Читать книгу Sprachliche Kommunikation: Verstehen und Verständlichkeit - Steffen-Peter Ballstaedt - Страница 13
3.1 Merkmale mündlicher Kommunikation
ОглавлениеDie Ursprünge der Kommunikation liegen wahrscheinlich im gestischen Bereich (Tomasello, 2009), die mündliche Kommunikation ist bereits ein spätes Stadium der Entwicklung. Im Hinblick auf Verstehen, Verständigung und Verständlichkeit spielen folgende Merkmale der mündlichen Kommunikation eine Rolle (ausführlich Dürscheid, 2012a):
WahrnehmungsumfeldWahrnehmungsumfeld. In der mündlichen Face-to-face-Kommunikation befinden sich die Kommunikanten in einem geteilten raum-zeitlichen Setting, auf das sie mit Zeigegesten oder deiktischen Ausdrücken Bezug nehmen können. Zur Erinnerung: Umfelder werden subjektiv wahrgenommen und ihre Wahrnehmung muss bei den Kommunikanten nicht übereinstimmen.
KopräsenzKopräsenz. Die Kommunikanten reagieren direkt aufeinander, sie sehen und hören, wie der andere ihre Mitteilungen aufnimmt. Durch die direkte Rückmeldung können Verstehensprobleme mit Methoden der VerständnissicherungVerständnissicherung schnell ausgeräumt werden. Bereits Friedrich Schleiermacher betont 1826/27 in einer Vorlesung, dass „der mündlichen Rede in der Regel vieles zu Hilfe kommt, wodurch ein unmittelbares Verständnis gegeben wird“ (Schleiermacher, 1977, S. 91).
FlüchtigkeitFlüchtigkeit. Ein für das Verstehen wichtiges Merkmal ist die Vergänglichkeit der gesprochenen Sprache (flatus vocis). Hat der Adressat eine Äußerung nicht verstanden oder missverstanden, so ist sie verklungen und nicht mehr rückholbar. Das Hören erfordert deshalb eine größere Aufmerksamkeit als das Lesen, bei dem jederzeit eine Wiederholung möglich ist. Für die Verständlichkeit spielt deshalb die Artikulation eine wichtige Rolle: Sprechgeschwindigkeit, klare Akzentuierungen, Pausen usw.
UnvollkommenheitUnvollkommenheit. Die spontan gesprochene Sprache ist weniger perfekt als die schriftliche Sprache. Es kommen grammatische Fehler, Ellipsen, Anakolute, Nachschübe, Partikelwörter, Versprecher, Selbstkorrekturen, Dialektismen usw. vor. Zudem ist die Artikulation oft durch Verzögerungen (Häsitationen) und Einschübe (Interjektionen) unterbrochen, die zum Inhalt nichts beitragen. Diese Abweichungen von einer Standardsprache wirken sich nicht unbedingt negativ auf das Verstehen aus, im Gegenteil bewirkt imperfektes Sprechen eine erhöhte Aufmerksamkeit und intensiveres Mitdenken, denn die Adressaten generieren Hypothesen über die korrekte Formulierung (Fraundorf & Watson, 2011).
Pragmatische Explizitheit. Oft legt in der mündlichen Kommunikation die Prosodie fest, welche sprachliche Handlung vollzogen wird. Über Betonung, Intonation, Sprechpausen usw. werden intentionale und expressive BedeutungenBedeutungexpressiv ausgedrückt, die im Text nicht explizit enthalten sind.
(1) | Du fährst morgen ab. |
Die Äußerung (1) kannn je nach Betonung eine Feststellung, eine Frage oder einen Befehl bedeuten. Dazu gehören auch sprachbegleitende Gesten: „Gestures […] and speech […] co-occur and are coexpressive acts of speaking“ (McNeill, 1992, S. 218).
Koordinationsprozesse
Mündliche Kommunikation ist ohne wechselseitige Einstellung auf den Partner zum Scheitern verurteilt. Gegenseitige Annahmen über die Intentionen und das Wissen der Kommunikanten spielen eine zentrale Rolle. Viele Verständnisprobleme und Missverständnisse gehen darauf zurück, dass derartige Annahmen falsch sind oder zu wenig berücksichtigt werden. Wenn ein Absender spricht und schreibt, ohne sich um die Adressaten zu kümmern, spricht man von egozentrischem Formulieren. Raymond Nickerson (1999) hat die Hypothese aufgestellt, dass der Absender zunächst vom eigenen Kopf ausgeht: Er unterstellt, dass sein Wissen mit dem des Adressaten übereinstimmt und redet und schreibt „über die Köpfe“ der Adressaten hinweg. Dies bestätigen Experimente von Keysar, Barr & Horton (1998): Der Absender formuliert zunächst egozentrisch und erst bei Anzeichen, dass der Adressat nicht oder falsch verstanden hat, wird die Äußerung angepasst. Egozentrisches Formulieren stellt bei kooperativ eingestellten Gesprächspartnern sicher nicht den Normalfall dar, wird aber häufig zum Problem in der Kommunikation mit Experten. Erfolgreiche mündliche Kommunikation wird fortlaufend über Grounding, Monitoring, Alignment und Metakommunikation koordiniert.
GroundingGrounding. Kooperative Partner stellen sich auf VorwissenVorwissen und IntentionenIntention des anderen ein und versuchen fortlaufend das geteilte Wissen und die geteilten Intentionen zu erweitern (Clark & Brennan, 1991). Dabei werden alle brauchbaren Informationen ausgewertet: die Wahrnehmungsumgebung, die aufgebauten ImagesImage, der bisherige Gesprächsverlauf usw.
Das Grounding lässt sich besonders eindrücklich bei entstehenden Beziehungen beobachten. Es gibt viel Gesprächsbedarf, um gemeinsames Wissen und gemeinsame Intentionen abzuklären. Dahinter steht das Interesse herauszubekommen, ob man zusammenpasst und eine weitere Kommunikation sinnvoll ist. Mit längerer Kommunikationsgeschichte nimmt der Gesprächsbedarf ab, dafür stellt sich gegenseitige Vertrautheit ein.
MonitoringMonitoring. Das Grounding setzt die fortlaufende Beobachtung des Adressaten auf verbale, mimische und gestische Anzeichen des Verstehens oder Nichtverstehens voraus: Reagiert er mit einem zögerlichem „Hm“? Runzelt sie die Stirn? Zieht er die Mundwinkel nach unten? Nickt sie mit dem Kopf? Diese gegenseitige Beobachtung wird als Monitoring bezeichnet.
Experten neigen dazu, ihr Fachwissen demonstrativ zur Schau zu stellen und unkooperativ über die Köpfe anderer hinwegzureden, dann findet weder MonitoringMonitoring noch GroundingGrounding statt. Ein anderes Beispiel: In Arbeitsgruppen kann man erleben, dass nicht kooperativ eingestellte Personen ihr Wissen gegenüber anderen ausspielen und sich keine Mühe geben, geteiltes Wissen aufzubauen. Sie bleiben gegenüber Rückmeldungen anderer unempfindlich, d.h. ihr Monitoring funktioniert nicht. Sie können nur durch massives Nachfragen dazu gezwungen werden, ihre Äußerungen anzupassen und ihr Wissen einzubringen.
AlignmentAlignment. Im Verlauf einer sprachlichen Kommunikation bzw. eines Gesprächs findet eine unbewusste Angleichung der Kommunikanten statt (Rickheit, 2005; Garrod & Pickering, 2007). Die Gesprächspartner passen kontinuierlich ihren Sprechstil, ihr Vokabular, ihre Syntax, ja sogar ihre Aussprache aneinander an. Während Grounding explizit sprachlich erfolgt, ist Alignment ein automatischer Prozess. Sind die Gesprächspartner gut aligniert, befördert das das wechselseitige Verstehen.
MetakommunikationMetakommunikation. Gemeint ist damit eine explizite sprachliche Verständigung über die abgelaufene Kommunikation. Metakommunikation ist nützlich oder sogar notwendig, wenn Verstehensprobleme oder Missverständnisse aufkommen. Die Beteiligten können metakommunikativ die Schwierigkeiten ansprechen und klären. Diese Kommunikation über Kommunikation ist allerdings wieder von Verständnisproblemen bedroht, vor allem, wenn das VertrauenVertrauen in die Beteiligten fehlt (Zierold, 2008). Zu viel Metakommunikation ist sicher ein Indiz für grundlegende Probleme in einer Beziehung.
All diese bewussten und unbewussten Koordinationsprozesse sind von großer Bedeutung für das gegenseitige Verstehen.