Читать книгу Torres del Paine - Stephan Hamacher - Страница 6

Howick Beach

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Das milde Meer spült Treibgut an den leeren Strand, eine gleichsam milde Brise weht über den Küstensaum. Ein junger Mann tollt mit einem schwarzgelockten Hund über den Sand, in der Ferne parkt ein himmelblauer Ford Anglia. Er läuft langsam von der Mellons Bay zur Moon Bay, vorbei an der biederen flachen Vorstadtidylle und versucht eine Orientierung.

Noch einmal: Das milde Meer spült Treibgut an den leeren Strand, eine gleichsam Brise weht über den Küstensaum. Ein junger Mann tollt mit einem schwarzgelockten Hund über den Sand. Er ist aber nicht der junge Mann, und er kennt weder den jungen Mann noch den Hund, der offensichtlich der Hund des jungen Mannes ist oder doch vielleicht nur ein Hund, den der junge Mann sich ausgeliehen hat, um mit dem Tier spazieren zu gehen. Er ist nur ein Beobachter, der einen jungen Mann und einen Hund betrachtet. Dieser nicht mehr ganz so junge Mann, der eben nicht der junge Mann ist und nicht mit dem ihm unbekannten schwarzgelockten Hund über den Sand tollt, wobei der Hund mehr als der junge Mann tollt, dieser Mann läuft langsam von der Mellons Bay zur Moon Bay, sofern man überhaupt langsam laufen kann, vorbei an der biederen flachen Vorstadtidylle und versucht eine Orientierung.

Alles ist auf den Kopf gestellt. Das ganze Land, das Meer ringsherum, die Bäume, das giftgrüne Gras, das nach unten wächst. Die Leute gehen kopfüber, vielmehr gehen sie nicht mit dem Kopf voran, sondern mit den Füßen, eben so, wie er es gewohnt ist. Er selbst geht jetzt kopfüber, nicht mit dem Kopf voran, sondern mit den Füßen, eben so, wie er es gewohnt ist. Alles ist also so wie sonst und doch ganz anders. Denn das hier ist die andere Seite der Erde, und wenn die Erde eine mehr oder minder leicht deformierte Kugel ist, dann müssen die Leute hier, dann muss auch er hier kopfüber einherschreiten, schlendern, spazieren, tollen, mit Hunden, deren kurze Beine ebenfalls kopfüber durch den Sand stapfen. Das Blut müsste einem in den Kopf schießen, aber das tut es seltsamerweise nicht. Denn es könnte ja auch andersherum sein, ebenso nämlich, wie die Leute hier behaupten, dass in Wahrheit die Menschen auf der anderen Seite dieser mehr oder minder leicht deformierten Kugel mit dem Kopf nach unten hängen und gehen und in den Abgrund schauen. Denn wer will schon mit Gewissheit sagen, wo oben und wo unten ist, wenn jedermann gleichermaßen das Gleichgewicht zu halten vermag, hier und dort, hüben und drüben, auf der anderen Seite der mehr oder minder leicht deformierten Kugel.

Was den Mann, der hier am Strand zwischen Mellons Bay und Moon Bay spazieren geht, dabei einen jungen Mann beobachtend, der mit einem schwarzgelockten Hund über den Sand tollt, dazu den Hund selbst und einen in der Ferne geparkten himmelblauen Ford Anglia wahrnehmend, was diesen Mann also zusätzlich verwirrt, sind viele Dinge, die zumindest auf den ersten Blick nicht in sein festgefügtes Bild passen wollen. Da ist zum einen die Tatsache, dass die Sonne über Howick zwar wie gewohnt morgens im Osten aufgeht und sich abends im Westen gen Horizont senkt, um schließlich gänzlich dahinter zu verschwinden und die dunkle Tageszeit anzukündigen, dass sie sich mittags jedoch im Norden blicken lässt und nicht gemäß durch in irgendeinem Gesetz festgeschriebener Umlaufbahn im Süden seiner und aller hier anwesenden Menschen Blicke. Zum zweiten hat diese Metropole, zu dem diese biedere flachen Vorstadtidylle gehört, gleich zwei Küsten, die einander auch noch zum Verwechseln ähnlich sehen, eine im Westen, eine im Osten. Im Westen, dort wo die Sonne wie durch eine glückliche Fügung immer noch untergeht, liegt der Manukau Harbour, eine Bucht, die sich zur Tasmansee hin öffnet. Hier im Osten, wo gottlob immer noch die Sonne den Tag begrüßt, schimmert der Hauraki-Golf als Teil des großen Ganzen, des Pazifischen Ozeans. Von hier bis Honolulu ist nur Wasser, und von dort bis Bondi Beach ist nur Wasser. Zum anderen verwirrt ihn nun mit der heraufziehenden Nacht das Sternenbild, das sich deutlich von dem vertrauten Bild abhebt, welches er von zuhause aus kennen und schätzen gelernt hat. Und zu Hause, das liegt von hier aus betrachtet auf der anderen Seite der mehr oder minder leicht deformierten Kugel. Im Zentrum dieses Sternenhimmels, inmitten der Milchstraße, leuchtet blass eine Vierergruppe galaktischer Daseinsformen, das Kreuz des Südens, das auch die Flagge dieses Insellandes ziert. Eigenartig: Zur Zeit der alten Griechen war das Kreuz noch über dem Mittelmeer erkennbar gewesen, doch die eiernde Drift der Erde hatte die schimmernde Raute von der nördlichen Hemisphäre verbannt. Und die alten Griechen waren längst Geschichte.

Und dann gibt es noch ein paar irritierende Dinge, die den Mann, der nicht der junge Mann mit dem Hund am Strand ist, nach Orientierung suchen lassen. Dieser himmelblaue fahrerlose Ford Anglia parkt auf der linken, ihm zugewandten Strandseite. Alle Autos hier fahren oder vielmehr werden gefahren, wenn sie denn nicht geparkt werden, auf der linken Straßenseite, unterbrochen nur durch die kurzen Phasen des Überholvorgangs, was natürlich nicht auf die geparkt wordenden Fahrzeuge zutrifft. Diese Tatsache, dazu die seltsame Sonnenwanderung, der falsche Sternenhimmel und die Erkenntnis, dass in diesen Breiten Farne hünenhafte Bäume sind, Vulkane harmlos erloschen und das Wappentier einen seltenen nachtaktiven flugunfähigen Vogel darstellt, lassen im Kopf des Mannes, der nicht der junge Mann mit dem Hund am Strand ist, eine gewisse Konfusion zu Tage treten, auch wenn es bald dämmern und dann die Nacht hereinbrechen wird, nach vierzehneinhalb Sonnenstunden, vor Sonnenuntergang eine Viertelstunde vor einundzwanzig Uhr Ortszeit. Und ja, das hier schmeckt, duftet, fühlt sich an wie Sommer, wie Sommer im Winter, denn auf der anderen Seite der Welt, also dort, wo der Mann, der nicht der junge Mann mit dem Hund am Strand ist, daheim ist, auf der oberen Hälfte der mehr oder minder leicht deformierten Kugel, sofern man mit Fug und mit Recht überhaupt von einer oberen Hälfte sprechen kann, schließlich ist das eine Sache des Standpunkts und der Blickrichtung, dort also ist jetzt Winter, die kalte Jahreszeit mit Schnee und Eis, Sturm und kaltem Regen. Hier, auf dieser Seite der Welt, also dort, wo der Mann, der nicht der junge Mann mit dem Hund am Strand und nicht daheim ist, auf der unteren Hälfte der mehr oder minder leicht deformierten Kugel, hier ist jetzt Sommer mit wohlig warmen Temperaturen und einer Tageshitze, die sowohl eine milde Brise als auch ein kühles Bier als Bereicherungen des gegenwärtigen täglichen Lebens wahrnehmbar werden lassen. Und wo oben Frühling ist, ist unten Herbst und umgekehrt. Die Welt ist ein Spiegel.

Auf dem Weg hierher von Honolulu kommend hat er einen ganzen Tag verloren. Es war kurz vor Weihnachten, ein Weihnachten ohne Heiligen Abend, er hatte im Flugzeug sitzend die Datumsgrenze überquert, ein Akt, der körperlich nicht spürbar und geistig kaum wahrzunehmen war, zumindest dann nicht, wenn man, wie er auf dem Nachtflug, ganz einfach die Zeit verschlafen hatte. Aber er weiß, wenn er jetzt zurück flöge, zurück nach Honolulu oder Los Angeles oder New York oder London oder Berlin, er würde einen ganzen Tag gewinnen, er würde einen Tag zurückgewinnen, den er vorher verloren hatte, aber nicht den gleichen Tag, schon gar nicht denselben Tag. Er würde also streng genommen keinen Tag zurückgewinnen, sondern einen Tag dazugewinnen, er würde einen Tag zweimal erleben, er könnte zweimal Neujahr feiern. Der Januar hätte so zweiunddreißig Tage, während sein Dezember nur einunddreißig Tage hatte, er hätte ein kurzes altes Jahr hinter sich und ein langes neues vor sich. Das alles trifft allerdings nur dann zu, wenn er sich für die Ostroute entscheiden würde, also für die Richtung, aus der er gekommen war, einmal quer über den Pazifik mit Zwischenlandung mitten in der Nacht auf der Piste von Nadi bei strömendem Regen, den er allerdings nicht spürte, da er in der Transithalle des Flughafens festsaß.

Würde er hingegen die Westroute wählen, also über Singapur und Frankfurt am Main und New York und Los Angeles zurück in die alte Welt fliegen oder vielmehr geflogen werden, ja dann sähe das alles wieder ganz anders aus. Die Welt ist ein Spiegel, und ein Spiegel war und ist und wird immer sein auch ein Zerrbild, denn links ist rechts und umgekehrt, so wie jetzt oben unten ist und Winter Sommer, und die Zeit ist linear, und seltsamerweise lässt sich die Zeit auch dann noch zurückdrehen, wenn sie gleichzeitig fort schreitet.

Es wird dunkel, und der junge Mann mit dem tollenden Hund und der vormals himmelblaue, jetzt sicherlich dunkle Ford Anglia sind verschwunden. Er braucht jetzt Zeit, um das alles zu verdauen. Zeit und Ruhe. In drei Stunden wird das Feuerwerk über dem Manukau Harbour zünden, die Böller werden mit einigem Getöse am nachtschwarzen Himmel explodieren und die Ruhe, nach der er sich jetzt so sehr sehnt, für einige Zeit vertreiben. Wenigstens das hat sich nicht geändert.

Torres del Paine

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