertrauensvorschuss behandelt werden.

Die Spirale des VerstehensSpirale des Verstehens

Hermeneutiker haben zwar die Verstehensprozesse nicht im Detail untersucht, wie heute die Psycholinguistik und die Kognitionspsychologie, aber sie haben eine Theorie entwickelt, wie ein Text im zeitlichen Verlauf verstanden und interpretiert wird.

1. Ausgangspunkt ist die hermeneutische Differenzhermeneutische Differenz, der Unterschied zwischen Absender und Adressat. Zwischen beiden können historische, gesellschaftliche und sprachliche Unterschiede bestehen. In unserem Modell stecken diese Differenzen in den nur teilweise geteilten Intentionen und Wissensbeständen. Diese Differenz taucht bei vielen Hermeneutikern auf: Wilhelm Dilthey spricht von einer „Verfremdung“, Hans-Georg Gadamer sieht die Hermeneutik „zwischen Fremdheit und Vertrautheit“, Paul Ricœur spricht von einer „distanciation“.

2. Wir gehen immer schon mit einem gewissen VorverständnisVorverständnis an einen Text heran, mit dem wir ihn zu verstehen suchen (Kümmel, 1965). Dieses Vorverständnis wird sich teilweise bestätigen, teilweise muss es aufgrund der Lektüre verändert werden. Das Textverständnis erweitert und modifiziert das Vorverständnis, mit dem weitergelesen wird usw. (Bild 4). Beim Verstehen schriftlicher Texte durchläuft der Lesende einen hermeneutischen Zirkel, oder besser eine hermeneutische Spirale (Bolten, 1985; Stegmüller, 1996). Dabei geht es um das Verhältnis des Ganzen zu seinen Teilen auf zwei Ebenen: Wir verstehen ein Wort im Kontext des Satzes, einen Satz im Kontext des Gesamttextes, dieser Gesamttext aber setzt sich aus den zu verstehenden einzelnen Sätzen zusammen. Aufgelöst wird diese Zirkularität durch das fortlaufende Lesen, da die Lektüre jedes Satzes das Verstehen des Gesamttextes erweitert, was wiederum auf das Verstehen der folgenden Sätze zurückwirkt (Dilthey, 1981). Das ist eine Beschreibung des kontinuierlichen Zusammenwirkens von textgeleiteten und wissensgeleiteten Verstehensprozessen, das schließlich zu einem Verständnis führt, das aber grundsätzlich vorläufig ist. Denn der Prozess der InterpretationInterpretation ist nie abgeschlossen, ein Text kann immer wieder neu gelesen und neu interpretiert werden. Das gilt vor allem für literarische Texteliterarischer Text, denn sie sind grundsätzlich für verschiedene Interpretationen offen (Eco, 1999), aber auch Sach- und Gebrauchstexte bleiben davon nicht verschont: So lesen wir heute z.B. die Bücher von Charles Darwin oder Sigmund Freud mit einem anderen Vorverständnis als ihre Zeitgenossen.

3. Ein Problem stellt die Validität (Gültigkeit) einer InterpretationInterpretation dar. Sind grundsätzlich alle Interpretationen gleichwertig, oder gibt es Kriterien für mehr oder weniger adäquate Verständnisse (Rusterholz, 1979)? Eine Interpretation kann auch einen Text bzw. den Autor bzw. die Autorin vergewaltigen, indem Deutungen unterstellt werden. Susan Sontag (2016) spricht in ihrem Essay „Against Interpretation“ von aggressiven und pietätlosen Interpretationen, die einen Text für eine Theorie oder Weltanschauung vereinnahmen.

Die hermeneutische Theorie verlagert das Problem der Verständlichkeit auf die Adressaten. Sie müssen Verstehensarbeit leisten, während den Autoren erstaunlich viel Nachsicht entgegengebracht wird. Einen Freibrief zum Formulieren bekommen die Textproduzenten allerdings nicht, auch Crusius verlangt mit der Präsumption der Deutlichkeit, dass sich ein Textproduzent verständlich für die Adressaten ausdrückt. Damit ist seine Hermeneutik nicht weit von unserem kommunikativen Ansatz von Verstehen und Verständlichkeit entfernt.

Bild 4:

Unser Vorverständnis (1. VV) beeinflusst das Textverstehen (1. TV), dieses wirkt wieder auf das Vorverständnis (2. VV) zurück, mit dem wir dann weiterlesen usw. Der hermeneutische Zirkel wird zur Spirale, sobald wir eine Zeitachse einziehen.

Sprachliche Kommunikation: Verstehen und Verständlichkeit

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