Читать книгу Sprachliche Kommunikation: Verstehen und Verständlichkeit - Steffen-Peter Ballstaedt - Страница 27
5.2 Indikatoren des VerständnissesIndikatorenVerständnis
ОглавлениеDas Verständnis ist das Produkt des Verstehens und kann nach dem Verstehen über Leistungen erfasst werden, die ein Verständnis des Textes voraussetzen. Dabei bleibt ein Schluss von einer Leistung auf die dahinterliegenden Prozesse und Strukturen allerdings immer gewagt, also auch hier muss die jeweilige Validität hinterfragt werden.
FragenFrage beantworten
Die Beantwortung von offenen FragenFrage nach der Textlektüre ist die älteste Methode zur Erfassung des Verstehens, die bis heute in pädagogischen Situationen (mündliche Prüfungen, Tests) verbreitet ist (Anderson, 1972; Graesser & Black, 2017). Es gibt verschiedene Typen von Fragen, die ganz unterschiedliche Anforderungen an den Adressaten stellen:
Wissensfragen sind durch den direkten Abruf von Wissen im semantischen LangzeitgedächtnisGedächtnisLangzeit- zu beantworten: Bezeichnungen, Definitionen, Daten, Fakten. Die richtige Beantwortung einfacher Faktenfragen sagt aber wenig über das Verstehen aus, das geht auch über schlichtes Behalten.
Verständnisfragen sind anspruchsvoller, denn sie erfordern Inferenzen, Kombinationen, Verallgemeinerungen über den Text hinaus. Dass Verständnisfragen Verstehen erfassen, ist unstrittig, allerdings ist es schwierig, den jeweiligen Aufwand einzuschätzen, den ihre Beantwortung erfordert.
Anwendungsfragen sind am anspruchsvollsten, denn sie verlangen die Übertragung des Gelernten in neue Bereiche.
Auf offene FragenFrage kann die Person frei antworten, die verbalen Daten sind aber nicht einfach auszuwerten, dazu sind AuswahlfragenAuswahlfrage (Multiple Choice [MC]) besser geeignet.
AuswahlfragenMultiple ChoiceAuswahlfrage (Multiple Choice [MC]), Multiple Choice (MC)
MC-Fragen zu einem Text geben Antwortmöglichkeiten vor, von denen die zutreffenden angekreuzt werden müssen. In der Pädagogik gelten sie als wenig geeignet zur Überprüfung von Verstehen, da man auch mit Raten einen guten Wert erreichen kann. MC-Aufgaben können aber durchaus valide sein, wenn die falschen Antworten (sogenannte Distraktoren) sorgfältig konstruiert werden. Zudem gibt es Varianten, bei denen man mit Raten nicht weit kommt, z.B. beim Aufgabentyp „n aus 5“. Dabei werden fünf Antworten vorgegeben, von denen eine, zwei oder drei zutreffend sein können (Friedrich, Klemt & Schubring, 1980). Derartig komplexe MC-Aufgaben haben sich im Testwesen durchaus bewährt. Testen Sie Ihr Wissen aus dem vorangegangenen Kapitel:
Welche Aussage/Aussagen über die MaximenMaximen von Grice sind zutreffend (ein, zwei oder drei Ankreuzungen sind möglich):
☐ 1. Die Maxime der Aufrichtigkeit fordert die Wahrheit der Aussagen.
☐ 2. Die Maxime der Relation wird auch Maxime der Relevanz genannt.
☐ 3. Konversationelle Implikationen sind die Ursache von Missverständnissen.
☐ 4. Das Kooperationsprinzip setzt rationale Kommunikationspartner voraus.
☐ 5. Verständlichkeit wird in der Maxime der Qualität gefordert.1
Inhalte behalten
In der kognitionspsychologischen Gedächtnisforschung werden verschiedene Maße des Behaltens verwendet. Sie sind einfach zu erheben, aber als Indikatoren des Textverstehens nicht unproblematisch.
Freies Wiedergeben (Free ReRecallcallWiedergabe (Recall)). Nach der Lektüre wird eine Reproduktion des Inhalts bzw. eine Paraphrasierung verlangt.2 Diese verbalen Daten haben nur eine begrenzte Validität, denn ein Verständnis wird nicht unbedingt erfasst. Wie schon die Alltagserfahrung zeigt, gibt es Inhalte, die wir beim Lesen verstehen und doch wieder vergessen und es gibt Inhalte, die wir nicht verstehen, die aber haften bleiben.
Gelenktes Wiedergeben (Cued RecallWiedergabe (Recall)). Es wird eine Hilfestellung zum Abruf gegeben, z.B. ein Stichwort, das dem Gedächtnis Aussagen entlocken soll.3 Dieses Maß hat noch weniger mit dem Verstehen zu tun, denn auch unverstandene Aussagen können mit geeigneten Cues rekonstruiert werden. Zudem ist es nur für kurze Texte geeignet. Bei längeren Texten kann ein formales Raster vorgegeben werden, das von der Vp ausgefüllt werden muss, um die Erinnerung an den Text voll auszuschöpfen: Hauptaussagen, Beispiele, Anwendungen, Vertreter usw. (Christmann, 1989).
WiedererkennenWiedererkennen (Recognition) (RecognitionRecognition). Ein Wort oder Satz wird vorgelegt und die Vp muss entscheiden, ob sie im Ausgangstext vorkamen. Auch dieses Maß ist ein schlechter Indikator des Verstehens, denn Wiedererkennen kann man auch ohne jedes Verständnis.
Jan Kercher (2013) schließt die Maße des Behaltens aus seiner Liste von Verstehensindikatoren aus, da sie weniger das Verstehen, sondern das Lernen betreffen. Dies ist allerdings radikal, denn auch wenn Behalten nicht gleich Verstehen ist, sind beide doch nicht völlig unabhängig voneinander: Was man versteht, integriert man in seine Wissensstrukturen und kann es wahrscheinlich auch besser abrufen. Verstehen ist zwar keine notwendige, aber sicher eine förderliche Bedingung für das Behalten (Schwarz, 1981). Ein zweites kritisches Argument in Hinblick auf die Validität: Es bleibt unklar, welche Verstehensprozesse mit dem Behalten erfasst werden: Prozesse zum Zeitpunkt der Verarbeitung oder Prozesse zum Zeitpunkt der Wiedergabe oder beides (Rickheit, Sichelschmidt & Strohner, 2002).
Zusammenfassen
Hier wird das Behalten des Wesentlichen aus einem Text verlangt. Die Konstruktion einer ZusammenfassungZusammenfassung ist eine anspruchsvollere Aufgabe als das bloße Wiedergeben. Wer die Inhalte eines Textes prägnant und kohärent zusammenfasst, der muss ihn wohl verstanden haben. Die reduktive Verarbeitung mittels spezieller Inferenzen ist recht gut erforscht (Ballstaedt, 2006).
Schnotz, Ballstaedt & Mandl (1981) legten Vpn einen schwierigen soziologischen Text mit der Instruktion vor, zunächst eine mündliche ZusammenfassungZusammenfassung der wichtigsten Inhalte zu erstellen. Später wurde unerwartet eine freie WiedergabeWiedergabe (Recall) des Textes verlangt. Ausgangstext, Zusammenfassung und Wiedergabe wurden in Bedeutungseinheiten zerlegt und inhaltlich miteinander verglichen. So konnten zahlreiche Verarbeitungsprozesse wie Tilgungen, Elaborationen, Verallgemeinerungen, Bündelungen nachgewiesen werden, die den Ausgangstext in eine Zusammenfassung überführen.
Die Validität der Methode ist gut, allerdings fallen keine zwei ZusammenfassungenZusammenfassung eines Textes gleich aus, denn was als wesentlich angesehen wird, hängt auch von den Intentionen und Interessen der Lesenden ab.
Textlücken ausfüllen
Der LückentestLückentest (Cloze Procedure) (Cloze Procedure) ist besonders in der amerikanischen Instruktionspsychologie beliebt, da er einfach durchzuführen ist und harte reliable Daten liefert. Nach der Lektüre eines längeren Textes (min. 250 Wörter) wird dieser noch einmal vorgelegt, dabei ist ursprünglich jedes fünfte Wort gestrichen und muss von der Vp ergänzt werden. Alle Lücken sind gleich groß und in der strengen Variante wird nur genau dasselbe Wort des Ausgangstexts als korrekt akzeptiert.
Die Kritik an der Validität des Verfahrens liegt auf der Hand: Es misst weniger das Verstehen, sondern eher den Redundanzgrad eines Textes (Heringer, 1979). Die Validität des Verfahrens kann aber durch die Art der Auslassungen gesteigert werden (Christmann, 2009). Es sollten nur Inhaltswörter sein, die möglichst auch noch zentrale Konzepte betreffen. Auch das Auslassen von kausalen, temporalen, adversativen und anderen Konjunktionen ist ein brauchbarer Indikator für Verstehen.
StrukturlegenStrukturlegen, Wissensdiagnose
Die Veränderung von Wissensstrukturen beim Verstehen kann über Karten externalisiert werden. Ein Verfahren dazu ist die Heidelberger Struktur-Lege-Technik, sie wurde als standardisierte Methode zur Erfassung subjektiver Theorien entwickelt (Scheele & Groeben, 1984). Dabei müssen sich die Vpn zuerst in einem Übungsteil mit einem Satz vorgegebener Relationen zwischen Konzepten vertraut machen, z.B. Überordnung, Inklusion, Attribut, positive, negative und wechselseitige Abhängigkeit usw. Danach beschriften sie Karten mit ihnen bekannten Konzepten aus einer Wissensdomäne und basteln daraus mittels der Relationen ihre Wissensstruktur.
Ballstaedt & Mandl (1991) haben die Methode zur Erfassung von Wissen vor und nach der Lektüre eines Textes eingesetzt. Die Vpn externalisierten zuerst ihr Wissen über Vulkane, indem sie Kärtchen mit Begriffen beschrifteten und mit einem Satz vorgegebener Relationen zu einer kohärenten Struktur verknüpften. Danach lasen sie einen wissenschaftlichen Text über Vulkanismus und bekamen die Möglichkeit, ihre Struktur zu verändern. Auf diese Weise konnten Prozesse der Anreicherung, Ausdifferenzierung, Umstrukturierung (accretion, tuning, restructuring nach Rumelhart & Norman, 1976) sichtbar gemacht werden.
Bei der Keyword Sorting Task werden den Adressaten nach der Lektüre textrelevante Wörter auf Kärtchen angeboten, die sie in eine Struktur bringen müssen. Gemessen wird die Übereinstimmung dieser Struktur mit der semantischen Struktur des Textes (McNamara & Kintsch, 1996).
Die Validität dieser Verfahren ist nur zufriedenstellend, wenn sich die Vpn wirklich Mühe geben, ihr Wissen auf den Tisch zu legen.
UsabilityUsability-Testing
Handlungsorientierte Texte wie z.B. BedienungsanleitungenBedienungsanleitung oder Kochrezepte werden mit der Intention gelesen, anschließend etwas zu können, sie sollen Anschlusshandlungen vorbereiten. Nach dem Diktum „Der Leser liest, um zu X-en“ hat Christoph Sauer (1995) die Anwendbarkeit oder „Intentionsadäquatheit“ als einen Indikator der TextverständlichkeitVerständlichkeitText- eingeführt (Prestin, 2001). Hier ist der Indikator der korrekten Umsetzung der Anleitungen in Handlungen überaus valide: Wer aufgrund einer Bedienungsanleitung ein Gerät benutzen kann, der hat den Text verstanden. Bei UsabilityUsability-Tests bekommt der Benutzer den Text und eine Aufgabe, die er mit der Lektüre lösen soll, z.B. mit einer Montageanleitung ein Bett zusammenbauen. Bei der Umsetzung werden die Dauer einzelner Handlungsschritte, Fehler bei der Umsetzung und die verbalen und paraverbalen Reaktionen registriert und ausgewertet.
Methodenmix
Diese breite Palette an empirischen Möglichkeiten, um an Verstehen und Verständnis heranzukommen, könnte noch durch weitere Verfahren und Varianten ergänzt werden. Von der quantitativen Messung von Millisekunden bis zur qualitativen Analyse von verbalen Daten sind sehr verschiedene methodische Zugänge zum Verstehen beschritten worden. Damit erfüllt die Forschung zwei Forderungen an die Empirie (Hussy, Schreier & Echterhoff, 2013): 1. Sich einem Forschungsgegenstand aus verschiedenen Perspektiven anzunähern und dabei 2. unterschiedliche, quantitative wie qualitative Methoden einzusetzen. Bei einem Methodenmix können sich Daten ergänzen und Befunde wechselseitig validieren. Das Fachwort: Datentriangulation.