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4.1 Merkmale schriftlicher Kommunikation

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Schriftlichkeit hat sich lange nach der Mündlichkeit herausgebildet. Während sich die mündliche Sprache als „Sprache der kommunikativen Nähe“ charakterisieren lässt, ist die schriftliche Sprache eine „Sprache der kommunikativen Distanz“ (Koch & Oesterreicher, 2007). Sie bringt einige Merkmale mit sich, die sich massiv auf das Verstehen und die Verständlichkeit auswirken.

Soziale Isolation. Schreiben geschieht ohne ein Gegenüber, der Absender ist sich deshalb oft gar nicht bewusst, dass er an einer Kommunikation teilnimmt. Schreiben wird eher als Ausleeren eines Kopfes verstanden, als eine monologische Tätigkeit. Das verführt zu egozentrischem Formulieren, ohne Rücksicht auf die Adressaten und die Verständlichkeit zu nehmen. – Auch Lesen geschieht in sozialer Isolationsoziale Isolation und das hat eine bedeutende Konsequenz für die Verarbeitung: Der Adressat ist von der Anwesenheit und damit der Autorität des Absenders entlastet, das fördert eine vertiefende und kritische Verarbeitung. Texte können immer wieder neu interpretiert werden, Lesen ist mehr selbstgesteuert als Hören.

IndirektheitIndirektheit. In der schriftlichen Kommunikation sind Absender und Adressaten räumlich und zeitlich getrennt, die kommunikative SituationSituationkommunikative ist „zerdehnt“. Damit fehlt das gemeinsame WahrnehmungsumfeldWahrnehmungsumfeld und die Techniken der VerständnissicherungVerständnissicherung fallen aus. Dadurch ist eine fortlaufende KoordinationKoordination des Verstehens nicht möglich. Der Absender hat eine besondere Verantwortung, sich Gedanken über die Voraussetzungen seiner Adressaten zu machen und dementsprechend zu formulieren. – Auf Seiten der Lesenden sind direkte Rückfragen, Paraphrasieren usw. nicht möglich, dafür gibt es die Möglichkeit des wiederholten Lesens. Ein schriftlich produziertes Missverständnis lässt sich schwerer aus der Welt schaffen als eine unbedachte mündliche Äußerung, die sofort korrigiert werden kann. Auch die Bildung eines ImagesImage des Autors als Verstehenshilfe ist nur über den Text möglich. Absender und Adressat bleiben sich bis zu einem gewissen Grad fremd.

ReflexivitätReflexivität. Schreiben als Externalisierung von geistigen Inhalten geschieht meist reflektierter als freies Sprechen. Schreiben verfestigt flüchtige und assoziative Gedanken, bringt sie in eine lineare und hierarchische Ordnung, dafür wurde der Ausdruck epistemisches Schreiben geprägt (Molitor-Lübbert, 2003). Was schriftlich vorliegt, kann dem Autor immer wieder vorgehalten werden, er tut also gut daran, sich die Formulierungen sorgfältig zu überlegen. Schreiben kann als ein externalisiertes Denken verstanden werden. Diese Reflexivität bringt es mit sich, dass die Schriftsprache eine deutlich höhere syntaktische KomplexitätKomplexität aufweist als die Sprechsprache.

DauerhaftigkeitDauerhaftigkeit. Während die mündliche Rede flüchtig ist (es sei denn sie wird aufgezeichnet), sind Schrifttexte materiell fixiert. Sie objektivieren und konservieren Wissensbestände für spätere Generationen, während das Gehirn des Autors bzw. der Autorin bereits verwest ist und sich damit sein bzw. ihr Wissen aufgelöst hat. Texte sind kulturelle Fossilien. Diese Aussicht auf Dauerhaftigkeit zwingt Schreibende zu sorgfältigem Nachdenken, bevor ein Satz für die Nachwelt unkorrigierbar festgehalten wird. – Für die Lesenden hat ein vorliegender Text zwei Vorteile: 1. Der Text verändert sich nicht (Zeichenkonstanz), bleibt eine Passage dunkel, kann sie mehrfach gelesen und interpretiert werden. 2. Ein Lesender kann selektiv lesen und seine Aufnahme- und Verarbeitungsgeschwindigkeit selbst bestimmen.

MedialitätMedialität. Die Schrift ist an MedienMedien gebunden. Der Absender benötigt für die Produktion Schreibgeräte, vom Griffel bis zum Computer, und eine Schreibfläche, von der Tontafel bis zum Monitor. Die Frage, ob das Schreibwerkzeug die Produktion beeinflusst, wurde von Friedrich Nietzsche (2002, S. 18) mit einem oft zitierten Satz beantwortet: „Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken“. So wirken sich Computer und Textverarbeitung deutlich auf Schreibprozess und -ergebnis aus. Ob die mediale Darbietung eines Textes in einem Buch oder auf einem Monitor das Verstehen und die Verständlichkeit beeinflusst, ist eine Forschungsfrage der Medienlinguistik.

Strukturelle Explizitheit. Schriftliche Kommunikation ist durch den Ausfall der para- und nonverbalen Zeichen ärmer als die mündliche Kommunikation. Die ausgefallenen Kodes können teilweise durch typografische Mittel kompensiert werden. Statt Pausen gibt es Absätze (Zeilendurchschuss, Einrückung), statt Betonungen typografische Auszeichnungen (Unterstreichung, Fett, Kursiv). Da damit inhaltliche Strukturen explizit sichtbar gemacht werden, erleichtern sie die Aufnahme und Verarbeitung (Kap. 7.4).

Diese kommunikative SituationSituationkommunikative hat erhebliche Konsequenzen: Zugespitzt kann man sagen, dass Verständlichkeit erst in der schriftlichen Kommunikation zum Problem wird. Liegt Verständlichkeit in der mündlichen Kommunikation nicht allein in der Verantwortung des Sprechers, sondern auch des Adressaten, so verschiebt sich bei der schriftlichen Kommunikation die Verantwortung für Verständlichkeit deutlich auf den Schreibenden.

Da das Lesen von Texten als eine der wichtigsten Kulturtechniken gepriesen wird, ist es interessant auch einmal eine andere Meinung zu hören, die des Neuropsychologen Ernst Pöppel (2009): Lesen ist in den Genen nicht vorgesehen, aber es wird durch die Gene möglich. Es ist eigentlich ein „Missbrauch des Gehirns“, der auf Kosten anderer, z.B. visueller KompetenzenKompetenz geht. Zudem führen geschriebene Wörter zu einer Verdinglichung von Konzepten und locken uns in eine „Sprachfalle“, da wir glauben, es gäbe so etwas wie die Intelligenz oder den Willen (oder die Verständlichkeit!). Das erinnert an den berühmten Satz von Ludwig Wittgenstein: „Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache“ (Wittgenstein 1967, S. 66).

Schwer verständliche Texte gibt es auch schon in der mündlichen Rede, aber mit der Schriftlichkeit verschärft sich das Problem. Nicht immer sind Schreibende und Lesende kooperativ eingestellt und geben sich beim Formulieren und beim Lesen Mühe. Zudem ist SchwerverständlichkeitSchwerverständlichkeit oft ein unerwünschter Nebeneffekt, da im Berufsalltag von Textproduzenten wie etwa Journalisten oder technischen Redakteuren durch Zeitdruck oder andere Belastungen ein sorgfältiges Formulieren erschwert wird (Jakobs, 2006).

Ein besonderes Problem bilden die FachsprachenFachtext, Fachsprache, deren Ursprung in der Arbeitsteilung liegt (Fluck, 1996; Roelke, 2010; Adamzik, 2018): Bestimmte gesellschaftliche Gruppen wie ursprünglich Bauern, Fischer, Schmiede, Seefahrer usw. entwickeln in der mündlichen Kommunikation eine Sprache mit eigenen Wörtern und Redewendungen, die die Kommunikation in der Berufsgruppe vereinfacht. Soziologisch gesehen grenzt eine Fachsprache nach außen ab und schafft einen Binnenraum der Verständigung. Man versteht sich untereinander prächtig und genießt den Distinktionsgewinn, aber nach außen entsteht eine Kommunikationsbarriere. Dies gilt erst recht für die Entstehung einer Fachliteratur, die in eine berufliche Kommunikation hineinsozialisiert. Beispiele sind die Fachsprachen der Psychoanalyse oder der Banker. Zum gesellschaftlichen Problem werden Fachsprachen, wenn es um Wissen geht, das für alle Mitglieder einer Gesellschaft relevant ist, z.B. in der Medizin, Technik oder Politik. Es entsteht das Ärgernis schwer verständlicher Experten-Laien-Kommunikation.

Ein kooperativ eingestellter Autor muss sich Gedanken über seine Adressaten machen und sorgfältig formulieren, um ihnen keinen unnötigen Verarbeitungsaufwand aufzubürden. Der Adressat muss kognitive Ressourcen investieren, wenn er einen Text nicht automatisch versteht. ich beschreibe zuerst die kommunikativen Aufgaben des Absenders, dann diejenigen des Adressaten.

Sprachliche Kommunikation: Verstehen und Verständlichkeit

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