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1.1 Grundannahmen

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Schon in der klassischen Rhetorik und ausführlich in der Hermeneutik war Verstehen und Verständlichkeit ein Thema, das derzeit in der Kognitionspsychologie und der Linguistik weitergeführt wird, allerdings nicht kontinuierlich und kumulativ, sondern in zahlreichen und verzweigten Forschungslinien. Die theoretischen und praktischen Ansätze sind kaum noch zu überblicken. Keine meiner Grundannahmen ist vollständig neu, in einem so traditionsreichen Forschungsgebiet steht man als Zwerg auf den Schultern von Riesen. Das Literaturverzeichnis zeigt, auf wie vielen Grundpfeilern das theoretische Gebäude errichtet ist. Ohne Respekt vor disziplinären Zäunen möchte ich die unterschiedlichen Forschungslinien zusammenführen: Hermeneutik, Sprachphilosophie, Philologie bzw. Interpretationstheorie, Linguistik und Psycholinguistik, Sprachpsychologie und Kognitionspsychologie. Einzig die Neuropsychologie habe ich ausgespart, obwohl sie durchaus ergänzende Beiträge zum Thema liefern könnte.

Aus diesem breiten Blickwinkel sind drei Einschränkungen notwendig:

1. Es geht um SachtexteSachtext, deren primäre Absicht es ist, über Sachverhalte zu informieren.1 Dazu gehören auch FachtexteFachtext, Fachsprache verschiedener Disziplinen und Wissensdomänen. Ganz ausgeblendet bleiben literarische Texte, obwohl das Verstehen dort nicht grundsätzlich anders abläuft (Kintsch, 1994). Verständlichkeit ist aber kein sinnvolles Kriterium für literarische Werke.

2. Der Fokus liegt auf schriftlichen Texten. Trotzdem kommt man um die mündliche Verständigung nicht herum, um im Vergleich die Probleme der Textverständlichkeit herauszuarbeiten. Die kommunikative Situation ist beim Schreiben und Leseverstehen eine völlig andere als beim Sprechen und Hörverstehen.

3. Die Präsentation von Texten in anderen Medien auf einem Monitor oder dem Display eines Smartphones, wird nicht berücksichtigt. Ich gehe allerdings davon aus, dass die Leitlinien verständlicher Sprache für alle medialen Präsentationen gleich sind.

Verständlichkeit als theoretisches Problem

Ein Text bekommt die Eigenschaft „verständlich“ zugesprochen, indem ein Leser bzw. eine Leserin sein bzw. ihr eigenes Verstehen beurteilt. Durch die Substantivierung zu „Verständlichkeit“ wird daraus ein Merkmal, von dem ein Text mehr oder weniger besitzen kann. Diese Substantivierung führt allerdings in die Irre.

1. Verständlichkeit ist keine fixe Eigenschaft einer sprachlichen Mitteilung sondern eine kommunikative Kategorie und muss in einer Theorie der Kommunikation eingebettet sein. Für pragmatisch orientierte Linguisten ist das eine Selbstverständlichkeit (Heringer, 1979; Fritz, 1991), in der Psychologie hat sich diese Erkenntnis erst später durchgesetzt. Verständlichkeit ist das Ergebnis einer Kooperation zwischen Absenderund Adressat. Verständlich ist eine Mitteilung – ein mündlicher oder schriftlicher Text – immer nur für einen bestimmten Adressaten oder eine bestimmte Adressatengruppe.

2. Verstehen findet im Kopf des Adressaten statt und das Ergebnis lässt sich nie über den Text allein vorhersagen. Vor allem das Vorwissen und der Einsatz von kognitiven Ressourcen bei den Adressaten spielen eine entscheidende Rolle. Der Text ist sozusagen nur eine Ausgangsbedingung, er regt Verarbeitungsprozesse an, aber er determiniert das daraus resultierende Verständnis nicht. Der Absender kann über die sprachliche Formulierung das Verstehen aber erleichtern oder erschweren.

3. Verständlichkeit ist abhängig vom Verarbeitungsaufwand, der zum Verstehen erforderlich ist. Wer ein Urteil über die Verständlichkeit eines Textes ausspricht, der schätzt ein, wie viele mentale Ressourcen er zum Verstehen einsetzen musste. Diese Idee findet sich bereits 1884 bei Herbert Spencer (2018), der Schwerverständlichkeit als eine von der Sprache verursachte geistige Anstrengung auffasst. Dabei spielen Beschränkungen der Kapazität im Arbeitsgedächtnis eine wichtige Rolle.

4. Es gibt verschiedene Verstehensprozesse, die den Einsatz mentaler Ressourcen erfordern. Einmal die grammatische Verarbeitung der Wörter, Sätze und Texte. Die deutsche Grammatik lässt Wortbildungen, Satzkonstruktionen und Textverknüpfungen zu, die zwar korrekt, aber für die Verarbeitung aufwendig sind. Zum anderen die pragmatische Verarbeitung, bei der es um das Verstehen der mit einer Äußerung vollzogenen Handlung geht. Vage und mehrdeutige Formulierungen erschweren nicht nur das Verstehen, sondern führen auch zu Missverständnissen. Schließlich lassen sich über einen anregenden Text auch motivationale Ressourcen aktivieren.

Mit diesen Annahmen wird ein kognitiver Konstruktivismus vertreten: Verstehen ist keine passive Entnahme von Bedeutungen aus einem Text, sondern die aktive Konstruktion eines Verständnisses.

Verständlichkeit als praktisches Problem

An Anleitungen für verständliches Schreiben und verständlichen Stil besteht keinerlei Mangel: seit der Stilkunst von Eduard Engel (1911, 2016) – erfolgreich plagiiert und arisiert von Ludwig Reiners (1943, 1961) – bis zu den strengen Traktaten des aktuellen Stilpapstes Wolf Schneider (1994, 2005) und den abwägenden Stilbetrachtungen von Willy Sanders (1990, 1998). Was verständliche Sprache ausmacht, das ist eigentlich in vielen Büchern nachzulesen.2 Schwierig bleibt aber offenbar die praktische Umsetzung. Entweder weisen praxisorientierte Anleitungen und Handreichungen einen schmalen oder gar keinen theoretischen Hintergrund auf. Oder es gibt Ansätze, die sich theoretisch differenziert über Verstehen und Verständlichkeit auslassen, aber nur sehr allgemeine Anregungen für den Praktiker der Verständlichkeit bieten. Mein Versuch soll die Grundlagenforschung zum Verstehen und die praktische Umsetzung in verständliche Texte miteinander verbinden.

1. Innerhalb einer Kommunikationstheorie ist die Adressatenorientierung von zentraler Bedeutung. Texte müssen so formuliert werden, dass sie bei den jeweiligen Adressaten keine unnötigen Ressourcen zum Verstehen beanspruchen. Diese Aufgabe des Absenders erfordert fundierte Annahmen über die Vorkenntnisse, die kognitiven Fähigkeiten und die Sprachkompetenz der Adressaten, aber auch über ihre Mentalität und Motivation.

2. Verständlich Schreiben ist ein Handwerk, das man lernen kann, z.B. in Schreibwerkstätten oder mit Trainingsmaterial. Das vorliegende Buch enthält Leitlinien für eine verständliche Sprache, aber damit sollen keine stilistischen Normen für Sachprosa propagiert werden. Die Sprache stellt viele Formulierungsvarianten zur Verfügung, um einen Gedanken auszudrücken, und jede hat ihren kommunikativen Sinn. Ohne die Vielfalt der Sprache zu beschneiden, soll dafür sensibilisiert werden, was man als Autor bzw. Autorin seinen Adressaten mit einer Formulierung geistig zumutet, man kann es den Lesenden – bewusst oder unbewusst – schwermachen. Die Language AwarenessLanguage Awareness, das Sprachbewusstsein, von Schreibenden soll geschärft werden.

3. Es gibt Randbedingungen für das Verstehen, die den Einsatz kognitiver Ressourcen beeinflussen. Dazu gehört der visuelle Auftritt der Sprache, altmodisch das Schriftbild. Die Typografie spielt eine nicht zu vernachlässigende Rolle beim Lesen und das Layout kann den Aufbau von kohärenten Wissensstrukturen unterstützen.

4. Das Eingreifen in Texte durch Umformulierung ist nicht immer möglich, so sind z.B. klassische Text tabu. Hier kann das Verstehen durch didaktische Zusätze als Erschließungshilfen gefördert werden. Derartige Erschließungshilfen sind Vorstrukturierungen, Leitfragen, Zusammenfassungen, Glossare usw. Sie sind aus gut aufbereiteten Lehrwerken heute nicht mehr wegzudenken. Wenn man an die Texte nicht herankommt, dann kann man mit solchen Hilfsmitteln die Lese- und Verstehenskompetenz der Lesenden verbessern.

Das Verständlichmachen ist eine kommunikative Aufgabe. Ziel ist die Ausbildung von Textexperten, die über das notwendige Hintergrundwissen und über Werkzeuge zur Evaluation und Gestaltung von Sachtexten verfügen. Mit diesem Anliegen stehe ich nicht allein. In den letzten Jahrzehnten sind Ansätze, die sich mit Verständlichkeit befassen, wie Pilze aus dem Boden geschossen: Informationsdesign (Horn, 2000), Textdesign (Weber, 2008), Instruktionsdesign oder didaktisches Design (Reinman, 2011), Wissenskommunikation (Antos, 2006), Fachkommunikationswissenschaft (Heidrich, 2017).

Sprachliche Kommunikation: Verstehen und Verständlichkeit

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